Klimaaktivist*innen für die EU: Wollen sie wirklich nach Brüssel?
Carola Rackete kandidiert für die Linken, auch die Letzte Generation will nach Brüssel. Den Abgeordnetenjob wollen nicht alle machen.
Eine Gemeinsamkeit: Beide sind parteilos. „Wir machen einfach mal das, was Linke sonst nicht machen, und reden miteinander“, sagt das ehemalige Die Partei-Mitglied Semsrott noch.
Und was kommt nun raus beim Wahl-o-Mat? Mera25. Eine kleine Partei, die sich zugehörig fühlt zu Diem25, der Bewegung um den ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis. Fünf Jahre ist es her, dass Bilder von Rackete um die Welt gingen, wie sie als entschlossene Kapitänin der Sea-Watch 3 Geflüchtete aus dem Mittelmeer rettete.
Als Naturschutzökologin engagierte sie sich für Klimagruppen wie Extinction Rebellion. Aber jetzt, als Spitzenkandidatin im EU-Wahlkampf, ist sie in ihrer Botschaft und Rolle plötzlich nicht ganz so klar wie sonst: Kann eine Spitzenkandidatin ein Video von sich ins Internet stellen, das zeigt, dass sie inhaltlich einer anderen Partei näher stehen würde?
Parteilos bei den Linken
Ja, erklärt die 36-Jährige im selben Video. Statt kleine Parteien zu wählen, solle man sich aus strategischen Gründen für eine größere Liste entscheiden. Was hängen bleibt: So richtig Die Linke ist Carola Rackete irgendwie nicht.
Rackete ist eine von mehreren Klimaaktivist*innen, die im Juni zur Europawahl antreten. Auch die Letzte Generation, die durch ihre Straßenblockaden berühmt geworden ist, will in das Parlament einziehen. Die Frage, ob es sinnvoll ist, als außerparlamentarische Protestgruppe umzuschwenken und in die Politik zu gehen, ist so alt wie Bewegungen und Parlamente.
„Die Möglichkeiten, die man auf der Straße hat, sind begrenzt. Das hat die Klimabewegung schmerzlich erlebt“, sagt Soziologe Simon Teune, Bewegungsforscher an der Freien Universität Berlin. „Irgendwann liegt es auf der Hand, nach anderen Wegen zu suchen und die Machtoptionen von Parlamenten auszutesten.“
Straßenproteste sind nicht ausgeschlossen
Das müsse nicht heißen, dass sich die Aktivitäten komplett von der Straße dorthin verschieben. Oft entwickle sich ein Zusammenspiel. „Das hat schon gut funktioniert, zum Beispiel bei der Anti-Atom-Bewegung“, meint Teune. „Der Atomausstieg selbst konnte nur über den Bundestag erreicht werden. Gleichzeitig haben die Leute auf der Straße die Grünen-Abgeordneten auf Trab gehalten.“
Eine ähnliche Strategie verfolgt Rackete, die eines der großen Gesichter einer neuen Linken sein soll: jung, bewegungsnah, öko-affin. „Die Linke befindet sich in einem Erneuerungsprozess, der für die Klimagerechtigkeitsbewegung anschlussfähig ist“, sagt die 36-Jährige. „Sie setzt den Fokus auf Umverteilung und soziale Gerechtigkeit in Verbindung mit den ökologischen Krisen.“ Der Schlüssel sei ein sozial gerechterer Umweltschutz.
Den will sie im Umwelt- und Agrarausschuss weiterentwickeln. Die Chancen für ihren Einzug stehen mit Listenplatz Zwei nicht schlecht, 2019 erhielten die Linken fünf Plätze. Warum in den Bürokratieapparat EU, wenn die Klimakrise drängt? Sie wisse selbst, dass das Parlament wenig Spielraum habe und auf Kommission und Rat reagiere – und trotzdem: Entscheidungen der EU müssten an die Klimabewegung weitergegeben werden, dafür will sie sorgen.
Auch Lina Johnsen gehört zur radikaleren Ecke der Klimabewegung, will ihr Ticket nach Europa jedoch anders nutzen. Als eine von zwei Spitzenkandidat*innen der Letzten Generation will die Studentin der interdisziplinären Umweltwissenschaften den politischen Alltag dort mit Protesten stören.
Keine Fünf-Prozent-Hürde
Anders als Rackete, die bei den Linken andockt, tritt die Letzte Generation als eine von vielen kleinen Listen an. Da es im Europaparlament keine Fünf-Prozent-Hürde gibt, ist es hier für sie einfacher, einen oder mehr Sitze zu erringen als etwa bei der Bundestagswahl.
„Leute warfen uns immer vor: Hört auf, auf der Straße zu kleben und geht in die Politik wenn ihr etwas verändern wollt“, sagt die 26-Jährige Vollzeitaktivistin. Genau dem nehmen wir uns jetzt unter anderem an, aber auf unserem eigenen Weg.“
Das EU-Parlament wäre eine neue Bühne für die Letzte Generation. Und so eine sucht sie, seit sie ihre viel beobachteten, aber äußerst unbeliebten Straßenblockaden aufgegeben hat. Proteste an Tagebauen und Blockaden von Privatjets brachten bisher nicht die gewünschte Aufmerksamkeit.
Nun also das EU-Parlament als Ort des Protests. Aber auch die im Wahlkampf mobilisierten Spenden und im Erfolgsfall eine Förderung aus dem EU-Haushalt können einer Gruppe, deren Mitglieder ständig wegen illegaler Aktionen vor Gericht stehen, nicht ungelegen kommen.
Die Aktivist*innen sind alarmiert
Die Hinwendung zum Parlamentarischen ging schnell. Die Letzte Generation gibt es schließlich erst seit 2021. Doch die Frustration ist rasch gewachsen. Während die globalen Emissionen weiter steigen, passiert das gleiche mit den Temperaturen.
Im Februar meldete das EU-Erdbeobachtungssystem Copernicus: Erstmals war die Erde zwölf Monate in Folge durchschnittlich um mehr als 1,5 Grad heißer, als es vor der Industrialisierung normal gewesen wäre – die gefürchtete Marke, zumindest temporär ist sie geknackt.
Bewegungsforscher Teune kann deshalb den schnellen Wandel der Bewegung nachvollziehen. „Beim Kampf um den Atomausstieg kam es nicht auf jeden Tag an, bei der Klimakrise drängt die Zeit“, so der Wissenschaftler.
So sieht das auch Johnsen: „Wir können keine Kompromisse machen, wenn es um unser physikalische Grenzen geht“. Für die Letzte Generation gehe es darum, jederzeit an die Krise zu erinnern. Falls sie selbst gewählt werde, sei sie für jegliche Art von friedlichem Protest im Parlament offen. Auch das Symbol der Gruppe, die orangefarbene Warnweste, werde sie in Strasburg und Brüssel tragen.
Erste Aktion in Brüssel
Konkrete Details zu Aktionen nennt die Spitzenkandidatin nicht. Man plane bis zur Wahl und noch nicht weiter. „Wie so vieles bei der Letzten Generation ist auch die EU-Wahl für uns sehr ambitioniert, etwas größenwahnsinnig und gar nicht so unrealistisch“, sagt sie.
Einen Probelauf gab es bereits. Mitte Mai protestierten Johnsen und ein paar Mitstreiter*innen mit Aufschriften wie „Klimakrise“ und „Aussterben“ auf der Haut im Sitzungssaal – noch von der Zuschauer*innentribüne.
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