Jüdisches Leben in Tunesien: Die Synagoge in El Hamma brennt
Von den ehemals 150.000 in Tunesien lebenden Juden sind heute noch knapp 1.000 übrig. Seit dem Hamas-Angriff auf Israel herrscht Angst.
„Man wolle jüdisches Verhalten wie Stehlen nicht weiter akzeptieren“, sagte Kais Saied damals in einem Armenviertel von Tunis. Ressentiments gegen die noch 1.000 in Tunesien lebenden Juden werden ansonsten selten öffentlich geäußert, doch die Grenzen zwischen der antiisraelischen Stimmung und einer Hetze gegen Juden verschwimmen.
Schon vor seiner Wahl im Jahr 2019 hatte Präsident Saied eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel strikt ablehnt und gefordert, niemandem, der einen israelischen Pass besitzt, die Einreise nach Tunesien zu gestatten. Doch die Forderung wurde bisher nie umgesetzt, zu wichtig ist die jüdische Wallfahrt auf die Ferieninsel Djerba für das Touristenland Tunesien.
Zu der ältesten Synagoge Afrikas, el-Ghriba, strömen in jedem Mai tausende jüdischer Pilger aus der ganzen Welt. Der Legende nach wurde el-Ghriba aus den Überresten des ersten jüdischen Tempels in Jerusalem errichtet. Doch anders als früher waren seit Saieds Amtsbeginn keine Regierungsvertreter bei der stets von einem riesigen Polizeiaufgebot bewachten Veranstaltung.
In diesem Jahr eröffnete ein zuvor wegen Islamismusverdacht beurlaubter Sicherheitsbeamter am Abschlusstag das Feuer auf die Menschenmenge vor der Synagoge. Zwei jüdische Pilger und drei tunesische Polizeibeamte kamen ums Leben. Schon einmal war die jährlich stattfindende Wallfahrt zur El-Ghriba-Synagoge Ziel von Islamisten. Im Jahr 2002 starben bei einem Bombenanschlag 20 Menschen, die Mehrheit deutsche Touristen. Al-Qaida bekannte sich später zu der Tat.
„Wir Juden sind verängstigt“
„Wir Juden sind verängstigt. Jedes Mal, wenn Palästinenser getötet werden, werden im Gegenzug die Juden in Tunesien angegriffen. Das ist zu einem Ritual geworden“, beklagte Rafram Chaddad, ein tunesisch-jüdischer Künstler, der sich seit Jahren für die Palästinenser einsetzt. „Ich würde es nicht wagen, mich zu dieser Zeit auf der Straße zu zeigen“, sagt Chaddad.
Präsident Saied berief wenige Stunden nach dem Anschlag vom 17. Oktober eine Dringlichkeitssitzung im Parlament ein. „Jeden Tag werden Massaker an der palästinensischen Bevölkerung verübt“, sagte er vor laufenden Kameras des Staatsfernsehens Watanya. „Aber heute geht es um den Kampf gegen den internationalen Zionismus. Wir wollen nicht, dass man sagt, dass wir gegen die Juden sind. Wir sind nicht gegen die Juden, und wir waren nie die Ursache für den Holocaust, dem die Juden ausgesetzt waren.“
„Seine Worte waren sehr wichtig“, sagte Chaddad, „sie reichen aber nicht aus, um eine Welle des Antisemitismus, die das Land mit dem Krieg in Gaza ergreifen könnte, zu verhindern.“ Präsident Saied entschuldigt den Anschlag in El Hamma nicht. Stattdessen heizt er die Stimmung gegen Israel an und verbindet seine Parolen mit antisemitischen Chiffren wie der vom „internationalen Zionismus“. Offiziell distanziert sich Saied vom Antisemitismus, selbst wenn er Äußerungen tätigt, die stark nach antisemitischen Verschwörungstheorien klingen.
Dabei tauscht er lediglich „Jude“ gegen „Zionist“ aus. Die Überschwemmungen in der libyschen Hafenstadt Derna im September mit bis zu 20.000 Opfern brachte er mit dem Zionismus in Verbindung, und der Sturm über Ostlibyen sei Teil einer zionistischen Verschwörung, denn dessen Namen „Daniel“ sei der eines hebräischen Propheten, so Saied. Im Februar hatte eine Rede von Saied gegen Migranten zu brutalen Vertreibungen aus Tunis und der Hafenstadt Sfax geführt. Die vertriebenen Migranten aus Subsahara-Afrika seien Teil einer Verschwörung gegen die islamische und arabische Identität Nordafrikas, so der Präsident vor dem so genannten Nationalen Sicherheitsrat.
Für Saied ist die Tragödie in Gaza eine Möglichkeit, um von der seit der Coronapandemie anhaltenden Wirtschaftskrise und seiner sinkenden Popularität abzulenken. Zionisten sind für ihn Feinde des Staates. Am Mittwoch schlossen die Behörden einen Freizeitkomplex, der Patrick Sebag, einem tunesischen jüdischen Unternehmer gehört. In einem Tweet von 2018 äußerte sich dieser positiv zu einem Besuch in Israel.
Nun wird gegen den Unternehmer auf sozialen Medien gehetzt. Wenige Tage nach den ersten Boykottforderungen wurden seine Bars und sein Club geschlossen. Angeblich hatte er versäumt, die Schanklizenzen zu erneuern. Viele Aktivisten der tunesischen Zivilgesellschaft haben beschlossen, die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen zu beenden, die die Angriffe Israels auf den Gazastreifen nicht eindeutig verurteilen.
Solidaritätsmärsche mit der Zivilbevölkerung von Gaza finden in der tunesischen Hauptstadt mittlerweile fast täglich statt. Vor der französischen Botschaft stehen immer wieder kleine Gruppen von Menschen. Sie beschuldigen auf Plakaten dem Westen einer Mitschuld am Tod von Palästinensern.
Das Thema Palästina hat das politisch gespaltene Tunesien über Nacht geeint. Menschen aus allen Gesellschaftsschichten ziehen durch den Stadtteil Lafayette in Tunis, in dem Gründerzeitvillen und mittlerweile renovierungsbedürftige Art-déco-Architektur an das jüdische Leben Tunesiens erinnert. 1967, nach dem Sechstagekrieg zwischen Israel und einer arabischen Staatenallianz, flohen viele der damals über 150.000 tunesischen Juden nach Frankreich und Israel. Es gibt noch steinerne Zeugen der Zeit des friedlichen Zusammenlebens in Lafayette. Die große Synagoge von Tunis, die jüdische Schule in der Palästinastraße und ein koscherer Schlachter auf der Avenue du Liberté gelten für viele Tunesier als Beweis der religiösen Toleranz des 11-Millionen-Einwohner-Landes. Wie vor allen jüdischen Einrichtungen in Tunis sichern schwarz uniformierte Polizisten mit Maschinenpistolen die Gebäude. Die Zahl der Beamten wurde seit dem 7. Oktober stark erhöht.
Wut gegen Europa
Negative Äußerungen gegenüber Juden sind auf den Demonstrationen nur selten zu hören. Die jüdische Gemeinde von Tunis empfinden viele sogar als Teil der tunesischen Kultur. Auf die Frage, ob der Krieg in Gaza auch Antisemitismus in Tunesien befeuern könnt, reagieren einige Demonstranten gereizt.
Als ein französischer Journalist überrascht schrieb, die Menschenmengen würden die Synagoge von Lafayette einfach ignorieren, reagierte auch der politische Analyst Mohamed Dia Hammami genervt. „Zivilisiertes Verhalten entspricht eben nicht dem Stereotyp, das ihr Europäer von uns Araber habt: steinewerfend und unzivilisiert.“ „Ich habe nichts gegen Juden, ich habe jüdisch-tunesische Freunde“, sagt Marwa Ghozzi auf der Anschlusskundgebung. Die Studentin aus der Kleinstadt Kef hält vor der französischen Botschaft ein Plakat hoch: „Mörder Macron“. Ihre Wut richtet sich gegen Europa. „Ich lehne die zionistische Idee und damit die Existenz eines Israels ab, das den Palästinensern jegliche Staatlichkeit verwehrt.“
Für viele Tunesier ist die Solidarität mit den Palästinensern eine Art Bürgerpflicht. So auch für Marwa. „In der Schule habe ich mehr über die Leiden der Palästinenser erfahren als über unsere eigene Geschichte. Auch in meiner Familie und in allen Medien war das Thema omnipräsent“, sagt sie. Die Führungsriege der PLO hatte 1983 ihre Exilregierung in der Nähe von Tunis aufgeschlagen. PLO-Führer Yasser Arafat galt nach mehreren Flugzeugentführungen im Westen und in Israel damals noch als Terrorpate. 1985 bombardierte die israelische Luftwaffe das von der Öffentlichkeit abgeschirmte Gelände. 50 Palästinenser und 18 Tunesier starben. Arafat war während des Überraschungsangriffs nicht in Tunis. Später verlegte die PLO ihren Sitz nach Algerien, doch in Tunesien hielt sich eine von dem Ben-Ali-Regime immer wieder aufgewärmte antiisraelische Stimmung. Dennoch hat ausgerechnet Ben Ali den Wiederaufbau der nach dem Sechstagekrieg abgebrannten Synagoge von Lafayette ermöglicht. Damals wie heute unter Kais Saied eignet sich das Thema als politischer Kitt für eine gespaltene Gesellschaft.
Die Stimmung auf den Protesten ist gelassen. Seit dem Wochenende zeigen Jugendliche palästinensische Filme mithilfe eines Projektors an der Außenmauer des französischen Institut francaise. Die Leitung des Kulturzentrums der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich hatte zuvor die „Free Palestine“-Graffitis übermalen lassen. „Es ist ein aussichtsloses Unterfangen, die Solidarität mit den Palästinensern mit Farbe zu verbieten“, sagt Amin Laloush. Der Tunesier trägt eine Kippa, als er sein Kind aus der Schule an der Rue du Palestine abholt.
Das von abbröckelnden Betonblöcken und zwei Polizisten geschützte Gebäude wirkt heruntergekommen. Rund ein Dutzend jüdische Kinder kommen täglich zum Unterricht. Über den aktuellen Konflikt in Israel und Gaza wollen die Eltern nicht öffentlich sprechen. Nur ein Satz lässt sich Allouche entlocken: „Solidarität mit Palästina ist der soziale Klebstoff der Gesellschaft.“ Judenhass spüre er seit dem Ausbruch des Konflikts tatsächlich nicht, sagt der 36-Jährige.
Seine Kippa trage er zwar seltener als vorher, aber das würden Juden in der ganzen Welt machen. Einige der tunesischen Juden pendeln zwischen Israel und Tunesien. Dies könnte in Zukunft schwieriger werden. Im tunesischen Parlament wird ein Gesetz diskutiert, das jegliche Kooperation mit der „zionistischen Entität“ mit hohen Haftstrafen belegen soll.
Ob die alljährliche jüdische Wallfahrt auf Djerba auch im nächsten Jahr stattfinden kann, erscheint somit abermals ungewiss. Zudem haben in der letzten Wochen der Islamische Staat und al-Qaida erneut zu Anschlägen auf Juden aufgerufen. In dem nur zwei Autostunden zu der Grenze des Bürgerkriegslands Libyen entfernten Djerba machen sich die Juden langsam Sorgen. „Der tunesische Staat schützt uns“, sagt der Chef der Gemeinden, Youssef Dibi. „Aber privat teilen uns die Polizeibeamten mit, wachsam zu bleiben. Wir sind, ob wir wollen oder nicht, abhängig von der Lage in Gaza.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?