Kindergeld bei armen Familien: Von wegen Alk und Zigaretten
Eine Studie zeigt, dass das Vorurteil, ärmere Familien würden Kindergeld zweckentfremden, nicht zutrifft. Die Autoren fordern mehr Engagement gegen Kinderarmut.
Gütersloh dpa | Finanzielle Direkthilfen vom Staat für arme Familien kommen laut einer Studie bei den Kindern an. Das Vorurteil, dass ein Plus dieser Hilfen von den Eltern für Alkohol, Tabak oder Unterhaltungselektronik ausgegeben werde, ist demnach in der Regel falsch, wie die Bertelsmann-Stiftung am Mittwoch mitteilte. Im Auftrag der Stiftung mit Sitz in Gütersloh hat das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) untersucht, wie sich Kindergeld und das in einigen Bundesländern ausgezahlte Landeserziehungsgeld auf das Ausgabeverhalten von Familien auswirken. Dabei haben die Forscher den Zeitraum von 1984 bis 2016 untersucht.
So gaben bei einer fiktiven Erhöhung des Kindergeldes um 100 Euro die Familien 14 Euro mehr für die Miete aus, um mehr Wohnfläche zu haben. Ein Anstieg beim Zigarettenkonsum ist seit 2008 nicht mehr nachweisbar. Auch habe die Höhe des Kindergeldes keinen Einfluss auf den Alkoholkonsum. Dank höheren Kindergeldes steigt aber die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder in einer Kita betreut werden. Auch steigt der Anteil der Kinder, die an Musikerziehung oder am Turnen teilnehmen. Zudem hat die Analyse des ZEW ergeben, dass die Eltern aufgrund des Kindergeldes nicht ihre Arbeitszeit reduzieren.
„Direkte finanzielle Leistungen für Familien sind sinnvoller als aufwendig zu beantragende Sachleistungen. Das Geld kommt den Kindern zu Gute und wird nicht von den Eltern für ihre eigenen Interessen ausgegeben“, sagt Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung.
Bei zweckgebundenen Sach- und Geldleistungen wie beim Bildungs- und Teilhabepaket würden laut Stiftung rund 30 Prozent der Mittel für den Verwaltungsaufwand verbraucht. Dräger fordert daher eine Beweislastumkehr: „Eltern sollten nicht unter Generalverdacht gestellt werden. Der Staat sollte den Eltern vertrauen und Entmündigung sollte nicht zur Regel werden.“
Die Stiftung fordert beim Kampf gegen Kinderarmut in Deutschland die Ablösung des bisherigen Systems. Mit einem neuen Teilhabegeld sollen bisherige staatliche Maßnahmen wie das Kindergeld, Teile des Bildungs- und Teilhabepakets, der Kinderzuschlag und Zahlungen über die Sozialhilfe gebündelt werden. Berechtigt wären nach diesem Vorschlag alle Kinder. Allerdings soll das Teilhabegeld mit dem steigenden Einkommen der Eltern abgeschmolzen werden. „Anders als das Kindergeld erreicht es so gezielt arme Kinder und Jugendliche“, so Dräger.
Leser*innenkommentare
insLot
Seltsamerweise waren es doch immer Grüne und SPDler die vermehrt Sach- statt Geldleistungen forderten?! Vereint im unverbrüchlichen Glauben, dass der Normalbürger nicht am besten weiß, was gut für sein Kind ist!
88181 (Profil gelöscht)
Gast
Schau an, die Armen sind gar keine Assis. Wer hätte das gedacht.
Dennoch hat sich das Bild des Trash-TV schauenden, ungesunden Billigfraß zu sich nehmenden, rauchenden und saufenden Hartz-IV-Empfängers bei vielen, die nicht so weit unten sind, eingefräst.
Diese eine Studie wird da nicht viel ändern.
mowgli
Zitat: „Das Vorurteil, dass ein Plus dieser Hilfen von den Eltern für Alkohol, Tabak oder Unterhaltungselektronik ausgegeben werde, ist demnach in der Regel falsch...“.
Das haben Vorurteile so an sich, dass sie falsch sind. Das hat mit ihrer Funktion zu tun. Wer Vorurteile pflegt, will sich zum Richter aufschwingen. Und zwar ohne sich a) zuvor der Mühe eines 6-jährigen Studiums nebst diverser Prüfungen zu unterziehen, b) den Einzelfall genau zu betrachten und c) an irgendwelche Gesetze halten zu müssen. Das kann nicht ohne Folgen auf die Trefferquote bleiben.
Die „Selbstermächtigung“ ist zwar gerade schwer in Mode bei Menschen, die vom Glauben an die segensreiche Kraft der Gewalt nicht lassen wollen, aber gerade in diesem Fall ist sie keine Lösung sondern ein Problem. Wer sich selber ermächtigt, ganze Menschengruppen pauschal zu verurteilen für etwas, was allenfalls Einzelne getan haben, erreicht damit genau das Gegenteil dessen, was er eigentlich erreichen will.
Was passiert, wenn man das Vorurteil pflegt, alle Hartz-IV-Bezieher würden ihre Kinder zugunsten der eigenen Sucht vernachlässigen? Unter anderem bringt man a) alle diejenigen Hartz-IV-Bezieher gegen sich auf, die lieber selbst hungern würden als ihren Kindern aus Kostengründen eine Klassenfahrt zu verbieten. Man sorgt b) dafür, dass die Politiker glauben, sie müssten bei den Direkthilfen den Rotstift ansetzen. Und man riskiert c), dass reiche Menschen glauben, sie könnten ihre Kinder ungestraft vernachlässigen, so lange sie sie mit genügend Geld ausstatten.
In der Summe treibt all das die Gesellschaft auseinander. Es nützt dann gar nichts mehr, wenn sich die „Mittelschicht“ mit einem wohligen Grusel zurücklehnt und nach der Staatsmacht ruft. Politiker sollen Probleme schließlich lösen, nicht vergrößern. Und lösen lassen sich Probleme nicht, wenn sie wegzusparen oder abzuschieben versucht. Auf die Art enttäuscht man nur seine Wähler. Die SPD könnte das zugeben, wäre sie nur etwas ehrlicher.
agerwiese
Bertelsmann ist mir mehr als suspekt. Man kann zwar davon ausgehen, dass bei den Studien gewisse Unabhängigkeit der Forschung einbehalten wird, nichtsdestotrotz scheint die Stiftung, nach der berüchtigten Hartz-IV-Zeit, jetzt eine Art Good-Cop-Bad-Cop-Politik zu betreiben. Mit Aart de Geus und Jörg Dräger stehen der Stiftung auch 2 ehemalige Politiker vor, die in der aktiven Zeit eher die soziale Wärme eines Kühlschrank ausgestrahlt haben.
Nun, vielleicht wird man mit der Zeit klüger. Oder demnächst kommt die nächste Studie, die besagt, dass das erhöhte Kindergeld in die private Rente investiert werden sollte.
Philippe Ressing
...und für diese bahnbrechende Erkenntnis hat man nun 30 Jahre lang geforscht. Der politische Effekt, Hartz IVer seien arbeitsscheue Sozialmessies wurde damals unter Schröder/Fischers RotGrün erzielt. Aushölung der Arbeitnehmer- und Sozialrechte, unterfüttert mit der medial forcierten Ablehnung der Betroffenen. Nachdem nun auch immer mehr 'Normalos' und 'Rentner' Stütze brauchen, darf die Bertelsmannstiftung jetzt die Wirklichkeit beschreiben. Chapeau aber auch, na ja für den Sozialhass haben wir ja als Ersatz jetzt die MigrantInnen und Flüchtlinge......
mowgli
@Philippe Ressing Zitat: „...na ja für den Sozialhass haben wir ja als Ersatz jetzt die MigrantInnen und Flüchtlinge...“
Richtig erkannt: Gleiches Phänomen, ähnliche Folgen. Auch im Fall der MigrantInnen wollen sich machtgeile Menschen so billig wie möglich profilieren mit Hilfe von Vorurteilen. Sie suchen nach dem Stein der Weisen, dem Perpetuum Mobile, nach einem Hilfsmittel jedenfalls, mit dem sie eigene Unzulänglichkeiten ins Gegenteil verkehren können.
Schröder ist der eitle Sohn einer alleinerziehenden Putzfrau. Sein vermeintliches Herkunfts-Manko wollte er dadurch wett machen, dass er eine ominöse „Leistung“ zum Thema seiner Politik gemacht und den Sozialneid angestachelt hat. Seine Erzählung war, dass ihn die eigene Leistung bis ins Kanzleramt gebracht hat, dass alle, die sich nicht so sehr anstrengen wie er, den Aufstieg zwar nicht verdienen, mit etwas Druck von seiner Seite allerdings doch aufschließen können in die Mitte seiner Lieblingsrepublik.
Schröder hat bis heute nicht sehr viel begriffen von Gesellschaften oder vom Menschen allgemein bzw. von Individuen im Speziellen. (Seine Scheidungsquote könnte ein Hinweis sein.) Das ist nicht unbedingt nur seine Schuld. Etliche Speichellecker und Möchtegern-Geführte müssen sich an ihre eigene Nase fassen), es qualifiziert ihn aber auch nicht unbedingt zum Anführer. Weil: Wenn das nun jeder machen würde...?
So, wie Schröder seinerzeit Macht aus Vorurteilen machen wollte, versucht das jetzt die AfD. In diesem Fall allerdings wird das Ende nicht die Resignation sein. AfD-Wähler sind keine SPD-Wähler. Sie entstammen einer gesellschaftlichen Gruppe, bei der Ein- und Unterordnung zum Zwecke der Daseins-Sicherung nicht unbedingt auf dem Lehrplan stand. Gewaltanwendung schon. Wenn diese Wählerschicht enttäuscht wird – und das wird zwangsläufig passieren – , bricht hier vielleicht wieder ein (Bürger-)Krieg aus. Wobei die Krieger sich auf die verbale Gewalt ihrer politischen Vorgänger berufen werden: "Die quatschen nur. Ich mache."