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KapitalismuskritikKlasse gegen Egoismus

Der Kabarettist Jean-Philippe Kindler plädiert in „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“ für eine radikale Repolitisierung.

Mit Farbe gegen den Kapitalismus Foto: imago

Auch auf dem Feld der Kapitalismuskritik könnte irgendwann einmal alles gesagt sein. Nur könnte es noch nicht bei allen angekommen sein. Dazu ist es auch immer wieder nötig, das Gesagte zusammenzutragen und für ein breites, gerne auch junges Publikum ansprechend zu verpacken. Eben das unternimmt der Kabarettist Jean-Philippe Kindler in seinem Buch „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“.

Im Zentrum steht für ihn die Beobachtung, dass im gegenwärtigen Kapitalismus auch viele Linke der neoliberalen Ideologie auf den Leim gehen, indem sie eine vorwiegend kulturell orientierte, individualistische Form von Identitätspolitik über eine ökonomisch ausgerichtete Klassenpolitik stellen.

Das Buch

Jean-Philippe Kindler: „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023, 138 Seiten, 12 Euro

In diesem insbesondere auf Social-Media-Profilen zu beobachtenden Fokus auf „Selflove“ und Antidiskriminierungskosmetik liege eine folgenreiche Entpolitisierung, die kapitalistische Ausbeutung nicht abzuschaffen, sondern allenfalls etwas diverser zu gestalten vermöge. Ausbeutung sei aber „keine Diskriminierungserfahrung wie jede andere auch“, schreibt Kindler, „sondern die materielle Grundlage für verschiedene Formen der Diskriminierung“.

Privatisierung der Politik

Dabei will Kindler aber keineswegs die Identitätspolitik pauschal abwerten. Es geht ihm darum, ihre Stärken bei der Formierung einer kollektiven Interessenvertretung von der kulturellen hin zur ­ökonomischen, gewisser­maßen also zur Herausbildung einer neuen Klassenidentität – oder wie Marx es nannte, eines „Klassen­bewusstseins“ – der Ausgebeuteten zu verschieben. Dazu möchte Kindler der Privatisierung der Politik und des restlichen Lebens eine radikale „Repolitisierung“ entgegensetzen.

Kindler bietet hier keine ganz neue Kapitalismuskritik, aber doch eine neue Form der ­Ansprache

So etwa bei den Themen Armut und Glück. Das von den Soziologen Eva Illouz und Edgar Cabanas so genannte „Glücksdiktat“ habe in neoliberalen Gesellschaften dazu geführt, dass ein permanenter Zwang zur Selbstzufriedenheit nicht nur die kapitalistische Ausbeutung am Laufen halte, sondern auch noch den Einzelnen die alleinige Verantwortung aufbürde, an den materiellen und psychischen Folgen nicht zu zerbrechen.

Während also am unteren Ende der kapitalistischen Nahrungskette Menschen infolge eines regressiv unterfinanzierten Gesundheitssystems sich immer häufiger sogar das Leben nehmen und selbst minimale Erhöhungen der Grundsicherung im politisch-medialen Mainstream als leistungslose Faulheitsprämie verteufelt werden, sind in den vergangenen zehn Jahren tatsächlich „leistungslos“ drei Bil­lio­nen Euro Gewinn zu deutschen Vermietern geflossen und wird allein bis 2024 noch einmal dieselbe Summe ebenso „leistungslos“ vererbt werden.

Eine Repolitisierung solcher Verhältnisse würde bedeuten, sie nicht als „natürlich“, sondern als politisch geschaffen zu betrachten – und zu bekämpfen. Doch dazu müsste die Linke der neoliberalen Strategie der Vereinzelung konsequente „Gemeinsamkeitsangebote“ entgegenstellen.

Grabenkämpfe versus Klassenkampf

Sie müsste in „Versöhnung materialistischer und identitätspolitischer Kritik“ eine breite gesellschaftliche Verbündung auch mit denen schaffen, „die einem vielleicht nicht jeden Dienstag im Judith-Butler-Seminar begegnen oder das Geld haben, sich im Coworking Space den großen Hafermilch-Cappuccino für fünf Euro zu leisten. Andernfalls bleiben wir eine Hipster-Linke mit sozialdemokratischem Anstrich“, die sich lieber in interne Grabenkämpfe als in einen gesamtgesellschaftlichen Klassenkampf begibt.

Kindler bietet hier freilich keine ganz „neue Kapitalismuskritik“, wie der Untertitel es verspricht, aber doch eine neue Form der ­Ansprache, die der 1996 geborene Autor mit der pointierten Eklektik des Satirikers ins Werk setzt. Auch wenn er in Buch- wie Hörbuch­fassung manchmal etwas gestelzt formuliert, bringt er dennoch einen bemerkenswerten politischen wie performativen Furor zur Geltung.

Er liefert damit weniger eine konkrete Anleitung als eine aufklärerische Anregung zum politischen Aktivismus, die dem Umstand Rechnung trägt, „dass die meisten Linken den Kapitalismus, den sie ja alle brav ablehnen, überhaupt gar nicht mehr zu verstehen versuchen“.

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3 Kommentare

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  • Währen in DE die Sozialquote objektiv stetig steigt, macht de Kapitalsmskritik einen immer stärkeren Abbau der der Sozialleistungen aus.

    Woher kommt diese verkehrte Wahrnehmung? Entstehen solche Sichten in sozialen Blasen? Die Linke muss sich wie Marx wieder einen wissenschaftlichen Blick auf die Welt aneignen.

  • Es ist ja auch überhaupt nicht möglich hier „eine konkrete Anleitung“ zu liefern. Der Ansatzpunkt kann aber auch nicht wieder im Aktivismus gesucht werden, das zeigt die völlig zutreffende Diagnose, dass „die meisten Linken“ – und es ist wirklich der Großteil der sogenannten Linken – gar nicht mehr versucht den Kapitalismus zu verstehen. Zunächst einmal besteht damit ein Theoriedefizit.



    Ansonsten trifft die Kritik natürlich einen Punkt. Interessant wäre aber gewesen zu erfahren wie sich Kindler das mit den vermeintlichen Stärken der Identitätspolitik „bei der Formierung einer kollektiven Interessenvertretung von der kulturellen hin zur ¬ökonomischen“, also der Herausbildung von Klassenbewusstsein, genau vorstellt. Denn mehr als das berechtigte Emanzipationsinteresse marginalisierter Gruppen und die Mobilisierungsfähigkeit ist da nicht. Die Identitätspolitik basiert auf bestimmten Theorien, die sich nicht einfach mit der Kapitaltheorie Marxens verquicken lassen, sondern Gegenstand der Kritik sein müssen.



    Zugleich handelt es sich um mehr als nur um ein Theoriedefizit, denn diese Formen der Politik erfüllen eine bestimmte psychologische Funktion, sie sind Ausdruck der Bedürfnisstruktur eines spezifischen Sozialcharakters. Sieht man sich die Theorien, die der Identitätspolitik zugrunde liegen, einmal genau an, dann wird man feststellen, dass sie mit der theoretischen Grundlage der kritischen Theorien brechen, und dass viele - auch wenn sie an ein berechtigtes emanzipatorisches Interesse anknüpfen - ihrer Grundstruktur nach sogar konservativ sind. Dass sich solche Theorien durchsetzen, ist Kennzeichen der subjektiven Verrohung auf einem bestimmten Stand der gesellschaftlichen Entwicklung und Ausdruck des Umstands, dass wir weiter denn je von der Ausbildung einer „Klasse für sich“ entfernt sind.

  • Wir können ja mal eine change.org Kampagne dafür machen.