Abschiebung nach Suizidversuch: Schutzraum bietet keinen Schutz
Eine lesbische Tunesierin wird abgeschoben, als sie in einer psychiatrischen Fachklinik behandelt wird. Das soll sich nicht wiederholen, so das Land.
Rendsburg taz | Die Fachklinik Rickling nimmt in dem gleichnamigen 3.000-Einwohner*innen-Ort ein weites, parkähnliches Gelände ein. Rasenflächen und Büsche liegen zwischen den Wohn- und Behandlungsgebäuden der psychiatrischen Klinik, ein großzügiger Pavillon ist der Kunsttherapie vorbehalten. Eine Atmosphäre, um durchzuatmen und um gesund zu werden. Doch in der Nacht zum Donnerstag der vergangenen Woche fuhr die Grenzpolizei vor und holte eine Patientin aus ihrem Zimmer: Die 37-jährige Mariem F., die aus Tunesien stammt, wurde abgeschoben.
Die Aktion, die in der Verantwortung des Bundes lag, war formal rechtens – dennoch ist das Entsetzen von Geflüchtetenorganisationen groß. Das Grün-geführte Sozial- und Integrationsministerium in Kiel arbeitet nun daran, solche Fälle künftig anders zu handhaben.
„Dass eine Abschiebung aus einer laufenden Behandlung im Krankenhaus erfolgt, ist ein Skandal“, erklärt Dietlind Jochims, Flüchtlingsbeauftragte der evangelisch-lutherischen Nordkirche – die Fachklinik Rickling ist eine evangelische Einrichtung. „Der Schutzraum Krankenhaus ist eine Voraussetzung für die Gesundung und darf nicht angetastet werden.“
Protest kommt auch von Stefan Schmidt, dem Flüchtlingsbeauftragten des Landes: „Ich habe es erst gar nicht geglaubt“, sagte er dem NDR. Er befürchtet Schlimmes für die 37-Jährige: Ihr drohe bei einer Auslieferung nach Tunesien „Gefahr für Leib und Leben“.
Queeren Menschen drohen in Tunesien harte Strafen
Mariem F. ist lesbisch – in ihrem Herkunftsland Tunesien stehen darauf harte Strafen. So wurde ein männliches Paar im Juli 2020 zu je einem Jahr Haft verurteilt, berichtet der Lesben- und Schwulenverband Deutschlands. Männern, die einer homosexuellen Beziehung beschuldigt werden, drohen so genannte „Anal-Tests“, Untersuchungen des Afters, bei denen Behörden herausfinden wollen, ob die Männer Analverkehr hatten. Die Untersuchung hat keine wissenschaftliche Grundlage und gilt, wenn sie unter Zwang stattfindet, nach internationalen Maßstäben als Folter.
„Gleichgeschlechtliche Sexualbeziehungen sind verboten und können in Tunesien strafverfolgt werden“, warnt das Auswärtige Amt in seinen aktuellen Reise- und Sicherheitshinweisen. „Vermeiden Sie Zeichen der Zuneigung in der Öffentlichkeit.“
Auch lesbischen Frauen drohen Haft oder Zwangsbehandlungen, denn Homosexualität gilt als Krankheit. Mariem F. war zuerst nach Schweden geflohen, wo sie einen Asylantrag stellte. Der wurde abgelehnt, die Frau reiste daraufhin weiter nach Deutschland und landete in Schleswig-Holstein. Doch nach den Regeln des Dublin-Abkommens ist innerhalb Europas das Land zuständig, in dem der erste Asylantrag gestellt wird. „Damit soll die Sekundärwanderung innerhalb Europas gesteuert oder begrenzt werden“, heißt es auf der Homepage des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Dass direkt aus einer Klinik abgeschoben wird, ist selten, kommt aber vor: So wurde der Jordanier Mohammed K. im September vergangenen Jahres aus dem Uniklinikum Leipzig abgeholt und in die Dresdner Abschiebehaftanstalt gebracht. Er hatte sich zuvor selbst verletzt und mit Suizid gedroht, berichtete die taz. Die Gewerkschaft Ver.di berichtet über eine Schwangere mit Diabetes, die aus der Uniklinik Mainz nach Italien abgeschoben wurde: „Nervenaufreibende Situationen für die Betroffenen und nicht zuletzt belastend und herausfordernd für Beschäftigte der Krankenhäuser.“
Sozialministerium hatte rechtlich nichts zu beanstanden
„Nachdem wir als Ministerium von der Rückführung von Mariem F. durch das Landesamt für Zuwanderung und Flüchtlinge erfahren haben, haben wir rechtlich nichts zu beanstanden gehabt“, teilt eine Sprecherin der Sozial- und Integrationsministerin Aminata Touré mit. Eine Behandlung sei vielmehr Grund, die Reisefähigkeit der betroffenen Person besonders sorgfältig zu prüfen und gegebenenfalls durch geeignete Maßnahmen zu gewährleisten. „Das ist in diesem Fall passiert. Ein Arzt war anwesend und hat die Frau auch nach Schweden begleitet.“
Auch wenn die Verantwortung beim Bund liegt, können die Bundesländer den Ablauf einer Abschiebung beeinflussen. Denn die „Planung des Überstellungstermins“ liegt bei den örtlichen Ausländerbehörden, heißt es auf der Homepage des BAMF. Diese Behörden sind an die Landkreise angedockt und damit Landesrecht unterstellt. Nach der nächtlichen Abschiebung aus Rickling brauche es eine über den Einzelfall hinaus wirksame Klärung, die Patient*innen und Beschäftigte in Kliniken Sicherheit gebe, sagte die Flüchtlingsbeauftragte Jochims.
Tatsächlich habe das Ministerium „diesen Fall zum Anlass genommen, um unseren aktuellen Rückführungserlass zu überprüfen“ und arbeite „mit Hochdruck“, daran, ihn zu ändern, so die Sprecherin auf taz-Anfrage. Das Ziel sei, vulnerable Gruppen mehr zu schützen. Da der Landtag einer solche Änderung nicht zustimmen muss, sei ein Ergebnis in Kürze zu erwarten.
Als Vorbild könnten Erlasse aus Thüringen und Rheinland-Pfalz gelten. In beiden Bundesländern gilt seit 2019 ein Verbot für Abschiebungen aus einer Klinik. Auslöser waren jeweils Fälle, die für Proteste und Kritik gesorgt hatten. Für Mariem F. kommt diese Regelung allerdings zu spät: Laut NDR sitzt sie nun in Südschweden in Abschiebehaft.
Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/111 0 111 oder 08 00/111 0 111 oder 08 00/111 0 222) oder www.telefonseelsorge.de besuchen.
Leser*innenkommentare
mwinkl02
Sexuelle Orientierung ist offenbar keine politische Verfolgung. Welche Maßstäbe werden hier nun angelegt? In Länder mit drohender Todesstrafe würde man wohl nicht abschieben. Gerne hätte ich über die Maßstäbe mehr erfahren.
mats
@mwinkl02 Nach geltendem EU-Recht ist die sexuelle Orientierung von den Mitgliedsstaaten als Fluchtgrund anzuerkennen, wenn Angehörigen dieser sozialen Gruppe bei der Rückkehr in ihr Heimatland schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen (übrigens auch von nicht-staatlicher Seite, wie z.B. durch Milizen oder religiöse Gerichte) drohen. Vgl. Darlegung der Magnus-Hirschfeld-Stiftung, mh-stiftung.de/202...aet/#Anerkennung01
Im konkreten Fall ist es schwierig, den Sachverhalt nachzuvollziehen, weil der Asylantrag der Tunesierin ja in Schweden gestellt und abgelehnt wurde und ihr Grenzübertritt nach Deutschland damit wohl nicht rechtens war.
Es kommt in verschiedenen europäischen Staaten immer wieder vor, dass queere Flüchtlinge abgelehnt werden, weil ihre Homosexualität ("Der Antragsteller sieht gar nicht schwul aus", eines vieler unrühmlicher Beispiele aus Österreich) oder die damit verbundene Verfolgung im Heimatland angezweifelt werden.
Immerhin hat die Ampel-Regierung mittlerweile die skandalöse, bereits 2013 vom EuGH als rechtswidrig eingestufte Praxis unterbunden, wonach queere Asyl-Antragsteller in der Vergangenheit mit dem Hinweis abgelehnt wurde, sie könnten ihre sexuelle Orientierung im Heimatland ja "diskret" ausleben. Der EuGH hat damals geurteilt, dass die sexuelle Orientierung ein nicht abtrennbarer Teil der sozialen Person ist.
mats
@mats Nachtrag: taz.de/Kriterium-f...ellt-weg/!5879800/