Klimagerechter Stadtumbau: Scheiße fürs Klima
Bottrop hat den CO2-Ausstoß für einen Großteil des Stadtgebietes innerhalb von elf Jahren halbiert. Was können andere Städte davon lernen?
D as ambitionierteste Klimaschutzprojekt der Stadt Bottrop stinkt zum Himmel. „Wenn Sie hier reingehen, riechen Ihre Klamotten den ganzen Tag“, warnt Lars Günther. Die riesige verglaste Halle ist der ganze Stolz des Bottroper Kläranlagen-Chefs. Fürs ungeübte Auge sieht die Konstruktion wie ein Gewächshaus aus – mit dem Unterschied, dass hier keine Pflanzen lagern, sondern Klärschlamm. Eine krümelige Schicht, die eher an Schotter als an Fäkalien erinnert, wird von einem Roboterfahrzeug umgepflügt. An der Decke hängen Ventilatoren, es riecht, nun ja, ein wenig streng.
Das Besondere an diesem „Gewächshaus“: Es benötigt kaum Energie. Wurde früher Kohle beigemischt, um den Klärschlamm besser verbrennen zu können, trocknet er nun durch die Kraft der Sonne. Eine simple Idee, doch allein diese „solare Klärschlammtrocknung“ hat die CO2-Emissionen im Bottroper Testgebiet um fast 18 Prozent reduziert. „Eine Kläranlage ist in den Kommunen oft der größte Energieverbraucher“, weiß Betriebsleiter Günther. Seine Anlage reinigt die Abwässer von 1,3 Millionen Menschen im Ruhrgebiet. Statt Unmengen an Energie zu verbrauchen, wie Kläranlagen in anderen Städten, erzeugt sie an den meisten Tagen mehr Strom, als sie selbst benötigt. „Vom Klärwerk zum Kraftwerk“, lautet der Slogan.
Seit fast 15 Jahren tüfteln die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter daran, die gigantische Anlage sparsamer zu machen. Heute gibt es auf dem Gelände ein eigenes Blockheizkraftwerk, eine Dampfturbine, diverse Photovoltaikmodule und sogar ein Windrad. „Viele interessieren sich für das, was wir hier tun“, sagt Günther, es gebe Anfragen aus anderen deutschen Städten. Und: „Neulich hat sich sogar ein Scheich aus Saudi-Arabien gemeldet.“ Mit dem Atomausstieg und dem Ukrainekrieg „hat die Stromthematik noch einmal eine ganz andere Brisanz bekommen“, sagt Günther.
Dabei ist die Kläranlage nur ein Beispiel von vielen. Die Stadt Bottrop hat es geschafft, ihre CO2-Emissionen innerhalb von zehn Jahren um knapp die Hälfte zu reduzieren – zumindest in dem Testgebiet, in dem rund 70.000 der 118.000 Einwohner von Bottrop leben. Ein beachtlicher Erfolg. Selbst die frühere Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) zeigte sich beeindruckt: „Wären wir doch alle so weit im Klimaschutz wie Bottrop!“
Klimaschutz-Vorreiter Bottrop – kann das sein? Die Stadt im Herzen des Ruhrgebiets steht wie kaum eine andere für das fossile Energie-Zeitalter. Die Zeche Prosper-Haniel, das letzte deutsche Steinkohlebergwerk, wurde erst 2018 geschlossen. Der Abbau war schon lange unrentabel geworden. Bei einem Festakt übergaben acht Bergleute das letzte geförderte Steinkohlestück an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Umweltverbände waren erleichtert. Steinmeier sprach von einem „Tag der Trauer“.
Doch nicht nur was die Energieerzeugung angeht, erscheint Bottrop als überraschender Kandidat für eine ökologische Revolution. Die Ruhrpott-Metropole ächzt unter dem Strukturwandel, die Arbeitslosenquote liegt bei 7,9 Prozent. Noch dazu ist die Kommune nahezu pleite. „Für die Würde unserer Städte“ heißt ein Bündnis, dem sich Bottrop angeschlossen hat. Das Ziel: ein Schuldenschnitt für klamme Kommunen. „Über Pflichtaufgaben hinaus geht nichts“, fasst die Westdeutsche Allgemeine Zeitung die finanzielle Lage zusammen. Um eine Ahnung davon zu bekommen, was das heißt, muss man nicht einmal in die Bilanzen schauen. Ein Spaziergang durch die Innenstadt genügt: Viele Geschäfte stehen leer, darunter das ehemalige Karstadt-Gebäude. Die verbliebenen Händler geben sich Mühe, ihre Läden hübsch zu machen; die Angst vor dem Niedergang ist groß.
Wie ist es einer Großstadt unter solchen Vorzeichen gelungen, Klimaschutz voranzutreiben? Hat die Ruhrpott-Metropole bei ihren Berechnungen etwa in die Trickkiste gegriffen? Oder taugt sie wirklich als bundesweites Vorbild? Und wenn ja, was können andere Städte von Bottrop lernen?
Ein Besuch im Rathaus. Oberbürgermeister Bernd Tischler grüßt mit einem kräftigen Händedruck. Eine Krawatte trägt der SPD-Mann nicht, der oberste Knopf seines Hemdes ist geöffnet. Tischler wirft eine Powerpoint-Präsentation an die Wand. Gleich am Anfang sind überflutete Straßen zu sehen und Feuerwehrleute, die halbvertrocknete Bäume gießen – Fotos aus Bottrop. „Auch wir sind als Region voll vom Klimawandel betroffen“, sagt Tischler. „Die Frage ist: Wie gehen wir damit um?“ Tischler erzählt vom Projekt „Innovation City“, das im Jahr 2010 von einem regionalen Wirtschaftsbündnis ins Leben gerufen wurde. Das Ziel: Bottrop zu einer energetischen Musterstadt umbauen. Dank diverser Landes- und Bundeszuschüsse musste die Gemeinde am Ende „nur“ 57 Millionen Euro von insgesamt 222 Millionen Euro selbst beisteuern. Zudem habe jeder von staatlicher Seite investierte Euro weitere 7,80 Euro an privaten Investitionen nach sich gezogen. „Das war wie ein kleines Konjunkturpaket“, freut sich der Oberbürgermeister.
Dennoch ist er überzeugt, dass ein solcher Stadtumbau nicht nur am Geld hängt. Sein Erfolgsgeheimnis: mit allen reden. Immer und immer wieder. „Wir haben ganz viele Bürgerveranstaltungen gemacht“, sagt Tischler. „Und ich habe mich persönlich alle 14 Tage mit den wichtigen Akteuren an einen Tisch gesetzt. Das bringt mehr Drive, als wenn sich Ämter gegenseitig Briefe hin- und herschicken.“
Das Geld floss in mehr als 240 Einzelprojekte – von der solaren Klärschlammtrocknung bis hin zur Energieberatung für private Haushalte. Vieles davon ist bei einem Stadtbummel mit bloßem Auge nicht zu sehen. Doch es gibt Ausnahmen wie den Kreulshof, eine Bergarbeitersiedlung aus den 1960er Jahren, die der städtischen Wohnungsbaugesellschaft GBB gehört. Die Solarmodule der Mehrfamilienhäuser schimmern schon von Weitem im Sonnenlicht.
„Wir haben jeden verfügbaren Quadratmeter für Photovoltaik genutzt“, erklärt GBB-Geschäftsführer Stephan Patz. Besonders stolz ist er darauf, dass trotz der Sanierungen die durchschnittliche Nettokaltmiete noch immer bei 5,65 Euro pro Quadratmeter liege. Auch mit guter Dämmung, neuen Fenstern und modernen Heizungen ist also bezahlbares Wohnen möglich. Wie hoch die Mieten vorher waren, sagt Patz allerdings nicht. Immerhin so viel: Man sei bei den Mieterhöhungen „unter 8 Prozent“ geblieben. Außerdem seien die Heizkosten durch die Sanierung merklich gesunken – wenngleich nicht so stark, dass sie die Mieterhöhungen komplett ausgleichen würden.
Zusätzlich hat die GBB ein sogenanntes Plusenergiehaus errichtet: sechs Wohnungen, strikte Südausrichtung, Heizung per Geothermie. Auf dem Dach sind Solarmodule angebracht, vier Wasserspeicher speisen die Fußbodenheizung. Das Haus produziere tatsächlich mehr Energie, als es brauche, berichtet Patz. Darum das „Plus“. Wobei der aufwendige Bau natürlich teuer gewesen sei, wie Patz zugibt – machbar nur dank Subventionen. Als Vorlage für den Massenmarkt taugt Patz’ Superhaus also nicht. „Eigentlich müssten wir bei solchen Häusern 18 Euro Miete pro Quadratmeter verlangen“, rechnet der Geschäftsführer vor. „Das kann hier niemand zahlen.“
Auch von anderen Visionen mussten sich die Bottroper verabschieden. Eine Kokerei, die gleichzeitig das örtliche Schwimmbad heizt? Zu teuer. Weniger Autos auf den Straßen? Keine Priorität. „Wir arbeiten nicht mit Verboten, sondern mit Anreizen“, fasst Oberbürgermeister Tischler sein Motto zusammen. Das passt zu seinem Ansatz, alle an einen Tisch zu holen. Fürs Klima allerdings hat das einen Nachteil: Damit der Abschlussbericht der „Innovation City“ so beeindruckend erfolgreich ausfällt, wurde der Verkehrssektor bei der CO2-Bilanz kurzerhand ausgeklammert. Man kann das Trickserei nennen. Andererseits sind da die Grenzen des realpolitisch Möglichen: Es führen gleich drei Autobahnen durchs Bottroper Stadtgebiet – und für Autobahnen ist der Bund zuständig, nicht eine einzelne Gemeinde. Hier etwas zu verändern ist für die Kommunalpolitik also wirklich kaum möglich.
Und dann ist da noch die Frage, welche Rolle die geschlossene Kohlezeche in der Klimabilanz spielt. Rechnet man die Zechenschließung mit ein in die Klimabilanz, macht das einen gigantischen Batzen an Emissionen aus. Aus dem Rathaus heißt es dazu: „Die Kokerei wurde von vornherein ausgeklammert, um in dem Modellprojekt (…) eine typische deutsche Stadt abbilden zu können“, schreibt eine Sprecherin auf Nachfrage. Lediglich die energetische Nutzung vor Ort – also zum Beispiel das Heizen mit Kohleöfen – sei in der Bilanz berücksichtigt worden.
Vom Verkehrssektor einmal abgesehen, hat die Stadt also wirklich viel dafür getan, nicht nur auf dem Papier zum Klimavorbild zu werden. Dabei sind es nicht nur große Projekte, mit denen die Bottroper Pioniere vorangehen. Da ist zum Beispiel der Stadtteil Prosper 3, ebenfalls ein Arbeiterviertel: Auf einer Wiese hinter dem Wohngebiet hockt eine Gruppe von Kindern. Die einen säen Blumensamen aus, die anderen gehen mit Plastikgefäßen auf Ameisensuche. „Viele Erwachsene erreichen wir beim Klimaschutz nicht mehr“, sagt Nora Schrage-Schmücker, die städtische Quartiersmanagerin. „Deshalb ist es so wichtig, dass wir bei den Kindern anfangen.“
Schrage-Schmücker hat schon viele Ferienfreizeiten organisiert. Mal legt sie einen Schwerpunkt aufs Müllsammeln, ein anderes Mal baut sie Nistkästen oder bepflanzt mit den Kindern zusammen Hochbeete. Auch „Stromdetektive“ hat die Quartiersmanagerin schon ausgebildet: Sie sollen ihre Mitschüler ermuntern, das Licht im Zimmer auszuknipsen, wenn es nicht mehr gebraucht wird. Ihre Hoffnung: Die Kinder lernen auf spielerische Weise, wie wichtig Klima- und Umweltschutz sind – und wie einfach man diese oft umsetzen kann. Dann tragen sie dieses Wissen nach Hause.
Katrin Knur, die Klimaschutzmanagerin von Bottrop, sieht schon erste Erfolge. Sie schlendert einen von Gräsern gesäumten Schotterweg entlang. Eine Treppe führt zum Ufer des Kirchschemmsbachs – früher eine stinkende Kloake, seit der Renaturierung im Jahr 2008 eine lebendige Naturlandschaft. „Blaues Klassenzimmer“ nennen sie diesen Ort in Bottrop, weil Grundschulkinder hierherkommen, um etwas über Libellen, Frösche und Fische zu erfahren. Von solchen Renaturierungsprojekten, sagt Knur, profitierten am Ende alle: „Auch Quartiere, die früher nicht den besten Ruf hatten, liegen plötzlich an einem mit Regenwasser gespeisten Bach.“ Der Nebeneffekt der Umweltmaßnahmen: Die Stadt wird hübscher.
Bottrop exportiert seine Ideen inzwischen
Inzwischen ist Bottrop sogar dazu übergegangen, die eigenen Umwelt- und Klimabemühungen zu exportieren: Die Innovation City Management GmbH (ICM) – jener Initiativkreis, der das Modellprojekt koordiniert hat – bietet diese Dienstleistung nun auch anderen Städten an. Dafür kümmert sich das Unternehmen um Ökobilanzen, Sanierungspläne und staatliche Subventionen. In 18 Stadtvierteln bundesweit unterhält die ICM inzwischen Büros. Was eine solche Beratung kostet? „Nicht mal eine Personalstelle“, erklärt eine Sprecherin. Da man bei jedem Projekt genügend Fördermittel einwerbe, liege der Eigenanteil pro Quartier „am Ende vielleicht bei 25.000 Euro im Jahr“.
Das Wuppertal-Institut, eine renommierte Einrichtung für Nachhaltigkeitsforschung, hat die Bemühungen der Stadt Bottrop wissenschaftlich begleitet. Das Ergebnis: „Ausgesprochen erfolgreich und beispielgebend“ sei das Modellprojekt bislang gewesen, heißt es in dem Gutachten. Zwar moniert auch das Wuppertal-Institut das Ausklammern des Verkehrssektors, der nicht so recht in die Erfolgsgeschichte passen will, aus der städtischen Klimabilanz. Trotzdem: Die CO2-Minderung sei „überdurchschnittlich und übertrifft den im Bundesdurchschnitt erreichten Rückgang (…) um mehr als das Doppelte“.
Auch Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), begrüßt die Bemühungen der Ruhrpott-Metropole: „Ich finde das, was Bottrop macht, gut. Kaum eine andere Stadt steht für Kohleenergie und damit für die vergangene Energieform. Ihr Wandel hat eine Vorbildfunktion. Die Stadt konnte durch eine Vielzahl von Initiativen die Emissionen senken. Wenn alle so weit wären wie Bottrop, wir wären einen Schritt weiter.“ Daumen hoch also, auch von der Wissenschaft.
„Man kann jede Stadt umbauen“, beteuert Oberbürgermeister Tischler. Bottrop selbst will bis 2035 klimaneutral sein.
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