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Kapitalismuskritisches SchulmaterialAttac erklärt Marktwirtschaft

Viele Wirtschaftsverbände verteilen Schulmaterial. Kritik am Wirtschaftssystem findet sich darin nicht. Deshalb bringt Attac nun eigene Unterlagen heraus.

Mit ein bisschen Phantasie sehen Sie hier eine Hochhausspitze. Achja: Auch Banken bieten Unterrichtsmaterialien an Foto: Kelly Sikkema/Unsplash

Stell dir vor, du hast drei Gummibärchen. Jeden Monat musst du mindestens zwei Gummibärchen konsumieren (so wie man im richtigen Leben Essen, Miete und Kleidung bezahlen muss). Für deinen Lebensunterhalt musst du arbeiten. Dein Chef hat 20 Gummibärchen und zahlt dir vier Gummibärchen pro Monat. Agiere möglichst geschickt, um viel von den Bärchen zu haben. Zum Beispiel, indem du um dein Gehalt verhandelst, einen Streik organisierst oder sparst.

Die Gummibärchen-Aufgabe stammt aus dem Bildungsmaterial „Kapitalismus – oder was?“ und soll Schüler*innen der fünften bis zehnten Klasse an die Funktionsweisen der Marktwirtschaft heranführen. Entwickelt hat sie das globalisierungs- und kapitalismuskritische Netzwerk Attac. Ähnlich, wie die Marktwirtschaft anhand von Gummibärchen erläutert wird, werden Themen wie der „Homo oeconomicus“, die Privatisierung von Krankenhäusern oder die Solidarische Landwirtschaft spielerisch behandelt. Seit Ende letzten Jahres stehen die Unterlagen auf der Seite www.attac.de/bima kostenlos zum Download bereit. Im Herbst sollen Lehrer*innen dort auch Material zum Thema zehn Jahre Finanzkrise finden.

Kostenlos zur Verfügung gestellte Schulmaterialien gibt es im Internet zuhauf. Vor allem Firmen aus der Metall- und Elektronikindustrie, den Bereichen Energie und Umwelt oder auch Banken bieten Unterrichtsmaterialien an. 2013 zählten Augsburger Wissenschaftler 17.000 Angebote von Unternehmen. Eine aktuelle Studie legt nahe, dass jedes sechste der untersuchten Unternehmen Materialien bereitstellt. Firmen und Verlage begründen ihr Engagement damit, dass das unternehmerische Denken der Schüler*innen gefördert werden soll. Denn ökonomisch denkende Bürger*innen, so die Argumentationslinie von Lobbyist*innen, sorgen für einen stabilen Wirtschaftsstandort Deutschland.

Anders als bei Schulbüchern gibtes keine staatliche Zulassung

Das klingt zwar logisch, birgt aber zwei Problematiken. Zum einen nutzen Unternehmen Schulmaterialien, um sich zu vermarkten oder gar werblich Produkte zu platzieren. Das ist laut Schulgesetz zwar verboten – es gibt aber anders als bei den Materialien offizieller Schulbuchverlage keine staatliche Zulassung. Die Prüfung liegt bei den Lehrenden. Das ist an sich schon ein Problem, sagt Bildungsforscherin Eva Matthes von der Universität Augsburg. Hinzu komme aber noch, dass in vielen Online-Materialien ein konsumorientiertes Weltbild vermittelt werde. Matthes’ Urteil: „Es geht darum, den Einzelnen zum Konsumenten zu erziehen, und zwar am besten in Bezug auf die Produkte, die das Unternehmen anbietet.“

Holger Oppenhäuser teilt diese Einschätzung. Er ist einer der Autor*innen der Attac-Bildungsmaterialien. Schon kurz nach der Gründung von Attac hat der Verein Unterrichtsmaterialien zur Verfügung gestellt. Seit 2015 gibt es eine neue, ehrenamtliche Arbeitsgruppe, bestehend aus aktiven und pensionierten Lehrer*innen, einem Professor für Fachdidaktik, sowie Personen aus der gewerkschaftlichen oder außerschulischen Bildungsarbeit. „Attac versteht sich als Bildungsbewegung“, sagt er. „Wir nehmen wahr, dass da immer mehr Material von unternehmerischen Interessengruppen in die Schulen kommt und mehr oder ­minder subtil auch deren neoklassisches beziehungsweise neoliberales Weltbild transportiert. Da hat Attac gesagt, dem setzen wir was entgegen.“

Transparenzkodex eingehalten

Was die Attac-Materialien von vielen Publikationen unterscheidet, wo sich der Konzern hinter einer Stiftung versteckt: Es ist deutlich erkennbar, wer der Urheber ist – und welche Interessen dahinter stecken. Der Verein Media Smart, der nach eigenen Angaben die Medienkompetenz von Kindern fördern will, nennt zwar seine Mitglieder wie Ferrero, Lego und Matell. Welches Interesse diese als werbetreibende Firmen an den Schulmaterialien haben, legen sie aber nicht offen.

Bei den Attac-Unterlagen hingegen heißt es: „Als Teil der internationalen globalisierungskritischen Bewegung entstand Attac als Gegenbewegung zur gesellschaftlichen Vorherrschaft des sogenannten Neoliberalismus. Dies impliziert die Kritik am neoklassischen Paradigma […].“ Das offenzulegen entspricht dem Transparenzkodex der Deutschen Vereinigung für politische Bildung, den es seit 2014 gibt. Er „fordert die Kultusministerien auf, eine transparente Kennzeichnung von Unterrichtsmaterialien durchzusetzen. Zukünftig sollen alle in Schulen genutzten Ma­terialien Angaben über Produzenten, Finanziers und unterstützende Organisationen enthalten“, heißt es auf der Internetseite der Vereinigung.

Zu dieser Transparenz gehört auch der Umgang mit der Neutralität. „Vor diesem Hintergrund ist auch das Bildungsmaterial von Attac nicht neutral“, steht dazu in jener Einleitung. Auch wirtschaftsnahe Institutionen wie die Initiative Wirtschaft und Schule (IWS), die zum Institut der deutschen Wirtschaft Köln gehören, beziehen sich auf Neutralität: „Die Materialien sind rein faktenbasiert und nur beschreibend“, sagt der Ansprechpartner für das Portal Wirtschaft und Schule, Carsten Ruge. „Die Rückmeldungen der Lehrer zeigen, dass sie unsere Materialien häufig als Grundlage für ihre Unterrichtsgestaltung nutzen, doch nie eins zu eins verwenden.“

Froh über gutes Material

Wissenschaftlerin Matthes kommt zu einer anderen Auffassung. Sie hat in zwei Forschungsprojekten kostenlose Online-Lernmaterialien von Unternehmen oder unternehmensnahen Stiftungen untersucht. Sie resümiert: „Viele der Unterlagen geben sich den Anstrich, neutral zu sein, und betonen, dass sie mit Pädagoginnen und Pädagogen zusammenarbeiten würden. Doch neutral sind sie nicht.“

Warum aber sind die externen Materialien so beliebt? Die Online Angebote sind meist deutlich aktueller als die offiziellen Schulbücher. Und: Viele Lehrer*innen sind Quereinsteiger*innen, also fachfremd. Und somit froh über gutes Material. Doch was „gut“ ist, ist beim Thema Wirtschaft umstritten. Als sich Baden-Württemberg entschloss, ein eigenes Fach „Wirtschaft“ einzuführen, kritisierten Bildungsexperten und Gewerkschaften den unternehmensfreundlichen Lehrplan.

Geht es um politische Bildung, müssen Schulmaterialien bestimmte Standards erfüllen. Der Beutelsbacher Konsens von 1976 stellt drei Kriterien auf: das Indoktrinationsverbot, die Schülerorientierung und das Kontroversitätsgebot. Auf diese Prinzipien berufen sich auch unternehmensnahe Stiftungen: „Im Stundenablauf ist immer auch Zeit eingeplant, in der die Jugendlichen unterschiedliche Argumente bewerten und sich eine eigene Meinung bilden können“, heißt es etwa auf der Homepage der Initiative Wirtschaft und Schule.

Interessenskonflikte aufzeigen

Für Attac bedeutet die Umsetzung des Beutelsbacher Konsenses etwas anderes. „Kontroversität kann nicht einfach heißen, ich lasse einen Neoliberalen gegen einen der letzten Keynesianer diskutieren, und damit war ich dann kontrovers“, meint Oppenhäuser von Attac. „Sondern: Welche gesellschaftlichen Interessen sind im Spiel, was für ökonomische Theorien gibt es noch, was sagt feministische Ökonomie, was sagen die Neomarxisten und so weiter.“

In den Attac-Unterlagen geht es deswegen vor allem darum, Interessenskonflikte aufzuzeigen. Ist jede Person ein „Homo oeconomicus“, also ein Mensch, der auf seine wirtschaftliche Maximierung bedacht ist? Was passiert bei der Privatisierung von Krankenhäusern? Wieso überhaupt Dinge besitzen, statt sie zu teilen? Fragestellungen wie diese sollen die Schüler*innen erarbeiten. Wie eben in dem Gummibärchen-Spiel, in dem jede*r der Teilnehmenden möglichst viel naschen will – oder eben nicht.

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12 Kommentare

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  • Hab mir gerade die Unterlagen zu TTIP durchgelesen - nett und zahnlos. Es ist schon paradox, dass es eines Trumps bedurfte, um TTIP (zumindest vorläufig) zu stoppen.

  • 7G
    75064 (Profil gelöscht)

    Es ist schon interessant zu lesen, wie sich bei solchen Themen unverzüglich jemand findet, der eine Organisation, die eine andere Weltsicht als die des heute vorherrschenden globalisierungsfreundlichen Neoliberalismus hat, als verblendet diffamiert. Dabei wird es nicht für nötig gehalten sich die Mühe zu machen auf die im Artikel durchaus differenziert aufgezeigten Interessenskonflikte der einen wie der anderen Seite inhaltlich einzugehen.

  • „Vor allem Firmen aus der Metall- und Elektronikindustrie, den Bereichen Energie und Umwelt oder auch Banken bieten Unterrichtsmaterialien an“

     

    Und darin sehe ich mehr Vorteile als Nachteile. Denn zum Ende der Schulzeit werden die Weichen zur künftigen beruflichen Laufbahn gestellt. Was ist also in diesem Zusammenhang gegen Entscheidungshilfen aus erster Hand einzuwenden? Leider wurde dieses Argument im Beitrag „vergessen“.

     

    Und welche beruflichen Entscheidungshilfen hätte Attac zu bieten? „Berufsrevolutionär“ und „Demo-Teilnehmer“ sind keine Berufe, von denen man leben kann und mit denen man Rentenansprüche erwirbt!

    • @Pfanni:

      "„Berufsrevolutionär“ und „Demo-Teilnehmer“ sind keine Berufe, von denen man leben kann und mit denen man Rentenansprüche erwirbt!"

      Genau da liegt doch das Problem. Sie erfreuen sich daran, dass die Materialien der ...-Industrie optimal auf ein Leben im bestehenden System vorbereiten.

      Darüber, dass dieses System kein Naturgesetz sondern veränderbar ist, wird eben nicht "informiert".

      Warum verdient man in diesem System viel Geld als kapitalvernichtender Investmentbanker, kann aber von Tätigkeiten, die ich persönlich für sinnvoller halte, seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten? Und muss das so sein?

  • Oh je, jetzt soll schon den Schülern die verblendete Attac-Weltsicht infiltriert werden? Nicht im Unterricht meines Sohnes. Er soll auf das Leben vorbereitet werden und nicht in spinnerten Ideen versinken.

    • @Sven :

      Und dieses Leben steht in Ihren Augen bereits jetzt fest? Ein Leben als braver Konsument, geschmeidiger Arbeitnehmer oder demütiger Arbeitsloser, frei von "spinnerten" Ideen davon, wie ein Leben anders sein könnte?

      Sehr traurig.

    • @Sven :

      Ah, ein Helikopter-Elternteil, der lieber die Schule kritisiert als sich selber mit seinem Kind auseinanderzusetzen, dass es Manipulationen erkennen könnte.

       

      Überlassen Sie weiter alles der Schule, auch das Beibringen von Kritikfähigkeit, als Elternteil haben Sie ja offenbar ein Recht darauf, dass Sie Ihrem Blag nix mehr beibringen müssen.Beschweren Sie sich lieber nur bei der Schule, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, wahrscheinlich im wahrsten Sinne des Wortes.

      • @Age Krüger:

        Age Kruger, wie kommen Sie denn auf solch einen Unsinn?

    • @Sven :

      So isset und die Bundeswehr "spendet" dann das Schulmaterial für den Sportunterricht. Vielen dank.

  • Wenn irgendjemand auf seine Neutralität pocht ohne zu sagen wo er herkommt - und dann noch in den Wirtschafts"wissenschaften" - sollte man ihn sowieso sofort auf die nächste Esoterik-Messe schicken. Damit er lernen kann: Die meisten Leute dort sind ehrlicher, was die Quelle ihrer Wahrheit betrifft.

  • Beim Durcharbeiten der Unterlage von Attac fällt auf, dass das die spielerische Herangehensweise gut aufgebaut ist (obwohl bedauerlicherweise die Grundlagen der Marktwirtschaft mit den Grundlagen der Arbeitsmigration vermischt werden während gleichzeitig die Frage der Herkunft von Sozialmitteln ungeklärt bleibt; das Amt hat offensichtlich immer Geld).

     

    Problematisch sind die Erläuterungen zum Spiel. Hier wird die Soziale Marktwirtschaft als Mythos bezeichnet. Die Soziale Marktwirtschaft war demnach vor allem neben einer Lobbyarbeit nur deshalb eine Erfolg, weil es kriegesfolgebedingt in den 50er und 60er Jahren international eine hohen Bedarf und eine hohe Nachfrage gegeben habe.

     

    Auf die Planwirtschaft in der DDR und deren Misserfolge im gleichen Zeitraum wird dagegen nicht eingegangen. Vor allem der "Blick über die Mauer" hat den Menschen jedoch damals das Gefühl gegeben, alles richtig gemacht zu haben.

     

    Um zum Spiel zurück zu kommen: (Fast) Alle gewinnen demnach, wenn alle zusammen (Unternehmer, Arbeitnehmer und Arbeitsmigranten) das Amt überreden, monatlich jedem 4 Gummibärchen auszuzahlen. Das nennt sich auf neudeutsch dann solidarisches Grundeinkommen. Nur Schiffe werden dann halt keine mehr produziert.

  • Eines ist für mich sicher, lieber attac als IWF, äh, IWS.