Kerstin Wolter über Wahlkampf in Berlin: „Die Grenze nach oben ist noch nicht erreicht“
Berlins Linke könnte nach der Wahl 2026 die Regierung anführen. Co-Parteichefin Kerstin Wolter will mit dem Thema Mieten punkten – und erteilt Olympia eine Absage.
taz: Frau Wolter, freuen Sie sich auf den Wahlkampf mit Steffen Krach?
Kerstin Wolter: Ich freue mich darauf, dass wir im nächsten Jahr die Gelegenheit haben werden, die schwarz-rote Regierung abzuwählen.
taz: Glauben Sie, dass Steffen Krach ein guter Kandidat für die SPD ist, weil er die zerstrittene Partei wieder einen kann?
Wolter: Ich frage mich, ob jemand wie Steffen Krach, der die vergangenen Jahre in Hannover verbracht hat, die Probleme der Berlinerinnen und Berliner verstehen kann. Wann ist er zuletzt auf einem kaputten Radweg gefahren? Wann hat er auf einen Bus gewartet, der nicht gekommen ist? Das sind Fragen, wo die Linke mit ihren Haustürgesprächen nah an den Menschen ist.
Seit Mai 2025 ist Kerstin Wolter Co-Vorsitzende der Berliner Linken. Sie wurde 1986 in Perleberg in Brandenburg geboren und hat Geografie, Umweltpolitik, Agrar- und Sozialwissenschaften studiert. Wolter war Geschäftsführerin des Studierendenverbandes Die Linke.SDS und ist seit sechs Jahren Vorsitzende des Bezirksverbands Friedrichshain-Kreuzberg.
taz: Das können Sie ihn selbst fragen, wenn Sie demnächst bei einer Wahlkampfveranstaltung mit Steffen Krach und Werner Graf auf dem Podium sitzen?
Wolter: Wir entscheiden in den nächsten Wochen über unsere Spitzenkandidatur.
taz: Bislang hieß es im November.
Wolter: Im November werden wir auf dem Parteitag die Entscheidung fällen. Den Vorschlag des Landesvorstandes wird es vorher geben.
taz: Die SPD wollte sich auch Zeit lassen, und dann ging es plötzlich ganz schnell. Könnte bei Ihnen ja auch passieren.
Wolter: SPD und Grüne haben sich innerparteilich als auch von außen sehr stark unter Druck setzen lassen. Das machen wir nicht.
taz: Wenn SPD und Grüne einen Mann aufstellen, kann die Linkspartei aber nur mit einer Frau ins Rennen gehen, oder?
Wolter: Die Linke hat viele Möglichkeiten, wen sie aufstellen kann.
taz: Was wäre das denn für eine Botschaft, wenn alle drei Parteien, die Schwarz-Rot ablösen wollen, einen männlichen Kandidaten aufstellen?
Wolter: Berlin hat den besten Kandidaten oder die beste Kandidatin verdient.
taz: Hört man sich in Ihrer Partei um, sagen viele, Kerstin Wolter habe gute Chancen, Spitzenkandidatin zu werden. Haben Sie sich schon mal mit der Vorstellung vertraut gemacht, dass nicht das Karl-Liebknecht-Haus, sondern das Rote Rathaus ihr nächster Arbeitsplatz ist?
Wolter: Natürlich wollen wir als Linke diese Regierung absetzen. Berlin hat eine bessere Regierung verdient. Aber wir wollen jetzt erst mal mit unseren Forderungen Wahlkampf machen. Da höre ich von Steffen Krach bisher noch sehr wenig.
taz: Er will die Olympischen Sommerspiele nach Berlin holen.
Wolter: Und er ist gegen die Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne. Aber ansonsten gibt es da wenig Vorschläge. Auch nicht bei der Mietenkrise. Da machen wir jetzt mit unserem Sicheres-Wohnen-Gesetz einen umfassenden Vorschlag. Das ist ein Gesetz, das in den Markt eingreift und auch private Vermieter verpflichtet, bei Neuvermietungen einen Teil ihrer Wohnungen an Menschen mit Wohnberechtigungsschein zu vermieten. Das betrifft über 60 Prozent der Berlinerinnen und Berliner.
taz: Was sagen dazu denn Ihre Anwälte? Ist Ihr Gesetzentwurf verfassungskonform?
Wolter: Das Gesetz wurde auch mit WissenschaftlerInnen und JuristInnen zusammen entwickelt. Die sagen: Ja, es ist möglich.
taz: Die SPD ist in der Mietenpolitik zuletzt auch etwas aktiver geworden. Vielleicht liegt das ja auch daran, dass da mit Sebastian Schlüsselburg ein ehemaliger Linken-Abgeordneter in der Fraktion ist. Er sagte der taz zuletzt, dass der Vergesellschaftungsparagraf 15 im Grundgesetz ein schlafender Riese sei, den man wecken müsse. Im Mietenbereich könne man damit zum Beispiel einen Mietendeckel juristisch anders begründen als der in Karlsruhe gescheiterte Mietendeckel von Rot-Rot-Grün. Ist das ein Punkt, wo Sie sofort sagen: Nein, weil von der SPD? Oder werden Sie da auch etwas neugierig und hellhörig?
Wolter: Ich freue mich wirklich, wenn die SPD mit einem umfangreichen Vorschlag für Vergesellschaftung um die Ecke kommt, um das Thema aufzusetzen. Wir als Linke setzen das ja schon seit vielen Jahren auf die Agenda. Wir fordern auch, dass der Deutsche Wohnen und Co-Volksentscheid endlich umgesetzt wird. Nur hat gerade der Spitzenkandidat gesagt, mit ihm müsse man vor Enteignungen in der Wirtschaft keine Angst haben. Da muss die SPD vielleicht auch noch einmal intern klären, wo sie hin will.
taz: Wird es eine Regierungsbeteiligung der Linken nur mit einer Umsetzung des Volksentscheids geben?
Wolter: Wir haben im Bundestagswahlkampf gesagt: Alle wollen regieren, wir wollen verändern. Das schließt eine Regierungsbeteiligung nicht aus. Aber bevor man übers Regieren redet, muss man erst mal darüber reden, was man eigentlich will. Für Berlin ist es wichtig, an die Wurzel der Probleme zu gehen. Dazu gehört für mich zum Beispiel, aus der profitgesteuerten Vermietung von Wohnraum rauszukommen und den Hebel dafür umzulegen.
taz: Eine absolute Mehrheit streben Sie aber nicht an. Oder doch?
Wolter (lacht): Die Grenze nach oben ist noch nicht erreicht. Aber natürlich sind die Umfragen für uns gerade sehr erfreulich.
taz: Dennoch brauchen Sie Koalitionspartner, wenn Sie regieren wollen. Oder sind Sie da dann doch schnell wieder beim Verändern wollen in der Opposition? Wo verläuft denn in Ihrer Partei inhaltlich die Grenze zwischen regieren und verändern wollen?
Wolter: Die Frage der Umsetzung des Volksentscheids ist für uns zentral. Solche demokratischen Entscheidungen, wo fast 60 Prozent der Berlinerinnen und Berliner zugestimmt haben, dürfen nicht ignoriert werden. Wir reden immer davon, dass man die Demokratie vor den Rechten schützen müsse. Aber wo wird eigentlich Demokratie ernst genommen, wenn ein erfolgreicher Volksentscheid verhindert werden soll?
taz: Gerade hat Ihre Fraktion einen Haushaltsgipfel abgehalten und die soziale Schieflage des Haushaltsentwurfs von Schwarz-Rot und der Finanzplanung von Finanzsenator Evers kritisiert. Als Regierungspartei müssten auch Sie die Löcher stopfen, die sich auftun, auch aufgrund erfolgreicher Arbeitskämpfe?
Wolter: Wir haben es aktuell mit einem Haushalt zu tun, der einerseits so groß ist wie noch nie. Auf der anderen Seite wird massiv gekürzt: bei sozialen Trägern, bei den Schulen, bei den Bildungsangeboten, bei Projekten für Demokratieförderung, gegen Antisemitismus, Rassismus. Daran ändert leider auch dieser Haushaltsentwurf nichts. Wir freuen uns natürlich, wenn die Spielräume genutzt werden, mehr Kredite aufzunehmen. Aber wir sehen keine langfristige Perspektive. Und dann fehlt die Einnahmeseite.
taz: Was fordern Sie da?
Wolter: Die Erhöhung der Grunderwerbssteuer. Die wollen wir um 0,5 Prozent anheben. Interessant ist aber auch, was unser Bundesvorsitzender Jan van Aken ins Spiel gebracht hat, nämlich eine Luxusvillen-Steuer. Wir prüfen gerade, ob die Grunderwerbssteuer progressiv erhoben werden kann. Wer kleine Häuser für sich selbst kauft, muss genauso viel Steuern zahlen wie jemand, der sich eine Villa kauft. Das ist ungerecht. Ab vier Millionen Euro könnte man auch noch mal 5 Prozent oben drauf packen.
taz: Das Grundproblem bleibt doch aber. Bei einem jährlichen strukturellen Defizit von 5 Milliarden Euro, von dem der Finanzsenator ausgeht, sind Einnahmesteigerungen von einigen Millionen, auch bei der Parkraumbewirtschaftung, nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Wolter: Wenn man bei der Einnahmeseite an vielen Stellen schraubt, läppert sich schon was zusammen. Und bei Aufgaben, die wir nicht für sinnvoll halten, würden wir gerne auch bei den Ausgaben sparen. Zum Beispiel Olympia. Gespart wird aber bei Projekten wie dem Sorgetelefon der Diakonie. Das hat eine Schlagseite.
taz: Bei möglichen Verhandlungen zum Haushalt aber auch zu Themen wie Olympia und Vergesellschaftung wären Sie als Gesprächspartnerin sicher in einer besseren Position, wenn die Linke stärker wäre als SPD und Grüne. Wenn Sie tatsächlich hinter der CDU als Nummer zwei ins Ziel kommen, könnten Sie dann Ihren Wählerinnen und Wählern eine Regierungsbeteiligung schmackhafter machen als dann, wenn die Linke nur Juniorpartnerin würde?
Wolter: Ich würde sagen, wir gehen mit unserem Programm in die Gespräche und gucken dann, ob wir zusammenkommen. Da geht es auch darum, ob man eine gemeinsame Idee dafür hat, wo diese Stadt hin soll. Und ob wir mutig genug sind, dafür auch die Weichen zu stellen. Bei öffentlich geht vor privat höre ich da unterschiedliche Stimmen.
taz: Hören Sie diese unterschiedlichen Stimmen auch, wenn Sie in Ihre Partei hineinhorchen? Ihre Mitgliederzahl ist um das Doppelte auf über 16.000 gewachsen. Die Linke ist nicht mehr die Partei, die wie in der Vergangenheit automatisch regierungspragmatisch ist. Haben Sie manchmal auch ein bisschen Angst vor der eigenen Partei, dass sie Ihnen einen Strich durch die Rechnung macht? Ein möglicher Koalitionsvertrag muss ja in einem Mitgliederentscheid abgesegnet werden.
Wolter: Das ist bei uns so, das finde ich auch absolut richtig. Ich habe seit Anfang des Jahres an so vielen Neumitgliedertreffen teilgenommen, dass ich eher erlebe, dass die Neumitglieder gar nicht so verbissen sind in der Frage regieren oder nicht regieren.
taz: Sondern?
Wolter: Sie sagen: Wenn wir regieren, haben wir einen hohen Anspruch, was wir dort umsetzen. Viele von denen sagen, dass es so nicht weiter gehen kann. Deswegen ist auch der Anspruch so hoch.
taz: Sie haben bereits angekündigt, den erfolgreichen Haustürwahlkampf der Bundestagswahl wiederholen zu wollen. Was glauben Sie brennt den Menschen neben Mieten und Infrastruktur unter den Nägeln?
Wolter: Bei den Haustürgesprächen, die wir auch nach der Bundestagswahl fortgesetzt haben, haben wir zu unserer Überraschung festgestellt, dass es da ein Thema gibt…
taz: …der Müll.
Wolter (lacht): Da mussten wir als Linke auch kurz überlegen. Aha. Was machen wir jetzt damit? Aber ja, klar: Müll ist nie nur Müll. Er zeigt, wie wir in dieser Stadt zusammenleben und wie Politik unser Zusammenleben gestaltet. Es geht um unsere Räume. Niemand lebt gerne im Dreck. Vor allem der Sperrmüll nervt viele.
taz: Und was haben Sie den Menschen an der Haustür gesagt?
Wolter: Wir fragen uns, warum es in Berlin anders als in vielen anderen Städten und Dörfern keine Sperrmülltage gibt.
taz: Weil Berlin eine Großstadt ist?
Wolter: Es gibt das auch in großen Städten. Auch in Berlin gab es das mal.
taz: Berlin ist in vielen Sachen Schlusslicht, nur da eben nicht. Außer bei Autoreifen sind die Recyclinghöfe der BSR weitgehend kostenfrei. In anderen Städten ist man da schnell sehr viel Geld los.
Wolter: Absolut. Aber offensichtlich reicht das mit dem Hinbringen können nicht aus. Ich will damit, wie auch bei der Mietenfrage, an einen Punkt kommen, dass Berlin sein Image als dysfunktionale Stadt ablegen kann.
taz: Warum hat die Linksfraktion dann nicht für die Einführung der Verpackungssteuer gestimmt?
Wolter: Ich finde die Idee einer Verpackungssteuer grundsätzlich richtig. Auch weil das Einnahmen sind, die von einer Kommune erhoben werden können und direkt wieder in mehr Mülleimer oder die bessere Bezahlung der Beschäftigten bei der BSR investiert werden können. Das Problem ist, dass es keinen Mechanismus gibt, der den Konsumenten schützt. Wenn die Preise wieder nur an die Konsumenten weitergegeben werden, trifft es halt die, die nicht so viel Geld haben.
taz: Vielleicht ist es auch ein Anreiz für die Konsumenten, das nächste Mal mit einem Re-Cup zu kommen.
Wolter: Das stimmt. Gut wäre es da aber, wenn es nicht so viele verschiedene Anbieter gäbe, sondern die Stadt sich auf einen konzentrieren könnte. Und Re-Cup muss günstiger sein als Einweg-Verpackung.
taz: Wie viel an linkem Populismus braucht es heute, um politisch erfolgreich zu sein?
Wolter: Es braucht eine Zuspitzung, weil die Leute selbst jeden Tag eine Zuspitzung erfahren. Wenn der Lohn nicht reicht, um die Mieten zu bezahlen oder der Bus mal wieder nicht fährt. Da seicht drüber hinwegzugehen und ein bisschen rumzupalavern, ist weit weg von dem, was die Berlinerinnen und Berliner wahrnehmen. Deswegen wird die Linke den Finger in die Wunde legen und sagen: Ja, wir wollen illegalen Vermietern an den Kragen. Ja, wir wollen einen bundesweiten Mietendeckel.
taz: Ist das auch ein Ansatz, die Wähler außerhalb des S-Bahn-Rings von der AfD zurückzugewinnen?
Wolter: Es ist die Aufgabe von allen, die gegen Rechts kämpfen, wirklich mal die Hebel umzustellen. Es geht dabei um Kosten, um soziale Infrastruktur, aber auch um Räume, wo man sich treffen und Spaß haben kann.
taz: Sie sind bei der Schwimmdemo auch in die Spree gesprungen.
Wolter: Ja, ich war auch in der Spree. Das war super, das Wasser war überraschend warm. Die Leute wollen ja nicht nur arbeiten und essen und schlafen.
taz: Allerdings birgt der linke Populismus die Gefahr, dass man Erwartungen weckt und Leute enttäuscht, wenn diese, wie beim Mietendeckel, nicht erfüllt werden.
Wolter: Ich finde immer noch, dass der Mietendeckel ein richtiger und mutiger Schritt war, den wir gegangen sind. Man kann auch mal mit einem Vorschlag scheitern. Aber es nicht zu versuchen, wäre falsch. Jetzt diskutieren wir über den Artikel 15 Grundgesetz. Da bieten sich noch viele Möglichkeiten.
taz: Bei der Bundestagswahl war die Linke sehr aktiv in den sozialen Medien. Werden Sie auch in Berlin einen Tiktok-Wahlkampf führen?
Wolter: Wir werden uns wie noch nie zuvor auf soziale Medien vorbereiten. Das wird ein wichtiger Teil unserer Wahlkampfstrategie. Nicht nur wegen der 16-Jährigen, die diesmal zum ersten Mal wählen dürfen. Auch, weil wir sehen, dass soziale Medien für viele Menschen der Ort sind, an dem sie ihre Informationen bekommen. Und wir freuen uns auf den Haustürwahlkampf, unsere Neumitglieder können es kaum abwarten.
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