Kaukasus-Experte über Putins Invasion: „Ein sehr unpopulärer Krieg“
Die Tschetschenien-Kriege zeigen Parallelen zu Putins Vorgehen in der Ukraine heute, sagt der Politologe Emil Aslan. Gleichwohl gebe es Unterschiede.
taz: Herr Aslan, Tschetschenien kämpfte einst für die Abnabelung von Russland, ähnlich der Ukraine heute. Wie reagierte die russische Politik damals?
Emil Aslan: Nach der Auflösung der Sowjetunion wählten die Tschetschenen separatistische Eliten und gründeten einen unabhängigen Staat. In den frühen 90er Jahren unterstützte das der russische Präsident Boris Jelzin. Diese Zeit nennt sich „Parade der Souveränitäten“. Zumindest rhetorisch war das ganz anders als unter Präsident Putin heute.
Letztlich versuchte Russland aber doch, diese Abspaltung zu verhindern.
Pawel Gratschow, der unter Jelzin Verteidigungsminister war, prophezeite damals, dass die russische Armee mit nur zwei Fallschirmjägerbrigaden innerhalb weniger Tage ganz Tschetschenien einnehmen würde. Es war ein sehr ähnlicher Plan wie der, den wir heute in der Ukraine sehen.
Doch er scheiterte.
Der erste Tschetschenien-Krieg war blutig und zermürbend. Die Tschetschenen gewannen, die Russen zogen ab. Der Krieg war sehr unpopulär in Russland, die russischen Medien berichteten ausführlich darüber. Tausende russische Soldaten starben, in Tschetschenien wurden ganze Städte und Dörfer zerstört.
Auch der Krieg in der Ukraine ist bei vielen Russen unpopulär: Sie protestieren, trotz der Gefahr, festgenommen zu werden.
In Jelzins Russland konnten sich die Menschen und die Medien noch frei äußern. Sie zeigten, was dort vor sich ging – die getöteten russischen Soldaten, die auf den Straßen der Dörfer Tschetscheniens lagen. Das hatte große Auswirkungen auf die öffentliche Meinung in Russland. Putin arbeitet seit etwa zwanzig Jahren daran, die freien Medien loszuwerden, lange bevor der Krieg in der Ukraine begann.
Dennoch begann wenig später der zweite Tschetschenien-Krieg.
Als Vorwand dienten die angeblich von tschetschenischen Terroristen begangenen Bombenanschläge auf Wohnhäuser, die dem heutigen Staatspräsidenten und damaligen Ministerpräsidenten Wladimir Putin zugeschrieben werden. Es gibt ein Buch darüber von Yuri Felshtinsky, einem ehemaligen KGB-Agenten. Damals galt das eher als Verschwörungstheorie als heute, wo wir wissen, wie Putin arbeitet. Der Krieg war noch blutiger als der erste: Die Zahl der Todesopfer unter den Tschetschenen belief sich auf etwa 100.000 Menschen, bei einer Bevölkerung von nur 1,3 Millionen Menschen.
forscht an der Karls-Universität Prag zu Konflikten und Radikalisierung, vor allem im Kaukasus und den Exsowjetstaaten.
Diesen Krieg hat Moskau gewonnen – wie?
Mithilfe tschetschenischer Stellvertreter – der Familie Kadyrow, deren Mitglied Ramsan heute Oberhaupt der russischen Teilrepublik Tschetschenien ist. Eine von Moskaus Methoden bestand darin, pro-russische paramilitärische Kräfte, die so genannten Kadyrowtsy, zu bilden. Diese Kadyrowtsy kannten die Identität der Aufständischen und nahmen deren Verwandte ins Visier. Durch diese Bedrohung kapitulierten viele oder liefen über. So wurden Blutfehden geschaffen, die Brücken zurück in ein friedliches Leben abgebrochen. Moskau tat das bewusst und wissentlich. Es gibt noch immer Familien, die darauf warten, dass sich Russland zurückzieht, um Ramsan Kadyrow, die Kadyrowtsy und ihre Familien auszulöschen. Er braucht den Schutz Putins.
Die Kadyrowtsy – sind das die gleichen Einheiten, die nun in die Ukraine geschickt wurden?
Ja, genau. Kadyrow will seine Position gegenüber Putin stärken, sich als sein treuester Anhänger zeigen. Bisher wurden Dutzende, wenn nicht Hunderte von ihnen durch ukrainische Kräfte getötet. Darüber gibt es ein absolutes Informationstabu. Kadyrow hat von nur zwei in der Ukraine getöteten Tschetschenen gesprochen. In Russland gibt es nur wenige Informationen zu im Ukraine-Krieg gefallenen Soldaten, in Tschetschenien ist es noch schlimmer.
Das sind also Putins Methoden: brutale Gewalt und die Bildung von Bündnissen mit lokalen Akteuren.
In der Ukraine hat er diese paramilitärischen Kräfte nicht nur genutzt, sondern sie selbst geschaffen. Es gab bis 2014 keine organisierte separatistische Bewegung in Donetsk und Luhansk. Nur wenige Menschen wollten sich wirklich von der Ukraine abspalten. Natürlich gab es Spannungen: Zum Beispiel sollte die ukrainische Sprache wieder stärker etabliert werden. Aber niemand wollte für die Verwendung der russischen Sprache töten.
In den Tschetschenien-Kriegen kämpfte die rechtsextreme ukrainische Paramilitärgruppe UNA-UNSO auf tschetschenischer Seite gegen Russland. Gibt es heute ähnliche Truppen in der Ukraine?
Schon im Konflikt 2014/15 im Donbass gab es ein Bataillon, in dem Tschetschenen gegen russische Separatisten kämpften. Viele Tschetschenen in den europäischen Diaspora-Gemeinschaften sagen: Wir sind den Ukrainern etwas schuldig, wir müssen ihnen helfen. Einige sind in den Kampf gezogen. Ich glaube, dass die auf ukrainischer Seite Kämpfenden loyaler und engagierter sind als die Kadyrowtsy. Die haben im Grunde keinen wirklichen, ideologischen Grund, dort zu sein.
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