piwik no script img

Kipp-Punkte des ÖkosystemsFossilfreunde, hört endlich auf die Wissenschaft

Nick Reimer

Kommentar von

Nick Reimer

Das Eisschild Grönlands droht wegen der Klimakrise zusammenzubrechen – mit fatalen Folgen für den Wasserpegel. Viele haben den Schuss nicht gehört.

Inlandeis nordöstlich von Kangerlussuaq in Grönland, am 26.3.2023 Foto: Stephan Laude/imago

W er in die Berge wandern geht, packt sich einen warmen Pullover ein, denn jeder weiß: Oben auf dem Gipfel ist es kühler als unten im Tal. Beim Grönländischen Eisschild ist dies genauso; bis zu 3.300 Meter ragt der Gletscher in die Höhe. Weshalb das gefrorene Wasser ein sogenanntes Kippsystem in der Ökologie der Erde darstellt: Beginnt der Gletscher, der übrigens fünfmal so groß ist wie die Bundesrepublik, einmal zu tauen, fällt seine Oberkante in immer wärmer werdende Schichten nach unten – das Tauen hört nie wieder auf. Zwar wird der Prozess etliche Jahrhunderte dauern, an seinem Ende aber wird der Pegel der weltweiten Ozeane allein aus dieser Quelle sieben Meter höher sein als heute. Emden liegt einen Meter hoch.

Alarmierend sind deshalb zwei Berichte, die jetzt vorgestellt wurden. Der erste ist der „Global Tipping Points Report 2025“: In diesem warnen 160 Experten aus 23 Ländern, dass die Eisschilde von Grönland genauso wie jener in der Westantarktis oberhalb einer globalen Erwärmung von 1 Grad irreversibel zusammenbrechen werden. Der zweite Bericht stammt von der Weltmeteorologie-Organisation WMO: Nie stieg die Treibhausgaskonzentration in der Erdatmosphäre schneller als im vergangenen Jahr; die globale Durchschnittstemperatur lag 2024 schon um 1,55 Grad über dem vorindustriellen Niveau.

Seit Jahren forscht die Wissenschaft, sie misst nach und versorgt uns mit Daten: So hat besagter grönländischer Gletscher bereits mehr als eine Billion – in Zahlen: 1.000.000.000.000 – Tonnen Eis verloren – 20 Mal so viel Wasser, wie der Bodensee enthält. Zwar wissen wir längst, dass die Kippelemente in Gefahr sind, und – ja, vielleicht manche sogar akut. Doch statt auf die Wissenschaft zu hören, halten es zu viele mit dem rheinländischen Spruch „Et hätt noch immer jot jejange“.

Bald werden 70 Prozent aller Korallen in den Ozeanen abgetötet sein

Dabei geht es nicht um Glauben, sondern um die Gesetze der Physik: 17 solcher Kippsysteme gibt es, viele hängen unmittelbar zusammen. Beispielsweise wird das schmelzende Süßwasser Grönlands die Salzkonzentration im Atlantik so verändern, dass der Golfstrom zusammenbrechen dürfte. Wie ein Leben in Mitteleuropa ohne dieses Wärmeband aussieht, lässt sich gut auf Neufundland studieren: Die Stadt St. John’s liegt etwa auf demselben Breitengrad wie Hannover – aber Eisberge vor der Küste sind selbst im Frühsommer dort keine Seltenheit. Eines dieser Kippelemente haben die Forscher nun für unrettbar erklärt: Mitte des Jahrhunderts werden 70 Prozent aller Korallen in den wärmer werdenden Ozeanen abgetötet sein, Ende des Jahrhunderts dann 99 Prozent.

Das Logo der taz: Weißer Schriftzung t a z und weiße Tatze auf rotem Grund.
taz debatte

Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.

Statt jetzt aber besorgt in den Lösungsmodus zu wechseln, diskutieren wir immer noch, ob ein Verbrenner-Aus in zehn Jahren sinnvoll ist. Von der Wärmepumpe über die Bioökonomie, der Solarthermie bis zum „Grünen Wasserstoff“ – wir kennen sehr viele Lösungen des Problems. Trotzdem gelingt es der Fossil-Lobby, uns weiter in ihrer Abhängigkeit zu halten: Die Bundesregierung will jetzt neue Erdgaskraftwerke bauen lassen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Nick Reimer
Seit 1998 bei der taz (mit Unterbrechungen), zunächst als Korrespondent in Dresden, dann als Wirtschaftsredakteur mit Schwerpunkt Energie, Klima und Landwirtschaft, heute Autor im Zukunftsressort.
Mehr zum Thema

8 Kommentare

 / 
  • Der Meeresspiegel ist seit dem Höhepunkt der Eiszeit ganz ohne menschengemachte Zivilisation bereits um 120 Meter angestiegen. Im Schnitt ein Zentimeter im Jahr. Es ist noch genug Eis da für weitere 70 Meter. Freut euch auf das Ende der Eiszeit.

  • "...wir kennen sehr viele Lösungen des Problems."



    Wobei die disktierten "Lösungen" aber alle nicht hinreichend sind: Z.B. wird das Speicherproblem konsequent verharmlost bis ignoriert [1].



    Wechseln wir doch mal in den Lösungsmodus:



    "Die Bundesregierung will jetzt neue Erdgaskraftwerke bauen lassen."



    Was hat das mit "Fossil-Lobby" zu tun? Für die Energiewende sind Flautenkraftwerke erforderlich, und Gaskraftwerke kann man auch mit E- oder Biomethan betreiben. Und, oh Wunder: Methanspeicher und -netz sind (im Gegensatz zu Akkus, Wasserstoffspeichern und -netz) schon vorhanden und kosten nicht extra.



    [1] Von "Lösungen", die nur Geld kosten, aber keine CO2-Einsparungen bringen, möchte ich hier gar nicht erst anfangen.

    • @sollndas:

      Vielleicht ist das Thema zu groß für die BR?



      "Mit seiner starken Erwärmung nähert sich unser Planet rasant katastrophalen und unumkehrbaren Kipppunkten – so die Warnung von 160 Klimaforschern aus 23 Ländern. «Wir steuern rapide auf mehrere Kipppunkte des Erdsystems zu, die unsere Welt verändern könnten und zerstörerische Folgen für Menschen und Natur hätten», betonte Tim Lenton von der Universität Exeter, der mit einem internationalen Team den «Global Tipping Points Report» veröffentlicht. Es seien beispiellose und sofortige Massnahmen von politischen Entscheidungsträgern in aller Welt notwendig."



      Bei 20min.ch



      "Seit ihrer letzten Bestandsaufnahme vor zwei Jahren sehen die Forschenden auch Fortschritte beim Wandel. «Es gab eine radikale weltweite Beschleunigung, darunter die Verbreitung von Solarenergie und Elektroautos. Aber wir müssen mehr tun und uns schneller bewegen, um positive Kipppunkte zu erreichen», sagte Lenton. Bestenfalls ergäben sich Kettenreaktionen – etwa zwischen den Bereich Energie, Verkehr und Heizen. «Wir müssen viel mehr positive Kipppunkte identifizieren und auslösen», so das Team."



      An Fossile als Katalysator positiver Kipppunkte mag ich nicht wirklich glauben!

  • Professor Latif und die Expert:innen aus Deutschland bzw weltweit sind sich oft einig:



    "Klimaforscher Latif: „Alles ist in die falsche Richtung gegangen“



    Kiel/Hamburg. Der Hamburger Meteorologe spricht in einem neuen Buch über Rückschritte bei der Bekämpfung des Klimawandels. Die Meeresspiegel steigen."



    Bei abendblatt.de



    Außerdem eine Binse seiner Wissenschaft:



    "Grünes Wissen:



    Klimaforscher Mojib Latif: „Das Meer bestimmt Tempo und Ausmaß des Klimawandels“



    Bei freitag.de

  • Es ist die uralte Leier: die Leute sind zuallererst an Profiten interessiert, alles andere hat dahinter zurückzustehen. Ds sagt auch Merz: solange es die Wirtschaft nicht stört, kann man gegen den Klimawandel etwas tun. Wichtig ist hier, dass die Profite JETZT fließen müssen. Was in zehn, 30 oder gar 100 Jahren ist, das interessiert niemanden. Die Boni, Dividenden und Gewinne müssen HEUTE fließen, die Wähler*innen müssen in spätestens 4 Jahren wieder abstimmen - danach ist alles wurscht, das sollen dann andere ausbaden. Gar nachfolgende Generationen interessieren überhaupt nicht. Man kann es auch so ausdrücken: ausgeprägter Egoismus gepaart mit unersättlicher Gier.

  • Der Prozess wird etliche Jahrhunderte dauern. Und bis der Eispanzer restlos geschmolzen ist, werden die Menschen das Problem vor sich hertreten.



    "Von der Wärmepumpe über die Bioökonomie, der Solarthermie bis zum „Grünen Wasserstoff“ – wir kennen sehr viele Lösungen des Problems." KI und Quantum Computing fehlen noch. Ihre Lösungen sind ein "Weiter so mit anderen Mitteln". Dafür ist es längst zu spät. In unserem halbherzigen Versuch, der Klimakatastrophe Herr zu werden, ignorieren wir geflissentlich all die anderen Schäden, die wir der Erde zufügen. Artensterben, Plastikproduktion, Bodenversiegelung, Übersäuerung der Ozeane, soziale Krisen. Aber bleiben wir beim Klima. Sonne und Wind verursachen keine Emissionen, der Bau von Solarzellen und Windrädern schon, direkt und vor allem indirekt. Wieviel CO2 wird dadurch freigesetzt? Bergbau für Seltene Erden, Beton für Türme von Windrädern, Stromtrassen, Straßen zu den Windparks, auf denen LKWs, die Diesel verbrauchen, gewaltige Bauteile anliefern. Indigene, Tiere, Pflanzen werden vertrieben, ausgerottet und gefällt. Kunststoff fällt auf jeder Stufe der Produktion an.



    Technologische Lösungen funktionieren nur in Wolkenkuckucksheim.

  • Es gibt keine Lösungsmodus im Kapitalismus.



    Einfach mal dazu lesen:



    Monique Pinçon-Charlot, Les Riches contre la planète: Violence oligarchique et chaos climatique, Paris 2025.

    • @Favier:

      Der Haken ist, dass die Zeit nicht mehr reicht, bis man den Kapitalismus abgeschafft hat.

      Insofern kann es nur eine Lösung mit Kapitalismus geben oder gar keine.

      Die sozialistischen Gesellschaftsmodelle im letzten und im aktuellen Jahrhundert waren nicht überzeugend genug, dass man sie als Alternativmodell erhalten wollte.