Juristin über die Neuregelung von § 219a: „Das ist völlig widersprüchlich“
Erstmals seit der Paragraf geändert wurde, steht wieder eine Ärztin vor Gericht. Juristin Ulrike Lembke über die Chance, dass es noch zu einem besseren Gesetz kommt.
taz: Frau Lembke, die Berliner Ärztin Bettina Gaber ist die Erste, deren Fall nach der Neuregelung des Paragrafen 219a verhandelt wird. Angeklagt war Gaber aber schon zuvor. Welches Recht kommt zur Anwendung, das neue oder das alte?
Ulrike Lembke: Das neue, weil es milder ist. Mit der alten Regelung war sanktionierbar, als ÄrztIn überhaupt zu sagen, dass man Schwangerschaftsabbrüche macht. Das war keine Grauzone, wie oft behauptet wird, sondern völlig unstreitig. Jetzt ist zumindest erlaubt, diese Tatsache mitzuteilen.
Gaber hat den relevanten Satz auf ihrer Website leicht verändert. Heute steht dort: „Auch ein medikamentöser, narkosefreier Schwangerschaftsabbruch gehört zu den Leistungen von Frau Dr. Gaber.“
Das wird ihr nicht helfen. Es ist ja weiterhin verboten, über die Art und Weise zu informieren, wie Abbrüche durchgeführt werden. Nicht dass das sinnvoll wäre – aber sie darf nur schreiben: „Ich nehme Schwangerschaftsabbrüche vor.“ Ich gehe davon aus, dass sie verurteilt wird.
Ein anderer Fall – derjenige der Ärztin Kristina Hänel, deren Anklage die Debatte um den Paragrafen ins Rollen brachte – liegt beim Oberlandesgericht Frankfurt am Main. Es entscheidet in nichtöffentlicher Sitzung über ihre Revision, das Urteil wird derzeit erwartet. Sollte sie schuldig gesprochen werden, will sie vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, um den Paragrafen 219a zu kippen. Wie stünden ihre Chancen?
Hier gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Zum einen könnte sich das Gericht schlicht den § 219a an sich anschauen. Unangemessene Werbung verbietet das deutsche Recht für ÄrztInnen ohnehin, und warum es hier eine Sondernorm gibt, überdies aus dem Strafrecht, ist schwer zu begründen. Wenn das Gericht sich also darauf bezieht, stünden die Chancen ziemlich gut. Ich glaube aber nicht, dass es das tut.
Sondern?
Die wahrscheinlichere Möglichkeit wäre, dass das Gericht argumentiert, der § 219a gehöre untrennbar zur Gesamtregelung in den § 218 ff, die den Schwangerschaftsabbruch in Deutschland verbieten und Ausnahmen von diesem Verbot regeln. Das Urteil wäre dann eine Entscheidung über das Schutzgut des ungeborenen Lebens. Diese Setzung würde aber wiederum mich nicht überzeugen.
Warum nicht?
Dafür muss man sich die Rechtsgeschichte etwas genauer anschauen. Der § 219a wurde im Nationalsozialismus 1933 eingeführt. Den Nazis war es bevölkerungspolitisch ein Anliegen, Abtreibung unter den „arischen Volksgenossinnen“ extrem einzuschränken, später unter Androhung der Todesstrafe ganz zu verbieten. ÄrztInnen, sehr oft jüdisch, atheistisch oder sozialistisch, erwischte man aber schneller, indem schon Informationen über Abbrüche verboten wurden – deshalb der § 219a. Letztmals wesentlich geändert wurde der Paragraf 1974 im Zuge der Diskussion um eine bundesdeutsche Fristenregelung, um der Befürchtung zu begegnen, dass Schwangerschaftsabbrüche nun kommerzialisiert und normalisiert würden. Mit der heutigen Regelung in §§ 218 ff, wie sie seit 1995 im Strafgesetzbuch steht, hat § 219a insofern nichts zu tun. Der § 219a von 1974 wurde dabei übernommen, ohne dass auch nur ein Wort darüber gesprochen wurde.
Wie entstand die heutige Regelung des Paragrafen 218?
Der Paragraf steht seit 1871 im deutschen Strafgesetzbuch. Die heutige Regelung entstand nach der deutschen Einheit. Mit dieser prallten zwei völlig verschiedene Rechtslagen und Vorstellungen von der Rolle der Frau in der Gesellschaft aufeinander. Am Ende einer der längsten Bundestagsdebatten der Geschichte stand im Juni 1992 mit großer fraktionsübergreifender Mehrheit die Fristenlösung mit Beratungspflicht. Das Bundesverfassungsgericht akzeptierte das aber nicht und gab detailliert den Inhalt jener Regelungen vor, die 1995 als §§ 218ff in Kraft traten. Im Urteil legte das Gericht auch fest, dass eine ungewollt Schwangere die Pflicht hat, die Schwangerschaft auszutragen. Wenn ich das meinen Studierenden sage, glauben die, ich mache Witze. Aber das steht da, das gilt und das ist auch so gemeint. Als Frau liest man das einmal und vergisst es nie wieder.
ist Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied im Vorstand des Deutschen Juristinnenbundes.
Wie wird diese Austragungspflicht legitimiert?
Mit dem Lebensschutz. Aber es gibt einen großen Denkfehler. Die Idee der grundrechtlichen Schutzpflicht geht davon aus, dass sich der Staat schützend zwischen zwei Personen stellt und verlangt, dass die eine die Beeinträchtigung der anderen unterlässt. Aber hier ist es juristisch kategorial anders: Die ungewollt Schwangere und der Embryo sind nicht trennbar. Solange ein Fötus mit dem Körper der Schwangeren verbunden ist, gibt es kein Dreieck, sondern ein bilaterales Verhältnis von ungewollt Schwangerer und Staat. Von der ungewollt schwanger Gewordenen wird überdies nicht nur ein Unterlassen verlangt, sondern dass sie gegen ihren Willen ihren Körper dem Embryo zur Verfügung stellt.
Der Staat greift auf ihren Körper zu?
Das gesamte deutsche Recht kennt kein Leistungsrecht an Körpern. Man kann nicht einmal zu Blutspenden gezwungen werden, auch nicht, wenn direkt nebenan jemand stirbt. Aber dieser Widerspruch wird nicht thematisiert. Das ist das Schöne, wenn man das Bundesverfassungsgericht ist: Man beantwortet nur die Fragen, die man sich selbst stellt.
Wo bleiben die Grundrechte der Frau?
Die Gerichtsmehrheit – vier Männer und eine Frau – benennt zwar die Grundrechte der Frau, setzt sich aber nicht wirklich damit auseinander. Sobald der Embryo ins Bild kommt, ist die Frau irgendwie weg. Ein Problem im deutschen Rechtsdiskurs zum Schwangerschaftsabbruch ist, dass er extrem homogen ist. Es gibt so gut wie keine juristische Literatur in Deutschland, die eine andere Position einnimmt.
Woher kommt der Gedanke vom schützenswerten Embryo?
Das hat vermutlich auch mit dem deutschen Muttermythos zu tun. Das Bundesverfassungsgericht rekurriert auf sein Urteil von 1975, eines der sexistischsten überhaupt. Die natürliche Bestimmung der Frau ist demnach die der Mutter, und die ungewollt Schwangere hat die Pflicht, diese Rolle zu übernehmen. Bei den Debatten im Bundestag 1992 berief man sich dann auf ein humanitäres Menschenbild und sagte, es stünde dem Staat nicht zu, über den Wert von Leben zu entscheiden. Korrekt – aber es steht ihm auch nicht zu, über den Körper seiner Bürgerinnen zu entscheiden.
Zurück zu Kristina Hänel: Wenn das Bundesverfassungsgericht also argumentieren würde, das Schutzgut von 219a sei das ungeborene Leben – was dann?
Dann würde es eigentlich sehen müssen, dass die Neuregelung vom Februar 2019 in sich völlig widersprüchlich ist: Wie sollte § 219a denn ungeborenes Leben schützen, indem ÄrztInnen ausgerechnet nicht über die Methoden von Abbrüchen informieren dürfen – aber über die Tatsache, dass sie Abbrüche machen, schon? Und wie soll die ärztliche Versorgung ungewollt Schwangerer – ein Kernstück der Regelung von 1995 – denn weiterhin funktionieren, wenn ÄrztInnen kriminalisiert werden? Schwierig wird es für Hänel, wenn das Gericht sein Urteil von 1993 zugrunde legt und sich auf den Schutz des ungeborenen Lebens bezieht. Ich bin insgesamt also skeptisch, was die Erfolgsaussichten angeht. Aber ich lasse mich gern überraschen.
Im November 2017 wird die Allgemeinärztin Kristina Hänel zu einer Strafe von 6.000 Euro verurteilt, weil sie auf ihrer Website darüber informiert, dass sie Schwangerschaftsabbrüche macht. Das ist ÄrztInnen nach Paragraf 219a des Strafgesetzbuchs verboten.
Die Debatte geht weiter. Obwohl es im Bundestag eine Mehrheit zur Streichung des Paragrafen gibt, lässt sich die SPD nicht auf eine interfraktionelle Abstimmung ein.
Im Februar 2019 stimmt der Bundestag für eine Neufassung des Paragrafen. Die Ärztin Bettina Gaber wird am Freitag die Erste sein, die seitdem vor Gericht steht.
Was müsste passieren, damit das Bundesverfassungsgericht sich noch einmal grundsätzlich mit dem 218 beschäftigt?
Eine direkte Verfassungsbeschwerde ist nicht möglich, die Frist dafür ist längst abgelaufen. Verurteilungen wie beim § 219a sind unwahrscheinlich. ÄrztInnen in Deutschland halten sich natürlich an die Regeln und Ausnahmeregeln in §§ 218 und § 218a. Es müsste also der Gesetzgeber ran, was derzeit ebenfalls sehr unwahrscheinlich ist. Allerdings könnte das Bundesverfassungsgericht anlässlich der Entscheidung zu § 219a auch etwas zum § 218 sagen, wenn es das gern möchte. Ich glaube aber nicht, dass das passiert.
Vor fast 40 Jahren wurde die Frauenrechtskonvention der Vereinten Nationen Cedaw beschlossen. Seitdem ermahnt der Ausschuss, der die Einhaltung der Konvention überwacht, Deutschland immer mal wieder. Warum?
Der Cedaw-Ausschuss sagt seit Langem, in Deutschland müsse es sichere und legale Wege zu Schwangerschaftsabbrüchen geben. Die Pflichtberatung und die Bedenkfrist sollten abgeschafft und Schwangerschaftsabbrüche von den Krankenkassen bezahlt werden. Der Ausschuss bezieht sich dabei auch auf die Weltgesundheitsorganisation, die sagt, die deutsche Regelung bevormunde Frauen.
Verstößt Deutschland damit gegen internationale Verträge?
Die Konvention ist nicht genau dasselbe wie das, was der Ausschuss sagt. Die Konvention bindet Deutschland rechtlich, der Ausschuss interpretiert die Konvention. Aber wenn Deutschland behaupten will, es halte sich ans Völkerrecht, muss es schon gut begründen, warum es meint, Cedaw besser zu verstehen als der dafür zuständige UN-Ausschuss.
Wer könnte eine solche Begründung einfordern?
Der Cedaw-Ausschuss selbst. Er wartet seit Monaten auf Antwort, was die Bundesregierung in Sachen Schwangerschaftsabbruch zu tun gedenkt. Aber die stellt sich tot. Nun kann man Deutschland nicht ohne Weiteres verklagen. Aber ungewollt Schwangere oder auch vom Informationsverbot betroffene ÄrztInnen könnten über Individualbeschwerden vor dem Cedaw-Ausschuss nachdenken. Und die Zivilgesellschaft muss der Bundesregierung immer wieder klarmachen, dass diese zwar anderen Staaten gern Vorschriften macht, sich aber selbst nicht an internationales Recht hält. Das wären Möglichkeiten, auch im deutschen Recht etwas zu verändern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?