Die Mitglieder der Gruppe Canoafolk üben ihre Performance in blauen T-Shirts aufdem Gehsteig, die Trainerin geht mit der Musikbox vorne weg

Die Mitglieder der Gruppe Canoafolk unterwegs mit ihrer Trainerin Rocío Klug-Correa Foto: Tina Eichner

Karneval der Kulturen:Der Tanz, der uns verbindet

Als antirassistischer Protest ins Leben gerufen, wird der Karneval der Kulturen heute als Party wahrgenommen. Was motiviert teilnehmende Gruppen?

Ein Artikel von

26.5.2023, 12:49  Uhr

Es ist ein kühler Vormittag im Mai, als die Gruppe „Canoa­folk“ den Arnswalder Platz in Prenzlauer Berg besetzt. „Canoafolk – Culturas Unidas por la Danza“ steht auf ihren blauen T-Shirts, sie üben für ihren Auftritt auf dem Berliner Karneval der Kulturen. Die Tanzenden stehen hintereinander, ihre Arme schwingen durch die Luft. Simultan drehen sie sich um die eigene Achse, die stampfenden Füße wirbeln den Sand auf. Es geht mehrere Schritte vorwärts, die Oberkörper nach vorn gebeugt, die Arme baumeln ­herunter. Eine Frau und ein Mann hüpfen vor den anderen umher, mit ausgestreckten Armen wirbeln sie vor der Gruppe herum.

Rocío Klug-Correa, die Gründerin und Leiterin der Gruppe, erklärt die Bedeutung des Tanzes: „Sie ist die Mutter Natur“ – Klug-Correa deutet mit ihrem Kinn auf die Frau. „Und er ist der geheilte Fluss.“ Der Tanz handelt vom Río Atrato, der durch Kolumbien fließt und Anfang Mai für Schlagzeilen sorgte, als das kolumbianische Verfassungsgericht ihn als als Subjekt anerkannte. „Und es gibt auch einen dritten, er ist der dreckige Fluss“, Klug-Correa lacht. „Aber der ist heute nicht da.“

Die Mitglieder der Gruppe Canoafolk stehen mit ihren Kostümen auf den Stufen des Denkmals am Arnswalder Platz

Die Gruppe Canoafolk trainiert für den Karneval der Kulturen am Arnswalder Platz in Berlin Foto: Tina Eichner

Klug-Correa hat sich sämtliche Choreografien selbst ausgedacht, auch die Kostüme hat sie selbst genäht. Auf Spanisch gibt sie den Takt vor, hier und da gibt sie Anweisungen. Die meisten aus der Gruppe sind Kolumbianer:innen, aber auch zwei Deutsche, die Spanisch sprechen, sind dabei. Klug-Correa selbst tanzt nicht mit, mit der Koordination hat sie genug zu tun. „Viele Menschen hier verbinden mit Kolumbien Drogen, Krieg und die Mafia“, erklärt sie. „Wir wollen auch die schöne Seite zeigen. Unsere Tänze, unsere Musik.“

Geraldine Hepp, Organisatorin

„Der Karneval ist aus dem Impuls entstanden, dass Menschen sagten, wir gehören hierhin, wir sind auch Teil von Deutschland“

Organisiert wird der Karneval der Kulturen von der Piranha Arts AG, einem Kulturveranstalter, der sein Büro in Berlin-Kreuzberg hat. In einer Büroecke hängt ein selbstgebasteler Piranha von der Decke. Auf dem Boden breitet sich ein gigantischer roter Teppich aus. Pflanzen und Puppen auf Kopfhöhe schmücken die Räume.

Kulturelle Intervention und antirassistische Bewegung

Karneval der Kulturen ist keine Massenparty“, sagt Geraldine Hepp, eine der beiden Leiterinnen des Karnevalbüros. Sie ärgert sich darüber, wie die Veranstaltung von einigen wahrgenommen wird. „Natürlich wird auch gefeiert. Aber er ist vor allem eine kulturelle Intervention, die in den 90er Jahren als antirassistische Bewegung und als Antwort auf fremdenfeindliche Ausschreitungen und Morde entsprungen ist.“ Der Karneval sei aus dem Impuls heraus entstanden, „dass Menschen sagten, wir gehören hier hin, wir sind auch Teil von Deutschland“.

Es ist Donnerstag, Christi Himmelfahrt und eigentlich ein Feiertag. Trotzdem sitzt Hepp gemeinsam mit ihrer Co-Chefin Aissatou Binger und zwei weiteren Kolleginnen im Büro. Da der Umzug drängt, nutzen die Veranstalterinnen jeden Tag, um Vorbereitungen zu treffen.

Binger und Hepp sind seit dem vergangenem Jahr dabei, zuvor hatte Nadja Mau 17 Jahre lang das Karnevalbüro geleitet. Doch nachdem der Karneval aufgrund der Pandemie zweimal abgesagt wurde, hörte Mau als Leiterin auf. Und auch die Zahl der Ehrenamtlichen hat sich verringert: Während vor vier Jahren noch 70 bis 80 Gruppen mitmachten, sind es dieses Jahr nur noch knapp 50.

Manche Vereine haben sich in den drei Jahren Pandemiepause aufgelöst, es gab allgemein weniger Bewerbungen, die finanzielle und politische Lage hält manche zurück. So spielte ein Künstler 2019 in der sogenannten Musiccorner russische Musik. Dieses Jahr sagte er von sich aus ab, angesichts der russischen Invasion in der Ukraine traue er sich nicht, aufzutreten.

Gruppen definieren Kulturbegriff auch anders

Auch sonst haben Binger und Hepp mit diversen Problemen zu kämpfen. Das Fest ist ein öffentlich gefördertes Projekt, doch dieses Jahr fallen die finanziellen Mittel knapper aus. Das Budget, eine Million Euro vom Senat sowie eine halbe Million Euro Einnahmen durch das Straßenfest, reichen nicht für die ursprünglich geplante Länge des Umzugs; um Kosten für das Sicherheitspersonal einzusparen, wurde die Strecke gekürzt.

Dennoch könnte der Publikumsandrang gleich bleiben oder gar höher liegen als in den Jahren vor der Pandemie. Binger und Hepp machen sich darum Sorgen um den Schutz der Teilnehmenden. Und dann gibt es noch das Image des Karnevals, das sie gerne zurechtrücken wollen.

„Am Anfang ging es um die Anerkennung von unterschiedlichen Kulturen, häufig auch auf die Herkunft bezogen“, sagt Binger. „28 Jahre später sprechen wir von einer postmigrantischen Gesellschaft, die den Kulturbegriff auch ganz anders definiert. Sie wollen das, was sie praktizieren, in Form von Kunst auf die Straße bringen. Das muss dann gar nicht mehr herkunftsbezogen sein. Das sind dann Gruppen, die aus unterschiedlichen Begegnungen etwas Neues kreieren.“

In erster Linie dabei, weil es Spaß macht

Zu Letzteren gehört das kolumbianische Canoafolk, aber auch die Grupo Chile Berlin, bei der Felix Perder mitmacht. Sechs Mitglieder sind bereits am Proben, als Perder fast 40 Minuten zu spät angehetzt kommt. Ein Mitglied namens Claudio Rivera gibt auf Spanisch die Schritte an, die anderen folgen ihm. Der Probenraum ist eng, es gibt nicht viel Platz zum Tanzen, aber für die sieben Leute, die sich am Freitagabend zum Üben versammelt haben, reicht er aus.

„Es gibt auch Gruppen, die ganz explizite politische Botschaften haben. Wir hingegen drücken sie durch unsere Performance aus“, erklärt Perder. „Ich bin in erster Linie dabei, weil wir eine tolle Freundesgruppe sind und das mit den Leuten super klappt.“

Die Grupo Chile studiert ihre Schritte ein, in einem hellen Raum, am Fenster sind weiße Gardinen angebracht

Die Grupo Chile probt ihre Tanzschritte zu einem Stück aus dem Süden Chiles Foto: Tina Eichner

Auf die Frage, ob sie Rassismus oder Diskriminierung erlebt hätten, antworten die Gefragten aus der Grupo Chile Berlin, das sie nicht so. Vielmehr ist es der Spaß an der Aufführung, der sie zum Mitmachen motiviere.

Zuerst probt die Gruppe ohne Musik, Rivera gibt dafür den Rhythmus vor. Irgendwann schalten sie eine Volksmusik dazu, zu der sie schnelle Trippelschritte tanzen. Mit Blick auf die Mitglieder erklärt Perder, dass Grupo Chile Berlin jahrelang vor allem Cueca getanzt hätte, einen chilenischen Paar- und Nationaltanz. Im diesjährigen Karneval widmet sich die Gruppe allerdings einem Volkstanz aus Chiloé, einer Insel im Süden Chiles. Sie seien auf die Idee gekommen, nachdem sie Chiloé besucht und dort die Schritte beigebracht bekommen haben, sagt Perder. Deswegen sind die Schritte noch neu.

Geweint, weil zum ersten Mal richtig repräsentiert

„Es gibt innerhalb Chiles ein Bild von den Chiloten, also den Bewohnern von Chiloé, dass sie weitab vom Schuss leben“, erklärt Perder. „Die Kleidung von Chiloé wird in Zentralchile überspitzt präsentiert, mit dicken Wollsocken und Mützen. Als wir mit Chiloten gesprochen haben, haben wir gemerkt, dass sie sich klischeehaft dargestellt fühlen und in solchen Outfits nicht ihre Tänze tanzen.“ Es sei der Gruppe daher wichtig, dass sich niemand aus der Region auf den Schlips getreten fühlt.

Deshalb fragte Grupo Chile Berlin Bekannte aus Südchile um Rat, man sah sich Videoaufnahmen zu den Tänzen und Kostümen an und hielt Rücksprache. Im vergangenen Jahr traten sie mit ihrer Aufführung auf einer Veranstaltung in Nürnberg auf. „Eine Frau im Publikum hat uns gesehen und geweint“, sagt Perder und lächelt. „Sie kam von Chiloé und hatte noch nie gesehen, dass der Süden von Chile so dargestellt wird, wie wir ihn gezeigt haben. Sie war total gerührt, war glücklich, nicht nur, weil wir es gezeigt haben, sondern weil das alles nicht so überzogen dargestellt wurde.“

Hände die sich ineineander verschränken, die lächelnde Tänzerin ist nur unscharf zu erkennen

Es kommt auch auf die richtige Handhaltung an Foto: Tina Eichner

Dass Perder als Deutscher mittanzt, stört die Gruppe nicht. „All of us love Felix“, sagt Rivera, der die Choreografie anführt. Perder kümmere sich um Verwaltungsaufgaben, um den Chi­le­n:in­nen die Kreativität zu überlassen. „Anfangs hatte ich gedacht, die Chilenen könnten sauer sein, wenn man ‚ihre‘ Cueca nicht perfekt tanzt“, erklärt Perder. Diese Kritik habe er aber nie zu hören bekommen: „Die Leute finden das toll, dass ich auch als Deutscher Cueca tanze. Sie sehen, ich habe es geübt und gebe mir Mühe.“

Über Straßen hinweg tanzen

Zurück in Prenzlauer Berg, geht die kolumbianische Gruppe Canoafolk runter vom Arnswalder Platz. Der sandige Boden sei nicht ideal zum Üben, erklärt ein Mitglied. Stattdessen läuft die Gruppe hundert Meter weiter, auf den Fußgängerweg, und schaltet die Musik wieder an. Mit langsamen Vorwärtsschritten überquert Canoa­folk die Straße vor dem Park, Fuß­gän­ge­r:in­nen und Fahrradfahrende verlangsamen ihren Gang, manche bleiben stehen und schauen gebannt zu.

Da sich die Gruppe nach vorne bewegt – ganz wie der Fluss, der nicht auf der Stelle stehen bleibt – muss ein Mitglied einen Lautsprecher auf dem Arm mit sich herumtragen, wie eine gigantische Einkaufstüte. Aus der Box tönt elektronische Musik, kombiniert mit Trommeln.

Ein Blick auf die Playlist verrät: Das eine Stück stammt von einem elektronischen Künstler, das andere von einer Gruppe, die afro-indigene Musik aus Belize und Honduras macht. Den Tanz hat Rocío Klug-Correa an einen Volkstanz angelehnt, der speziell an der pazifischen Küste Kolumbiens praktiziert wird. „Wir tanzen auch viel Salsa“, erklärt sie. „Aber eben nicht nur das.“

Indien im Herzen

Doch auch die Gruppen, die auf den ersten Blick ganz klassisch eine Kultur repräsentieren, sind nicht so homogen, wie sie vielleicht scheinen. Die Gruppe „Berlin Indiawaale“ besteht aus etwa 70 Frauen, Kindern und Männern, die bei ihren Auftritten bunte, „klassisch indische“ Kostüme tragen, die Frauen und Mädchen haben einen Bindi, einen aufgemalten roten Punkt, zwischen die Augenbrauen geschminkt, wie es bei Hindu-Frauen üblich ist.

Zehn von ihnen erscheinen am Montag bei der Vorab-Pressekonferenz des Karnevals, und dabei sind auch ein paar deutsche Frauen, sie sind nicht kostümiert und geschminkt, und stechen – auch mit ihrem blassen Teint – ein wenig aus der Gruppe aus. Was machen sie bei einer indischen Gruppe?

Wir lieben Indien“, erklärt Anja Arif, die mit einem Inder verheiratet war, inzwischen aber verwitwet ist. Diese Liebe solle auch der Name der Gruppe ausdrücken, Indiawaale bedeute so viel wie „Indien im Herzen“, erklärt sie.

Abhimnaya, Berlin Indiawaale

„Wir sind in Gruppen unterteilt, die Teile Indiens repräsentieren“

Seit 2014 ist Berlin Indiawaale beim Karneval dabei, 2019 haben sie den Preis für die beste Choreografie und den besten Tanz gewonnen – sie sind also Titelverteidiger. Was die Gruppe beim Karneval vorstellt, ist – den Kostümen entsprechend – „klassisch indisch“, könnte man sagen. „Wir sind in Gruppen unterteilt, die verschiedene Teile Indiens repräsentieren und unterschiedliche Tänze aufführt“, erklärt Abhimnaya, eine junge Frau. Getanzt wird dieses Jahr unter anderem Bhangra, ein Tanz aus Punjab, dann Garba, ein Tanz aus der Region Gujarat – und natürlich gibt es einen Tanz im Stil „Bollywood“.

Dass mit solchen Darstellungen – wie überhaupt mit dem Karneval – vor allem Klischees transportiert werden, findet Tara, eine weitere deutsche Indienliebhaberin, überhaupt nicht. „Alle Menschen haben ihre Freude und ihre Ausdrucksweise über Tanz, über Musik, über Kultur“, sagt sie. „Und beim Karneval stellen alle Gruppen – ausgenommen vielleicht die politischen Gruppen – ihre Kultur durch Tanz, durch Musik da – das ist was, was universell verbindet.“

Mitarbeit: Susanne Mermarnia

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.