Kita-Versorgung in Hamburg: Ein leeres Versprechen
Jedem Kind steht ein Kita-Gutschein zu, doch die Plätze sind rar. Ein vierjähriges Mädchen, das kein Deutsch spricht, wartet seit einem Jahr.
In Hamburg hat jedes Kind ab dem ersten Geburtstag einen Rechtsanspruch auf mindestens fünf Stunden Kita-Besuch täglich. Doch die Eltern erhalten nur die Gutscheine dafür, den Platz müssen sie selbst finden.
Melek, die anonym bleiben möchte, war mit der Nachbarin gleich zu drei Kitas gegangen, als diese voriges Jahr nach Schnelsen zog. Alle drei sagten, es sei nichts frei. „Vor zwei Wochen waren wir wieder dort. Es hieß, sie steht noch auf der Warteliste. Wir sollten uns gedulden.“
Dabei spricht die Familie zuhause nur Türkisch. „Das Kind möchte Deutsch lernen und mit anderen Kindern spielen“, so die Übersetzerin. Von einer Beratungsstelle hörte sie, man könne sich ans Jugendamt wenden. „Aber das wollte die Mutter nicht. Sie sagte ‚nein, nein, nein‘. Ausländische Familien haben Angst vor dem Jugendamt.“
Enquete-Kommission warnt vor Ausgrenzung
Ein Teil des Problems: Die Familie hat nur einen 5-Stunden-Gutschein. Der steht Kindern zu, deren Eltern nicht beide arbeiten. Doch die Plätze sind rar, weil Träger wirtschaften müssen und lieber Kinder berufstätiger Eltern mit Acht- oder Zehn-Stunden-Gutscheinen aufnehmen. Bereits in der Enquête-Kommission „Kinderschutz und Kinderrechte weiter stärken“, die sich vor zwei Jahren mit dem Aufwachsen von Kindern in Hamburg beschäftigte, kam das zur Sprache. „Kinder erwerbsloser Eltern werden durch die reduzierte Betreuungszeit ausgrenzt“, heißt es im Kapitel „Soziale Rahmungen“ im Anhang des Abschlussberichts.
Dort steht auch, dass die Kinderzahl wächst und zwar schneller als die Kita-Fläche. Bot zum Beispiel Harburg 2010 noch 77 Prozent aller Kinder von null bis sieben einen Platz, waren es 2015 nur noch 62 Prozent. Harburg hatte mehr Kinder mit Anrecht auf fünf Stunden und war für neue Träger wenig attraktiv.
Die Sozialbehörde vertritt, dass alle Gutscheine „voll auskömmlich“ finanziert seien. Plätze für fünf Stunden könnten genauso wirtschaftlich angeboten werden wie jene für acht Stunden, sagt Sprecherin Anja Segert. Sie räumt aber ein, es könne für Kitas „personalorganisatorische Gründe“ geben, Kinder mit höherem Zeitumfang zu nehmen. Hamburgweit hat etwa jedes dritte Kind nur den Fünf-Stunden-Platz. Gar keine Betreuung hatten im März 2019 rund 950 Kinder.
Für die Vierjährige aus Schnelsen gibt es zwei Lösungen. Die Mutter könnte beim Jugendamt um einen sogenannten „Prio 10“-Schein bitten. Der besagt, dass das Kind Entwicklungsverzögerungen hat oder andere Probleme, die einen Ganztagsplatz erfordern. Selbst Jugendamtsmitarbeiter warnen aber, dies könne ein „Stigma“ bedeuten.
Der andere Weg: die Mutter könnte zur Kita-Abteilung im Bezirk gehen und bitten, dass ihr Plätze nachgewiesen werden. Dafür müssen Eltern aber fünf Absagen von Kitas vorweisen, wie auch der für Schnelsen zuständige Bezirk Eimsbüttel auf taz-Nachfrage mitteilt.
Die CDU spürte dem Kita-Mangel in Harburg mit mehreren Anfragen nach. Im März 2018 gab es dort in Unterkünften rund 400 Flüchtlingskinder, aber nur 135 waren in einer Kita. Der Bezirk suchte in 34 Nachweisverfahren einen Kita-Platz für ein Kind. Im November 2019 führte der Bezirk bereits 65 solcher Verfahren und gab die Hälfte davon an die Sozialbehörde weiter, weil sich kein Platz fand. Sogar bei den Kitas der Stadt gab es Wartezeiten von zwei Jahren.
Das Problem der 5-Stunden-Gutscheine bestehe schon lange, „daran hat auch das Nachweisverfahren wenig verändert“, sagt Insa Tietjen, Kita-Politikerin der Linken. Sie fordert eine höhere Bewertung dieser Gutscheine und langfristig Ganztagsplätze für alle. Als ersten Schritt sollten nach Vorbild Berlins sechs Stunden Regelangebot sein.
„Es ist nicht hinnehmbar, dass Kinder so lange auf einen Platz warten“, sagt die CDU-Familienpolitikerin Silke Seif. Zumal wenn es Kinder treffe, in deren Elternhaus wenig Deutsch gesprochen werde. Der Weg zum Kitaplatz über das Nachweisverfahren sei zudem lang und „hochschwellig“.
Der Bezirk Eimsbüttel allerdings erklärt, man habe seit 2019 alle Nachweisverfahren mit einem Platz abschließen können. Nur hat sich diese Lösung dort wohl nicht herumgesprochen. Melek erfuhr erst durch die taz davon. „In keiner der drei Kitas hat man uns davon etwas gesagt“, berichtet sie. „Es hieß nur, habt Geduld.“ Sie will nun mit ihrer Nachbarin losziehen und bei Kitas Absagen sammeln.
*Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs