Justiz in der Ukraine: Drei Jahre auf Bewährung
Der linke Gewerkschaftler Andrej Ischtschenko wird von einem Gericht in Odessa verurteilt. Er soll die innere Sicherheit der Ukraine gefährdet haben.
„Insgesamt sind wir mit dem Urteil zufrieden. Wir denken, das ist ein gerechtes Urteil. Unsererseits gibt es keine Einwände“ sagte Ischtschenkos Anwalt Wolodymyr Sytnik der taz. Ischtschenko habe Materialien mit Aufrufen zum Sturz der ukrainischen Regierung und zur Machtergreifung verbreitet. Damit habe er die innere Sicherheit der Ukraine und den Schutz der verfassungsmässigen Ordnung gefährdet. So heißt es in der Urteilsbegründung, die erst seit wenigen Tagen schriftlich vorliegt.
Dem Aktivisten, der seit 17. Oktober 2024 in Untersuchungshaft in Odessa einsaß, waren drei Posts auf Facebook und Telegram zum Verhängnis geworden. „Steh auf, du großes Land im tödlichen Kampf gegen die dunkle faschistischen Macht und die grüne Horde“, zitiert das Urteil einen Post von Ischtschenko auf Facebook. Da Selenskyj sich als „der Grüne“ übersetzen lässt, ist klar, wer mit „grüner Horde“ gemeint ist.
In einem anderen im Gerichtsurteil zitierten Post hatte Ischtschenko geschrieben, dass die Ukraine ohne ihr Dnipro-Wasserkraftwerk, ohne die Industrie im Osten des Landes und die Schwarzmeerhäfen nur Ackerland sei, „bewohnt von Nationalisten, die ihren vorhistorischen Sumpf bejubeln….“ Dies ist eine Umschreibung für die Vorwurf die sogenannten Nationalisten interessierten sich nur für den Westn der Ukraine.
Drei Männer auf acht Quadratmeter
Des Weiteren zitiert das Urteil einen Eintrag auf Ischtschenkos Telegram-Seite vom 12.7.2023: „Es reicht nicht, einfach nur die Machthaber auszuwechseln. Da kommen wir nur vom Regen in die Traufe. Man muss die Macht selbst in die Hand nehmen. Und wenn uns die Oligarchen die Ressourcen nicht geben, müssen wir sie uns eben nehmen.“
Gewalt von Seiten des Gefängnispersonals, so Ischtschenko gegenüber der taz, habe es nicht gegeben. „Aber wenn drei Männer 24 Stunden am Tag auf acht Quadratmeter zusammenleben, gibt es gewisse Unannehmlichkeiten, so wenn der eine essen will und der andere austreten muss.“ Hofgang habe es nur eine Stunde pro Tag gegeben, das Essen sei miserabel gewesen. „Die Haftbedingungen der Verdächtigen stehen weder im Einklang mit europäischen Standards noch mit grundlegenden menschenrechtlichen Prinzipien.“
Ungefähr 300 Personen seien in Odessa aus politischen Gründen in Haft, schätzt Ischtschenko. „Ich habe junge Männer im Alter von 18 bis 23 Jahren kennengelernt. Sie werden Verbrechen beschuldigt, für die Haftstrafen von zehn Jahren bis hin zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe vorgesehen sind.“
Die Betroffenen hätten sich auf Telegram nach Jobs umgesehen und seien auf ein scheinbar einfaches Angebot gestoßen: zu touristischen Zwecken bestimmte Gebäude für Google Maps zu fotographieren. Doch irgendwann hätte der Auftraggeber auch Fotos von militärisch relevanten Einrichtungen verlangt. Wer dabei erwischt worden sei, müsse mit einer sehr hohen Haftstrafe rechnen, so Ischtschenko.
Neuer Kurs
„Ich weiß von Männern, die zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden sind, weil sie auf Telegram den Aufenthaltsort von Einheiten der Wehrbehörde, die auf der Jagd nach Wehrpflichtigen waren, veröffentlicht hatten, um so andere Männer zu warnen.“ Einige Häftlinge seien schon über zwei Jahre in U-Haft, ohne Urteil oder Anklageschrift.
Andrej Ischtschenko war in den 1990er Jahren Chef der rechtsradikalen Organisation UNA-UNSO in Odessa. Einige Jahre nach seinem Austritt schlug er einen neuen Kurs ein und wandte sich dem linken Lager zu. So organisierte er Führungen durch Odessa zum Thema „das Odessa von Leo Trotzkij“. Der Revolutionär Trotzki, der seine Jugend in Odessa verbrachte, wurde für Ischtschenko zum Vorbild und er selbst Sprecher der Gewerkschaft „Schutz der Arbeit“.
Während er für die „Junge Welt“ ein Nazi ist, sieht der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU in Ischtschenko einen „Anhänger linksradikaler Ideologien, der der staatlichen Sicherheit unseres Staates Schaden zufügen will“. Einem Schreiben des SBU vom Juni 2024 zufolge, das der taz vorliegt, war Ischtschenko zwischen 2014 und 2024 „in politisierten Strukturen radikaler Ausrichtung“ aktiv. So soll er bei den „Neuen Linken“, der Gewerkschaft „Schutz der Arbeit“, der ukrainischen Sektion von Amnesty International mitgewirkt haben.
„Unseren Angaben zufolge hat er für seine Tätigkeit Geld aus dem Ausland von der Nichtregierungsorganisation Rosa Luxemburg-Stiftung (RLS, Deutschland) erhalten. Diese wird von den Geheimdiensten der Russischen Föderation kontrolliert.“ Nein, er persönlich habe nie Geld von der RLS erhalten, sagt Ischtschenko. Allerdings habe er an Seminaren und runden Tischen teilgenommen, die die RLS finanziert habe.
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