Kanzler Scholz besucht Joe Biden: Die Chance des Zögerers
Olaf Scholz' Besuch bei Biden wäre eine Gelegenheit für klare Worte in der Ukrainekrise. Auch der Gastgeber braucht einen starken Auftritt.
O laf Scholz' Antrittsbesuch in Washington steht unter denkbar schlechten Vorzeichen. Im Kreis der Verbündeten ist die Enttäuschung groß darüber, dass der deutsche Bundeskanzler in der Ukrainefrage auf Zeit spielt. Das geflügelte Wort „Wo ist Olaf Scholz“ hat es in die Kommentare des seriösen Teils der US-Medienlandschaft geschafft, die Erwartungen in den USA an den Antrittsbesuch des Sozialdemokraten sind mit „gering“ noch euphemistisch umschrieben.
Ihm gegenübersitzen wird ein US-Präsident, dessen Regierungsführung rund ein Jahr nach Amtsantritt vor allem durch mangelnde politische Durchsetzungskraft geprägt ist, der sowohl innen- als auch außenpolitisch taumelt. Desaströse Umfragewerte begleiten Bidens überschaubare Erfolge. Und selbst wohlmeinende Demokraten zuckten zusammen, als ihr Präsident öffentlich in Aussicht stellte, dass ein „geringfügiger Einmarsch“ Russlands in die Ukraine „möglicherweise keine starke internationale Reaktion“ nach sich zöge.
Auch wenn Außenminister Antony Blinken umgehend versuchte, den durch seinen Chef verursachten Schaden zu begrenzen und pflichtschuldig betonte, dass die USA eine jedwede Invasion nicht duldeten, lieferte Biden wieder einmal Futter für Hohn und Spott. Nun also kommt es mit einiger Verzögerung zum Gipfeltreffen der Zögerer und Zauderer: Zwei sowohl im Inland als auch auf dem diplomatischen Parkett angezählte Männer wollen irgendwie in die Offensive.
Klare Kante zeigen
Scholz muss daran gelegen sein, dass seine Visite an der Pennsylvania Avenue nicht zum bilateralen Beiwerk der parallel stattfindenden Tagung des EU-USA-Energierats verkommt. Zu sehr hat der Kanzler zuletzt die Dinge schleifen lassen und willfährig mitangesehen, wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die exklusive Meinungsführerschaft der EU für sich reklamierte.
Obwohl Scholz' Antrittsbesuch als deutscher Regierungschef in der Medienlandschaft der USA kaum über den Status einer Randnotiz herauskommt, bietet sich für den Kanzler doch eine besondere Gelegenheit: Die Gespräche mit Joe Biden kann, nein muss der Sozialdemokrat nutzen, um endlich klare Kante zu zeigen.
Um öffentlich eine rote Linie zu ziehen und ohne rhetorische Umschweife Konsequenzen zu benennen: Setzt Russland auch nur eine Stiefelspitze in die Ukraine, dann kann und darf es eine Inbetriebnahme der Ostsee-Pipeline Nordstream 2 nicht geben. Die staatsmännische Zurückhaltung und Gelassenheit, die Scholz im Wahlkampf ins Kanzleramt gespült hat, hat ausgedient. Der Kanzler hat Führung versprochen, nun muss er auch liefern.
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