Klimakläger über Prozess in Frankreich: „Wir beginnen ein neues Kapitel in der Klimadebatte“
In Frankreich verklagen Opfer von Klimafolgen die Regierung. Jérémie Suissa von der Umweltorganisation Notre Affaire à Tous über die Bedeutung dieses Prozesses.
In Frankreich klagt ein Bündnis aus Nicht-Regierungsorganisationen und Bürger*innen gegen den Klimaanpassungsplan der Regierung. Neben Greenpeace und Oxfam wird das Bündnis auch von der französischen Umweltorganisation Notre Affaire à Tous angeführt. Die ist auf Klimaklagen spezialisiert und hat seit 2015 zahlreiche Prozesse gegen die französische Regierung geführt und gewonnen. Jérémie Suissa, Geschäftsführer von Notre Affaire à Tous, schaut optimistisch auf den neuen Prozess und sieht darin eine bedeutsame Entwicklung in der Klimadebatte.
taz: Ihre Organisation hat schon einige Klimaprozesse gegen die französische Regierung bestritten. Was ist besonders an dieser neuen Klage?
Jérémie Suissa: Bei den Verfahren in der Vergangenheit ging es bisher immer darum, die Regierungen zu zwingen, entschiedener gegen den Klimawandel vorzugehen – ihn also einzudämmen. In dieser neuen Klage geht es nun darum, wie wir uns an die Auswirkungen des Klimawandels anpassen und uns vor ihnen schützen können. Es ist der erste Prozess dieser Art in Europa. Ich glaube, dass wir damit ein neues Kapitel der Klimadebatte beginnen und eine neue Entwicklung anstoßen könnten.
Jérémie Suissa ist seit Januar 2022 Geschäftsführer der französischen Umweltorganisation Notre Affaire à Tous. In dieser Funktion setzt er sich für die juristische Bekämpfung der Klima- und Biodiversitätskrise ein. Zuvor war er Kabinettsleiter im Pariser Rathaus.
taz: Was macht die Regierung Ihrer Ansicht nach falsch?
Suissa: Auf dem französischen Festland und in den Überseegebieten bekommen wir immer stärker die Folgen des Klimawandels zu spüren. Das reicht von Hitzewellen über Überschwemmungen zu Ernteausfällen. Etwa 10 Millionen Haushalte sind von der Gefahr betroffen, dass durch die stärkere Witterung große Risse im Mauerwerk entstehen. Die Folgen des Klimawandels treffen dabei besonders die Arbeiterklasse sowie Menschen mit körperlichen Einschränkungen.
Die französische Regierung hat im vergangenen Monat einen Plan vorgestellt, wie sie die Bevölkerung vor diesen Folgen schützen möchte. Darin erkennt sie zwar grundsätzlich an, welche Bereiche angegangen werden müssen, es fehlt aber gleichzeitig der politische Wille, einen effektiven Schutz umzusetzen.
taz: Inwiefern?
Suissa: Man kann das gut an den Finanzierungslücken erkennen. Es fehlen fast überall Mittel, um die Vorhaben zum Schutz betroffenerer Gruppen umzusetzen. Von den 310 Maßnahmen, die der Plan angehen will, ist nur für 48 geklärt, wie diese finanziert werden sollen – etwa dafür, wie die Bodenverdichtung in den Städten reduziert werden kann. Das ist keine seriöse Politik, so kann man keine Probleme lösen.
taz: Welche Folgen hätte es, wenn sie die Klage gewinnen?
Suissa: Zunächst einmal hat die Regierung nun zwei Monate Zeit, um auf unsere Kritik zu reagieren und ihren Plan anzupassen. Wenn man die Regierung verklagt, dann gibt es immer einen Zeitraum, in dem sie noch auf die Forderungen eingehen kann.
Tut sie das nicht, beginnt danach der Prozess vor dem höchsten französischen Gericht, dem Conseil d'État. Dort wird anschließend vermutlich für etwa zwei Jahre verhandelt. Wir sind optimistisch, dass wir mit unserer Klage gute Chancen haben zu gewinnen. Wir haben dem Gericht 160 Seiten guter Argumente vorgelegt.
Die Richter*innen sind sich der Dringlichkeit des Klimawandels bewusst. 2021 konnten wir schon wichtige Prozesse gegen den französischen Staat gewinnen. Damals hat das Gericht dessen mangelhafte Bemühungen in der Reduzierung von Treibhausgasen als rechtswidrig beurteilt.
Sollten wir dieses Mal auch gewinnen, ist die wahrscheinlichste Konsequenz, dass das Gericht die Regierung auffordern wird, den Anpassungsplan zu überarbeiten. Diese muss dann auf unsere Kritik eingehen und einen ambitionierteren Plan verabschieden. Das ist unser Ziel.
taz: Auf welche Gesetze stützen Sie sich in dem neuen Prozess?
Suissa: Zum einen benutzen wir die nationale Rechtslage. Es gibt in Frankreich die sogenannte charte de l'environnement (Umweltcharta). Diese hat verfassungsähnlichen Status und sichert allen Bürger*innen das Recht zu, in einer intakten Umwelt zu leben, sowie die Verantwortung, diese zu schützen.
Zum anderen benutzen wir aber auch internationale Rechtsprechung in diesem Fall. Das sogenannte europäische Klimagesetz etwa verpflichtet die Mitgliedstaaten, nationale Anpassungspläne zu entwickeln und umzusetzen.
Vor allem aber beziehen wir uns auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom vergangenen Jahr. Dieser hatte einer Gruppe Schweizer Senior*innen Recht gegeben, die ihre Regierung verklagt hatten, weil diese nicht genug gegen den Klimawandel tue. In der Klage ging es um die Reduzierung des Klimawandels. Wir hoffen dieses Urteil nun als Präzedenzfall nutzen und auf die Anpassung an den Klimawandel übertragen zu können.
taz: Könnten solche Klagen dann auch in anderen europäischen Ländern stattfinden?
Suissa: Ja, das glaube ich schon. Auf der Grundlage des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte könnten auch die Regierungen vieler anderer Länder verklagt werden. Ich glaube, dass wir in Europa noch viele Prozesse dieser Art sehen werden. Darin könnte ein wirksames Mittel liegen, um die Bevölkerung vor den Folgen des Klimawandels zu schützen. Auch wenn das effektivste Mittel nach wie vor die Reduktion von Emissionen bleibt.
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