Journalistin Hazal Ocak über Verfolgung: „In der Türkei gibt es einen großen Kampf um die Freiheit“
In der Türkei wurde Ocak mit Strafverfahren überzogen, um sie zum Schweigen zu bringen. Die Stiftung für politisch Verfolgte holte sie nach Hamburg.
taz: Kommt Ihnen Hamburg im Vergleich zu Istanbul wie ein Dorf vor, Frau Ocak?
Hazal Ocak: Istanbul ist eine sehr volle Stadt mit mehr als 20 Millionen Menschen. Ich bin dort aufgewachsen und habe dort gelebt. Nach dem Chaos in Istanbul fühlte sich Hamburg klein und organisiert an. Eigentlich fühlen sich für mich fast alle Städte in Deutschland so an. Aber Hamburg hat auch meiner Seele gut getan, weil diese Stadt eine ganz eigene Atmosphäre hat, und den Hamburger Geist mag ich sehr.
taz: Fühlen Sie sich manchmal verloren in Hamburg?
Ocak: Das ist eine komplexe Situation für mich. Auf der einen Seite fühle ich mich hier sicher und sehr kreativ. Auf der anderen Seite fühle ich mich manchmal wie ein Immigrant. In der Türkei bin ich sowohl Bürgerin als auch Journalistin. Ich bin ein Teil des Landes. Das bin ich immer noch. Aber als ich das erste Mal nach Hamburg kam, fühlte ich mich ein bisschen überfordert. Lange Zeit in einer Stadt zu leben, die ich nicht kannte, in einer Sprache, die ich nicht kannte, war eine harte Prüfung für mich.
taz: Was bedeutet es für Sie, in einer Zeit im Ausland zu sein, in der Erdoğan immer mehr Druck auf die Opposition ausübt?
Ocak: Ich bin seit elf Jahren als Journalistin in der Türkei tätig. Es ist das erste Mal, dass die Presse- und Meinungsfreiheit so eklatant missachtet wird. Leider wird die Situation immer schlimmer. Ich stehe eigentlich jeden Morgen mit der Nachricht auf, dass einer meiner Kollegen inhaftiert wurde. Außerdem gibt es zum ersten Mal seit langem wieder so viele Proteste. Es schmerzt mich, dass ich nicht vor Ort bei meinen Kollegen sein kann.
taz: Ist dieses Stipendium eine Chance, um Luft zu holen und gestärkt zurückzukehren? Oder kehren Sie vielleicht gar nicht zurück?
Ocak: Mein Stipendium endete im Juli. Das Jahr, das ich in Hamburg verbracht habe, war für mich ein Moment zum Durchatmen. Es hat mich auch für neue journalistische Projekte inspiriert. Jetzt fühle ich mich gestärkt, um meinen Beruf weiter ausüben zu können. Ich habe eine Arbeitserlaubnis beantragt, um in Deutschland als freie Journalistin arbeiten zu können. Derzeit warte ich darauf.
taz: Es ist vermutlich nicht einfach, als Journalist in einem Land Fuß zu fassen, in dem man nicht seine Muttersprache spricht.
Ocak: Ja, das ist sehr schwierig. Ich habe meine Artikel immer auf Türkisch geschrieben, jetzt schreibe ich sie auf Englisch. Ich lerne auch Deutsch. Es fällt mir nicht leicht, aber ich glaube, ich werde es mit der Zeit lernen. Aber ich bin hoffnungsvoll, denn der Journalismus ist für mich der Grund meiner Existenz. In letzter Zeit habe ich mich auf die Klimakrise konzentriert und darauf, wie sie sich sowohl auf die Natur als auch auf das Leben und die Gesundheit der Menschen auswirkt.
taz: Wie sind Sie zu dem Thema Klimaschutz gekommen?
Ocak: Das Thema hat mich von Anfang an angezogen. Wir Menschen sind nicht die einzigen hier, es gibt die Tiere, es gibt die Pflanzen. In den Städten, in denen immer mehr gebaut wird, stirbt die Natur und darüber wird in den Medien nicht genug berichtet. Ich habe mich diesem Bereich zugewandt, um die Stimme der Natur, der Tiere und der Pflanzen zu erheben. Ich habe viele investigative Berichte dazu geschrieben und hatte deswegen sieben Gerichtsverfahren. Ich wurde in allen Fällen freigesprochen, aber die Verfahren laufen noch vor den höheren Instanzen.
Hazal Ocak
1990 in Istanbul geboren. Ab 2012 arbeitete sie für die Zeitungen Cumhuriyet Dailybis und Gazete Duvar in Istanbul zu Umwelt- und Menschenrechtsthemen. 2016 verbrachte sie zwei Monate bei der taz in Berlin. Wegen ihrer Berichterstattung zu Korruption und Verstößen gegen Umweltschutzauflagen wurde sie mit Journalistenpreisen ausgezeichnet – und von Politikern mit Gerichtsverfahren überzogen. 2024/25 war sie Stipendiatin der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte. Derzeit arbeitet sie als freie Journalistin unter anderem für Le Monde Diplomatique Türkçe.
taz: Haben Sie so viel Ärger erwartet?
Ocak: Angesichts der aktuellen Situation in der Türkei mag das komisch klingen, aber mit so vielen Klagen habe ich nicht gerechnet. Diese Klagen haben sich in Slapp-Fälle verwandelt, das sind Verfahren, die gezielt angestrengt werden, um kritische Berichterstattung zum Verstummen zu bringen. In den letzten drei Jahren, die ich in Istanbul verbrachte, verbrachte ich mehr Zeit in den Korridoren der Gerichte als in den Redaktionen. Ich war ständig damit beschäftigt, Verteidigungen und Erklärungen vorzubereiten.
taz: Was waren das für Fälle?
Ocak: Ich habe zum Beispiel berichtet, dass der Kommunikationsdirektor des Präsidenten, Fahrettin Altun, in einer Schutzzone am Bosporus einen nicht genehmigten Pavillon und eine Feuerstelle errichtet hat. Ich wurde wegen „Angriffs auf einen öffentlichen Bediensteten im Kampf gegen den Terrorismus“ angeklagt und sollte 14 Jahre ins Gefängnis. Ich habe auch darüber berichtet, dass der Schwiegersohn von Präsident Erdoğan Grünflächen an der Trasse des Kanal-Istanbul-Projekts gekauft hat und dass dieses Land später für die Bebauung freigegeben wurde. Ich wurde wegen „Beleidigung und Verleumdung“ angeklagt und sollte vier Jahre ins Gefängnis. In beiden Verfahren bin ich freigesprochen worden, auch in der nächsten Instanz. Aber die Prozesse gehen vor dem Obersten Gerichtshof weiter.
taz: Wer hat Sie bei den Prozessen unterstützt?
Ocak: Meine Familie, Freunde und Kollegen kamen zu allen meinen Anhörungen. In der Türkei gibt es einen großen Kampf um Freiheit, bessere Lebensbedingungen und Pressefreiheit. Und ich glaube, dass die Wahrheit und die Gerechtigkeit am Ende siegen werden.
taz: Können Sie Ihre Familie und Freunde in der Türkei sicher besuchen?
Ocak: Das ist jetzt eine komplizierte Frage. Ich denke, dass nicht nur ich, sondern jeder, der der Regierung kritisch gegenübersteht, egal ob er die Türkei besucht oder dort lebt, Gefahr läuft, verhaftet zu werden. Aber ich bin immer noch hoffnungsvoll. Ich werde weiterhin sagen, dass Journalismus kein Verbrechen ist. Und meine tapferen Kollegen in der Türkei tun das auch weiterhin.
taz: Als wir versucht haben, einen Interview-Termin zu finden, waren Sie in Argentinien bei einem Tangokurs. Ist das für Sie auch ein Gegengewicht zu den politischen Rückschlägen?
Ocak: Ja, das ist wahr. Ich habe an der Universität mit dem Tango angefangen und sogar die erste Tangozeitschrift der Türkei gegründet. Ich habe mich in den Tango verliebt, genau wie in den Journalismus.
taz: Tanzen Sie auch in Hamburg?
Ocak: Ja. Tango ist wie eine große, aber vertraute Nachbarschaft. Wo immer man auf der Welt ist, kann man ihn tanzen. Man kann Menschen treffen, ohne ihre Namen zu kennen.
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