Klimawandel in Indien: Land unter
Im indischen Ganges-Delta wütet die Klimakatastrophe. Der Meeresspiegel steigt, Zyklone nehmen zu. Aber die Menschen wollen bleiben – und werden aktiv.
M ehrmals täglich läuft Mohan Das an den spärlichen Ruinen vorbei, die von seinem Zuhause übrig geblieben sind. Die großen grauen Blöcke, die aus dem hellen Sand der Insel Sagar im Golf von Bengalen herausragen, gehörten bis vor wenigen Monaten zum Fundament seines bescheidenen Hauses. Dann wurden die Küsten Ostindiens wieder einmal von einem Zyklon heimgesucht – dem Wirbelsturm „Yaas“. „Nach ‚Yaas‘ haben wir unsere Häuser auf Sagar verloren“, sagt Fischer Mohan Das, der Badeshorts und ein Karohemd trägt.
Der Zyklon traf die Küste Ende Mai mit Windgeschwindigkeiten von teils über 140 Kilometern pro Stunde. Hohe Wellen schwappten über das Land, knapp zwei Millionen Menschen mussten in Notunterkünfte gebracht werden, Deiche brachen und Tausende Dörfer wurden überflutet. Mehrere Menschen starben. Wenn Das von seinem Haus erzählt, bekommt man ein Bild davon, wie schwer die Verwüstungen waren. 59 weitere sollen hier einmal gestanden haben. Jetzt sind im Hintergrund nur noch Bäume ohne Äste zu sehen. In Richtung Meer stand einmal ein Ashram. Davon sind nur ein paar Steine geblieben, Teile eines Rohrbrunnens. Es mutet an wie eine archäologische Ausgrabungsstätte mit Relikten einer versunkenen Ära.
Mohan Das ist trotz der Zerstörung geblieben, denn er lebt vom Fischfang. Es ist sieben Uhr morgens und auf seinem Karren liegt bereits der Fang des Tages: viele kleine silbergraue und bunte Fische, dazwischen leuchten in Orange ein paar Garnelen. Beim Verkauf hilft ihm die Witwe Rahima Bibi, die die Ausbeute begutachtet. Salzwasser ist in die Reisfelder und Süßwasserteiche in der Umgebung eingedrungen. „Unsere wichtigste Tätigkeit ist der Fischfang. Aber es gibt keine großen Fische mehr“, sagt Das.
Der Fischer hatte sein Haus wohl zu nah am Meer gebaut, aber auch der bekannte Kapil-Muni-Tempel einige hundert Meter weiter im Inland wurde von „Yaas“ geflutet. „Die Regierung hat die Tempelanlage instandgesetzt“, berichtet Mohan Das. „Wir haben eine Entschädigung bekommen, aber wir wissen nicht, wohin wir in den nächsten Jahren gehen sollen“, sagt er. Insgesamt hat er etwa 800 Euro bekommen, wovon er sich eine provisorische Unterkunft bauen konnte.
Gefördert durch das European Journalism Centre (EJC) mit Unterstützung der Bill & Melinda Gates Foundation folgt die taz ein Jahr lang dem Wasser. Fünf taz-Korrespondentinnen recherchieren in Lateinamerika, Westasien, Südasien und in Afrika entlang des Nils. Denn vor allem im Globalen Süden gibt es zu wenig oder kein sauberes Wasser. Besonders Frauen müssen jeden Liter über weite Strecken nach Hause tragen. Der Zugang zu Wasser wird mit der Klimakrise verschärft. Immer öfter wird Wasser privatisiert oder steht im Konflikt mit Großprojekten, die Fortschritt bringen sollen. Mehr unter taz.de/wasser
Die Insel Sagar gehört zum indischen Bundesstaat Westbengalen, sie ist ein Festlandsockel in Form einer Träne im Ganges-Delta etwa 100 Kilometer von der Metropole und Bundeshauptstadt Kalkutta entfernt. Die Insel gehört zum weitläufigen Gebiet der Sundarbans – einem ausgedehnten Magrovenwald- und Salzwassersumpfgebiet von rund 10.000 Quadratkilometern, durch das die Grenze zwischen Indien und Bangladesch verläuft.
Auf Sagar gibt es weder große Raubkatzen noch viele Mangroven, von denen die Sundarbans eigentlich ihren Namen haben. Dafür ist die Insel mit über 200.000 Einwohner:innen dicht besiedelt.
Das Ende des Ganges – das steigende Meer
Die hinduistische Pilgerinsel hat viel Charme. Sie ist grün, Palmen gedeihen, ein Sandstrand lockt. Außerhalb der Zeit der religiösen Zusammenkunft Mitte Januar ist es ruhig. Statt Party-Hotels gibt es Ashrams, religiöse Herbergen für Reisende. Viele Hausküchen bieten Fischcurry und berüchtigt-gute Süßspeisen an. Zwischen der lokalen Fischerbevölkerung schlendern morgens Hindu-Mönche und -Nonnen auf den Straßen Richtung Meer, um in das heilige Wasser einzutauchen und danach den Tempel aufzusuchen. Der Wind kühlt die Haut in der feuchten Hitze.
Hier endet der Ganges – vielleicht ist es gerade deshalb ein heiliger Ort. Der Seitenarm Hugli fließt über Kalkutta Richtung Meer, die kleine Insel liegt dazwischen. Und dann gibt es noch den Tempel zu Ehren von Kapil Muni, der eine wichtige Rolle in der Hindu-Erzählung über den Abstieg der Göttin Ganga auf die Erde spielt. Doch dieser magische Ort verschwindet.
Die über hundert Inseln des indischen Sundarbans-Deltas sind die Heimat von 4,6 Millionen Menschen. Sie gehören zu den ökologisch sensibelsten Regionen der Welt. Und sie sind bedroht: Der Meeresspiegel in den Sundarbans ist in den vergangenen 25 Jahren doppelt so schnell angestiegen wie im weltweiten Durchschnitt.
Im Büro des Distriktbeauftragten Sudipta Mandal hängt eine Karte der Insel Sagar, eingezeichnet sind ebenfalls Regionen, die knapp unter dem Meeresspiegel liegen. Bis 2050 könnte vieles hier im Wasser verschwunden sein, folgt man Prognosen wie der des US-Instituts Climate Central. Auch die indischen Megastädte Mumbai und Kalkutta liegen im Risikogebiet.
Laut der Naturkatastrophen-Datenbank EM-DAT wurde Indien in den vergangenen 30 Jahren von 300 extremen Wetterereignissen heimgesucht, ein Großteil davon nach 2005. In den vergangenen 23 Jahren erlebten die Sundarbans 13 Wirbelstürme. Vor allem in den Monaten April und Mai sowie Oktober und November fegen heftige Stürme über das Land. 2009 wurden durch den Zyklon „Aila“ eine Million Menschen in Indien und Bangladesch vertrieben.
Arunabha Ghosh, Gründer des Rates für Energie, Umwelt und Wasser (CEEW), warnt: „Wenn man sich die Art der Stürme ansieht, mit denen wir es jetzt zu tun haben, nimmt die Intensität zu.“ Ghosh arbeitet an einem Naturkatastrophenatlas für Indien, der demnächst erscheint.
Radhika Bhargava, Umweltwissenschaftlerin
Die Umweltwissenschaftlerin Radhika Bhargava, die über die Sundarbans forscht, sieht ein weiteres Problem im Farakka-Damm einige hundert Kilometer flussaufwärts, kurz bevor der Ganges die Grenze von Indien nach Bangladesch überquert. Durch den verringerten Wasserfluss lagern sich weniger Flusssedimente in den Sundarbans ab, die sie sonst natürlich wachsen lassen. Darüber hinaus hat der geringere Wasserfluss Auswirkungen auf Flora und Fauna, sagt Bhargava.
Familie Midya bleibt
Seit ein Teil der Sundarbans 1987 zum Unesco-Weltnaturerbe erklärt wurde, sei die Abholzung immerhin zurückgegangen, da es sich nun um ein geschütztes Gebiet handelt. „Auf der Insel Sagar gibt es aber kaum noch Mangroven, da die meisten von ihnen bereits vom Meer erfasst wurden und auch die Insel erodiert.“ Landwirtschaftliche Gebiete in den Sundarbans werden zu Brackwassersümpfen. Menschen sind auf salzwasserresistente Sorten angewiesen – andere fangen an, Garnelen zu züchten, die im Salzwasser leben und das Problem nur vergrößern.
Familie Midya lebt in einem Ziegelhaus ohne Putz in Patharpratima, 50 km von Sagar entfernt. Neben ihrem Haus – besser gesagt dem, was davon übrig ist – haben sie einen Limonenbaum mit duftenden prallen Früchten, wie sie auf dem Markt selten zu finden sind. Enten laufen herum.
Am Ende eines Flusses vermischt sich sein Süßwasser dem Meer – und wird versalzen. Deswegen trinkt die Bevölkerung der Region hauptsächlich Grundwasser. Das ist aber mit Mineralien wie Arsen und Fluorid versetzt, was zu Infektionen führen kann. Die Sundarbans sind ein natürlicher Puffer: Die Mangrovenwurzeln fangen all dieser Mineralien in ihrem eigenen Gebiet ein. Wenn also das Wasser in diese Gebiete kommt, ist es sauberer und enthält keine Salzlake.
Die 37-jährige Shibani Midya deutet auf eine Stelle am Gemäuer, etwa auf Kniehöhe: „So hoch stand das Wasser“, sagt sie. „Doch wir können nicht daran denken, diesen Ort zu verlassen. Unsere Familien und Freunde leben hier.“ Deshalb hat sie sich wie andere Frauen und Männer einer lokalen Initiative angeschlossen, die nach „Yaas“ beim großen Aufräumen half. Denn sie will versuchen zu bleiben, solange es möglich ist.
Nach Wirbelstürmen ist vor allem Wasser ein großes Problem: Das salzige Nass, das in Häuser drängt und süße Teiche bitter macht; die Trinkwasserversorgung, die verunreinigt wird. Gegen Letzteres helfen kleine Päckchen mit der Aufschrift „Amritadhara“, in denen sich unter anderem Chlor und Alaun (bitteres Tonerdesalz) zur Trinkwasseraufbereitung befinden. Mit ein bisschen Aufwand und vier bis fünf Stunden Wartezeit kann man damit Arsen, Fluorid, Eisen sowie Bakterien wirksam aus dem Wasser entfernen und zudem den Salzgehalt reduzieren.
Mishras Lösung
Der Gesundheitsbeauftragte Amalda Samanta, 36, organisierte die Verteilung der kleinen, aber wichtigen Päckchen: Wasserreiniger, zusammengestellt nach WHO-Rezeptur. Eigentlich verteilt die Regierung nach Katastrophen Tropfen oder Pulver zur Wasserreinigung, doch das System war überfordert mit der Wucht von „Yaas“. So wurden über Spenden von Studierenden und Förderern zusätzliche Wasserreiniger gekauft.
Amalda Samanta ist besorgt über die Entwicklungen der vergangenen Jahre. Dass es wirtschaftliche Probleme gibt, macht er auch daran fest, dass die Zahl der Kinderehen steigt und Fälle von Unterernährung von jungen Müttern und ihren Kindern zunehmen, sagt er. Entmutigen lässt er sich von der Situation aber nicht. Im Gegenteil.
Samanta schloss sich wie Shibani Midya den „Patharpratima Runners“ als Freiwilliger an. Gegründet wurde diese Nichtregierungsorganisation vom 28-jährigen Nilanjan Mishra aus dem größeren Nachbardorf Madhabnagar. Er möchte Leute mobilisieren, um im Umgang mit den Folgen des Klimawandels zu helfen, wenn man diese schon nicht aufhalten kann. Mishra und seine Mitstreiter:innen brachten die Päckchen mit Wasserreiniger zu den Menschen. Es ist eine kostengünstige Lösung, sagt er.
Das nächste Problem nach dem Zyklon lautet: Felder und Infrastruktur sind verwüstet. Die Wege zu den Häusern, die die Dörfer verbinden, sind noch heute holprig. Ziegelsteine liegen am Wegrand und warten darauf, verbaut zu werden.
Empfohlener externer Inhalt
„Auf Zyklon ‚Yaas‘ folgten zwei große Fluten. Das Salzwasser überdeckte mindestens einen Monat lang die Reisfelder“, erklärt Mishra. Das erkläre den maroden Zustand der Wege und die vergilbten Reispflanzen. Schnelles Handeln war Ende Mai gefragt.
Innerhalb von 23 Tagen baute Mishras Organisation fünf medizinische Camps für die von Fluten betroffenen Dörfer auf. Nach der Flut durch „Yaas“ kamen dann Überschwemmungen durch heftige Monsun-Regenfälle dazu. „Wir haben festgestellt, dass wir mehr Schutzunterkünfte für die Bewohner:innen und Tiere brauchen“, sagt Mishra. Viele Nutztiere kamen um, ihre Kadaver mussten aus den Wasserbecken gezogen werden.
„Yaas“ wird keine Ausnahme bleiben, davon geht Mishra fest aus. Sein nächstes Vorhaben ist es, Wasserproben aus den Grundwasserbrunnen in Kalkutta prüfen zu lassen. So möchte er feststellen, ob Wasseraufbereiter dauerhaft zum Einsatz kommen sollten. Er vermutet, dass das Wasser voller Bakterien ist, denn Magen-Darm-Probleme in dem Gebiet nahmen in der Vergangenheit zu.
Wettlauf gegen das Meer
Mishra, der kürzlich sein Studium in Kalkutta abgeschlossen hat, zieht es erst mal nicht in die Großstadt. Er verbrachte den Corona-Lockdown in seiner Heimat und machte sich viele Gedanken. „Teile der Probleme, die wir hier haben, sind von Menschen gemacht“, sagt er. Wie auf der Insel Sagar gibt es hier in Patharpratima kaum mehr Mangroven, bemängelt er. Dabei würden sie dabei helfen, Überschwemmungen zu verhindern und die Geschwindigkeit des Windes zu reduzieren. „In den letzten 100 Jahren hat die Insel Sagar mindestens vier Kilometer Land verloren“, sagt Nilanjan Mishra mit trauriger Stimme.
Den Fischern auf Sagar bleibt nicht viel Zeit, um in sich zu gehen. Sie haben sich neue Behausungen am Meer gebaut, diesmal aber temporäre. In der Tempelanlage und im Büro des Verwalters Sudipta Mandal laufen derweil die Vorbereitungen für die religiöse Zusammenkunft Ganga Sagar Mela, wenn Pilger:innen kommen, im Meer baden und im Kapil-Muni-Tempel beten. Das soll Geld in die Region bringen.
Mitte Januar sollen so wieder Tausende auf der Insel begrüßt werden. Die Wasserprobleme scheinen erst mal fern. Sogar ein Impfschiff liegt am Hafen und wird gut besucht. In Hula-Hoop-Reifen stellen sich die Insulaner:innen an, bis sie an der Reihe sind. Jetzt bräuchte es nur noch ein Heilmittel gegen Zyklone, Erosion und den steigenden Meeresspiegel.
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