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Journalist über Kriegsgefangenschaft„Gewalt habe ich falsch verstanden“

Maksym Butkevych verstand sich als Kriegsgegner, bis Russland die Ukraine überfiel. Er geriet in russische Gefangenschaft und kam kürzlich frei.

Maksym Butkevych vor seiner Gefangennahme Foto: Anthea Verlag

Der 47-jährige Menschenrechtler und Journalist Maksym Butkevych zählt zu den bekanntesten Persönlichkeiten der ukrainischen Zivilgesellschaft. Er studierte Philosophie und Anthropologie in Kyjiw und Sussex und arbeitete als Journalist, unter anderem für den BBC World Service. Er gründete den unabhängigen ukrainischen Radiosender Hromadske sowie die Menschenrechts-NGOs ZMINA und das No Borders Project mit und setzt sich für die Rechte von Geflüchteten in der Ukraine ein. Kurz nach Beginn der russischen Großinvasion schloss er sich als Freiwilliger den ukrainischen Streitkräften an und war an der Verteidigung Kyjiws beteiligt. Im Juni 2022 geriet er in russische Kriegsgefangenschaft und wurde im März 2023 in einem Scheinprozess in Luhansk zu 13 Jahren Haft verurteilt. Im Oktober dieses Jahres kam Butkevych im Rahmen eines Gefangenenaustauschs frei. Das Buch „Maksym Butkevych: Am richtigen Platz“ mit Texten von und über ihn erschien vor Kurzem im Anthea Verlag auf Deutsch. Der taz gab er das erste ­Interview für die deutsche Presse seit seiner Freilassung.

taz: Maksym Butkevych, am 18. Oktober sind Sie freigekommen. Was ist seitdem passiert?

Maksym Butkevych: Es ist meine zweite Woche in Kyjiw und meine sechste auf freiem Fuß. Die ersten vier habe ich im Rehabilitationszentrum verbracht. Danach stehen einem ehemaligen Kriegsgefangenen 30 Tage Urlaub zu, also in meinem Fall noch fast bis Mitte Dezember. Weil ich ein beurlaubter Offizier bin, muss ich dann entweder wieder in den aktiven Dienst zurückkehren oder den Demobilisierungsprozess einleiten.

Bild: Oleksiy Arunian/Graty
Im Interview: Maksym Butkevych

„Maksym Butkevych: Am richtigen Platz. Ein ukrainischer Friedensaktivist im Krieg“. Anthea Verlag, Berlin 2024, 140 Seiten, 15 Euro

taz: Möchten Sie denn in der Armee bleiben?

Butkevych: Ich möchte unbedingt zur Befreiung unserer Kriegsgefangenen hinter russischen Gittern beitragen. Und es gibt auch zivile Gefangene, von denen einige in einer noch schwierigeren Lage sind. Manche sind auch einfach verschwunden – wir wissen nicht einmal, ob sie noch am Leben sind. Wir müssen sie da rausholen. Das ist es, was ich versuchen werde zu tun. Aktuell versuche ich herauszufinden, was die effizientesten Wege dafür sind.

Wenn ich dabei nützlicher in der Armee sein werde, werde ich eine Uniform tragen und stolz dienen. Wenn es für mich effizienter ist, wieder Zivilist zu werden und in einer staatlichen Einrichtung oder wie früher in einer NGO zu arbeiten, werde ich das ohne zu zögern tun. Ich möchte auch dazu beitragen, ein landesweites System zur Rehabilitation ehemaliger Gefangener und Soldaten zu etablieren und mich an der internationalen Lobbyarbeit für die Ukraine beteiligen, denn wir brauchen wirklich Unterstützung. Und dann gibt es natürlich die Migrationsfragen, mit denen ich mich schon früher beschäftigt habe und die mich wahrscheinlich für den Rest meines Lebens begleiten werden.

taz: Zur Lobbyarbeit: Es gibt viele Deutsche, die für mehr Verständnis für die russische Seite eintreten, für einen vermeintlichen Frieden und gegen militärische Unterstützung für die Ukraine. Haben Sie Ihnen etwas zu sagen?

Butkevych: Ja, das habe ich. Ich bin dort gewesen, ich habe die russische Föderation von innen gesehen. Ich wurde gezwungen, diese russische Welt durchzustehen, die Russland jetzt in die Ukraine bringen möchte. Es ist zur patentierten Methode der Russen geworden, Städte zu „befreien“, indem sie sie einfach ausradieren. Wenn ihr Frieden mit Russland schließen wollt, dann ist mein Vorschlag, dass ihr eure Koffer packt und nach Russland geht. Denn was ihr eigentlich vorschlagt, ist, dass Russland zu euch kommt. Vielleicht solltet ihr diesen Prozess beschleunigen, und dann werdet ihr sehen, was ihr Frieden nennt. Ihr schlagt dem größten Land Europas vor, seine Niederlage zu akzeptieren, seine eigene Identität aufzugeben – jemandem zu erlauben, seine Freiheit zu nehmen, es auszulöschen, und für euch ist das Frieden.

taz: Es gibt auch viele Linke in Deutschland, die gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sind.

Butkevych: Ich selbst habe einen anti­autoritären, anarchistischen Hintergrund und habe an Protesten gegen den Irakkrieg teilgenommen. Doch irgendwann hat sich der Antiimperialismus vieler Linker, mit denen ich auch damals gemeinsam protestierte, wohl in Antiamerikanismus und Prorusslandismus verwandelt. Und wenn ich dann das russische Fernsehen schaue, sehe ich, wie unsere Slogans über den Globalen Norden und den Globalen Süden, über internationale Gerechtigkeit, von der russischen Propaganda ausgenutzt werden. Bei den Linken, die gegen eine Unterstützung der Ukraine sind, denke ich mir: Ihr wart für globale Gerechtigkeit.

Dieser Krieg ist doch die ungerechteste Sache, die in diesem Teil der Welt passiert. Wenn ihr antiimperialistisch seid, seid ihr gegen Imperien – im Plural. Mit eurer Haltung unterstützt ihr aber gerade ein Imperium im Entstehen dabei, Millionen von Leben zu zerstören, und ich übertreibe nicht. Das ist eine Schande. Ihr wollt euren Komfort gegen Millionen von Menschenleben eintauschen, anstatt sie zu unterstützen. Es wird aber ein Scheinkomfort sein, denn die Russische Föderation besetzt und verwüstet nicht nur ukrainisches Territorium, sondern demontiert auch absichtlich alles, was vom internationalen Sicherheitssystem übrig geblieben ist. Das humanitäre Völkerrecht wird vor unseren Augen zerrissen, es ist zu einem Witz verkommen. Alle Abkommen kosten jetzt weniger als das Stück Papier, auf dem sie geschrieben sind. Entschuldigen Sie, dass ich mich hier etwas aufrege.

taz: Das deutsche Buch über Sie und mit Ihren Texten, das kürzlich im Anthea Verlag erschien, nennt Sie im Nebentitel einen Friedensaktivisten im Krieg. Würden Sie sich als Friedensaktivist bezeichnen?

Butkevych: Ich denke schon, aber das ist natürlich eine Frage der Definition. Ich war Teil von Antikriegsbewegungen – sowohl als Journalist als auch als Aktivist und privat als Christ. Wo immer ich konnte, habe ich den Frieden unterstützt. Krieg ist Beseitigung von Leben, er ist Tod, der in weiten Gebieten herrscht. Wir sollten den Tod aufhalten, wo immer es möglich ist. Und wir sollten versuchen, das Leben zu fördern. Das ist sowohl meine persönliche menschliche Haltung als auch meine soziale, politische und religiöse Überzeugung. Also, ja, ich war ein Friedensaktivist und bin es immer noch, so überraschend es vielleicht klingen mag. Der Krieg wurde nicht von uns und nicht von mir begonnen. Und dann ging es darum, ob ich es wirklich zulasse, dass er voranschreitet, oder ob ich versuche, ihn zu stoppen.

Es ist paradox, aber es gibt Antimilitaristen wie mich, die der Armee beigetreten sind. Und wir haben Pazifisten, die sie versorgen, mit Schutzausrüstung und Waffen. Wir machen das nicht, weil wir es mögen, sondern weil uns keine andere Möglichkeit bleibt. Ob ich auch ein Pazifist bin, ist wirklich eine reine Definitionsfrage. Zu oft habe ich gehört, dass ein Pazifist eine Person ist, die Gewalt als Option unter allen Umständen ablehnt. Ein einfaches Beispiel: Du wirst Zeuge eines schrecklichen Gewaltverbrechens. Du bist in der Lage, es abzuwenden, musst aber Gewalt anwenden. Wirst du es tun? Nun, ich tue es. Dabei bin ich ein absolut nichtaggressiver Mensch. Denn wenn ich nicht eingreife, bin ich verantwortlich dafür, dass ich das Verbrechen geschehen lasse.

taz: Wie haben Sie die Zeit in russischer Gefangenschaft durchgestanden? Haben Sie Ihre Sicht auf die Welt geändert?

Butkevych: Ich habe viele Menschen aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen kennengelernt, die ich in meinem normalen Leben nie treffen würde. Die Armee ist ein Abbild der ukrainischen Gesellschaft. Ich hatte viel Zeit. In den ersten Tagen der Gefangenschaft beschloss ich, dass ich innehalten wollte, um über einige grundlegende Dinge nachzudenken, zu verstehen, was in meinem Leben und in meiner Vision der Welt wirklich wichtig ist. Vorher hatte ich nie Zeit dazu gehabt, ich war immer mit irgendetwas beschäftigt. Ich habe mich in der Gefangenschaft keine eine einzige Minute gelangweilt. Niemals. Ich habe in meinem Kopf Texte verfasst. Ich dachte an all die wunderbaren, schönen, unglaublichen Menschen, die mir in meinem Leben begegnet sind. Ich fing an, manche Dinge mehr zu schätzen und zu sehen, wie oberflächlich manche andere Dinge sind.

taz: Brachte Ihnen die Gefangenschaft auch neue Erkenntnisse?

Butkevych: Mir wurde klar, dass ich Gewalt falsch verstanden hatte. Es gibt ja alle möglichen Texte über Gewalt, von Benjamin, Fanon oder ­Sorel. Wir alle denken bei Gewalt an Zerstörung – daran, etwas kaputt zu machen. Und wenn es um Lebewesen und Menschen geht, um Verstümmelung und Töten. Aber so ist es nicht. Nun, manchmal schon, aber das ist eine Folge der Gewalt. Nachdem die Aufseher uns Kriegsgefangene einmal dazu zwangen, Sit-ups, Push-ups zu machen, uns in Stresssituationen brachten, wurde mir plötzlich durch diese Erfahrung klar, dass es bei Gewalt darum geht, einen Menschen in ein Objekt zu verwandeln, das man wie ein Spielzeug manipulieren kann. Du willst, dass er sitzt, er wird sitzen. Er soll singen, er wird singen. Und wenn sich der Mensch nicht zum Objekt machen lässt, dann kommt Gewalt zum Einsatz, unter der Drohung, das ungehorsame Spielzeug zu zerstören – unter der Drohung, dir den Tod näher zu bringen. Gewalt ist eine Manipulation mit dem Tod.

taz: Sehen Sie ein Ende des Krieges? Welche Szenarien stellen Sie sich vor?

Butkevych: Die Situation fühlt sich im Moment unbeständig und fast unberechenbar an. Wir sind sehr abhängig. Es ist paradox: Indem wir für unsere Freiheit kämpfen, sind wir letztlich von externen Akteuren abhängig geworden. Aber wenn wir nicht kämpfen würden, gäbe es uns nicht. Nun, ich habe nie an eine Niederlage gedacht und denke auch jetzt nicht daran. Die Niederlage ist keine Option. Und es geht hier nicht um Pathos, wie in einem Film.

Man muss verstehen, dass die russischen Invasoren Zugeständnisse als Zeichen der Schwäche und als Einladung verstehen, weiterzumachen. Wenn es keine dauerhafte Lösung gibt, die den Ukrainern Sicherheit garantiert, wenn es wieder zu einem eingefrorenen Konflikt kommt, dann ist das nur eine Pause im Massenmord. Ein langfristiger Waffenstillstand sollte in erster Linie echte Sicherheitsgarantien beinhalten und sich nicht als weiteres Budapester Memorandum entpuppen. Wir werden uns mit Zähnen und Klauen wehren, aber wir brauchen Unterstützung.

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48 Kommentare

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  • Der Begriff "Verständnis" ist bekanntlich mehrdeutig und manchmal irreführend. Die Allermeisten, welche dafür eintreten, dürften "Verständnis der Ursachen" und nicht "Gutheissen der Gewalt" meinen. (Und diese Ursachen sind wohl doch etwas vielfältiger, als manchmal behauptet wird.)

    Dass Herr Butkevych seinen Emotionen Luft verschaffen muss, auch dafür ist zweifellos Verständnis am Platz - auch wenn er einige ganz schön happige Aussagen macht wie z.B.: "Mit eurer Haltung unterstützt ihr aber gerade ein Imperium im Entstehen dabei, Millionen von Leben zu zerstören, und ich übertreibe nicht. Das ist eine Schande. Ihr wollt euren Komfort gegen Millionen von Menschenleben eintauschen, anstatt sie zu unterstützen."

    In der aktuellen Situation wird vermutlich jede Unterstützung für die Ukraine letztlich zu wenig sein. Es geht aber immerhin um Milliardenbeträge, und "wir" liefern alle Waffen, deren Lieferung die dafür zuständigen Experten für verantwortbar halten.

  • Es kann ja von keinem vernünftigen Menschen bestritten werden, dass Russland die Schuld an dem un- und irrsinnigen Krieg hat; ein schweres Verbrechen.



    Und dennoch ist und bleibt es so, dass Krieg an sich ein Verbrechen ist. Und dass es ein Trauerspiel und Armutszeugnis ist, dass jemand von einem Befehlshaber ein Uniförmchen angetan und eine Waffe in die Hand gedrückt wird und ihm befiehlt, Leute, die ein anderes Uniförmchen tragen, zu ermorden. Normalerweise gibt's dafür viele Jahre Gefängnis – mit Uniform hingegen wird der Mörder zum Helden und man heftet ihm irgendwelche Blechsternchen an.



    Wie man unschwer erkennen kann, bin ich Pazifist. Das heißt, dass ich meine, dass systematischer Auftragsmord immer ein schweres Verbrechen ist.



    Es heißt nicht, dass ich gegen Gewalt in Selbstverteidigungs- oder Nothilfesituationen bin. Die Mittel gegen ein mörderisches Regime wie Russland sind m.E. Isolation von der Weltgemeinschaft, Attentate auf die Anstifter, Guerillaaktivitäten.



    Schwierige Situationen verlangen nach Kreativität und langem intensiven Nachdenken. Einfach zu sagen: Da ist das Böse, jetzt bringen wir die um – das ist keine Lösung sondern die Ursache der meisten Übel.

    • @Jon Valkenberg:

      "Die Mittel gegen ein mörderisches Regime wie Russland sind (...) Attentate auf die Anstifter, Guerillaaktivitäten.



      (...) Einfach zu sagen: Da ist das Böse, jetzt bringen wir die um – das ist keine Lösung sondern die Ursache der meisten Übel."



      Kommt mir das nur so vor, oder sind Sie hier nicht so ganz konsequent?

  • Imperialistische Staaten, ob nun die USA oder Russland, sollte man immer mit gesunder Skepsis betrachten.

    • @Alex_der_Wunderer:

      Richtig.

      Allerdings ist die Erkenntnis dass Russland ein imperialistischer Staat ist, nicht so weit verbreitet wie man vermuten müsste. Es gibt sogar Linke die glauben, Russland kämpfe gegen Kapitalismus oder Kolonialismus.

      • @Chris McZott:

        Und es gibt Linke, nennen wir sie Hufeisenlinke, haha, die beim Ukrainekrieg die USA vor Russland nennen, denen sie mit "Skepsis" begegnen. Alex der Wunderer, das Interview oben haben aber schon gelesen, oder?

  • Danke für dieses Interview, dem ich viele Leser wünsche.



    Ich stimme mit Herrn Butkevych nur an dem Punkt nicht überein, wo er die Ukraine das größte Land Europas nennt. Das ist natürlich Russland. (Wobei mir völlig klar ist, warum er das so sagt, und ich spreche ihn die Legitimität seiner Sichtweise nicht ab).

    • @Barbara Falk:

      Die Ukraine ist nach Fläche das größte Land , das zur Gänze in Europa liegt.

      Wir dürfen zum 85. Jahrestag des Angriffs nicht vergessen, warum Russland so groß an Fläche in Europa geworden ist: Der sowjetisch - finnische Winterkrieg 1939/1940 ist eine der vielen russischen Blaupausen für das jetzige Vorgehen.

      "Im Herbst 1939 hatte die Sowjetunion Finnland mit Gebietsforderungen in der Karelischen Landenge konfrontiert und sie mit unabdingbaren Sicherheitsinteressen für die Stadt Leningrad begründet. Nachdem Finnland die Forderungen abgelehnt hatte, griff die Rote Armee am 30. November 1939 das Nachbarland an."



      de.wikipedia.org/wiki/Winterkrieg

      Russland hat ca. 4 Mio qkm europäische, ca 13 Mio qkm Fläche in Asien, ist somit eigentlich ein asiatischer Staat.



      Die Flächen in Nordamerika (Alaska und Teile Kaliforniens) mussten 1860 an die USA verkauft werden um damit die Kreigsschulden aus dem verlorenen Krimkrieg 1853-1856 zu bezahlen.

      Wer immer größer wird hat geometrisch eine immer größere Zahl an Nachbarn, von denen er dann vorgeben kann, bedroht zu werden. Das ist das russische Prinzip.

      • @Hans - Friedrich Bär:

        Interessant ist in diesem Zusammenhang die russische Reaktion darauf, dass die ach so aggressive, gefährliche NATO mit dem Beitritt Finnlands jetzt ganz, ganz nah an Petersburg, Russlands zweitgrößter Stadt und Putins Heimat liegt:

        nichts.

        Es ging Russland niemals um die NATO.

        Es ging immer nur um die Einverleibung und Vernichtung der Ukraine, die die russische Propaganda zur "heiligen" Keimzelle Russlands hochstilisiert und der sie eine eigene Geschichte, Kultur und Identität abspricht.

        • @Suryo:

          In welchen Gebieten lebten denn bis 2014 - schwerpunktmäßig die über 8 Millionen russischstämmigen, oder sich selbst, als ethnische Russen - bezeichnete Mitbürger der Ukraine ? Immerhin 17,3 % der ukrainischen Bevölkerung.



          Mag daran liegen : von 1922, bis zum Zerfall der UdSSR 1991, war das Territorium der Ukraine - eine der Republiken der Sozialistischen Sowjetunion....

      • @Hans - Friedrich Bär:

        Das ist jetzt rein akademisch aber der russische Bildungskanon kennt einen Kontinent Europa gar nicht. Dort gibt es nur Eurasien. Dass es 7 Kontinente geben soll ist eine westliche Konvention. In Lateinamerika gibt es Staaten, die kennen sogar nur 5 Kontinente, da sie nicht zwischen Nord- und Südamerika trennen.

        Konsequent geografisch gedacht gibt es nur einen europäisch-asiatisch-afrikanischen Kontinent, denn der Suezkanal ist künstlich geschaffen - kurz: darüber braucht man sich nicht zu streiten...

    • @Barbara Falk:

      Ich empfinde das Interview auch sehr aufschlussreich, würde jedoch auch gerne einmal ein Interview lesen, wo ein russischer, intellektueller Soldat und Ex-Gefangener zu Wort kommt.

      • @Alex_der_Wunderer:

        Das ist hier kein Krieg, wo irgendwie beide Seiten schuld haben und die "Sicht der Russen" das gleiche moralische Gewicht haben kann wie die der Ukrainer.

        • @Suryo:

          So eine Sichtweise zu erfahren wäre schon interessant. Mir ist allerdings kein öffentlicher Intellektueller aus Russland bekannt, der für Putins Sache freiwillig Soldat geworden oder dafür zwangsverpflichtet wurde.

          • @Barbara Falk:

            Ein super Schriftsteller ist ja Boris Akunin, bürgerlich; Gigogri Schalwowitsch - hatte 2012 spontan im Zusammenhang mit Putins Amtseinführung zu Volksprotesten aufgerufen, unter anderem rief er zu dem spektakulären " Kontroll Spaziergang " durch Moskau am 9. Mai 2012 auf, an dem über 10.000 Russen teilnahmen.



            2014 ist Boris Akunin ins Exil nach London gegangen. Wäre als Soldat auch wohl schon zu alt.



            Genauso Wladimir Georgijwitsch, lebt seit 2022 in Berlin.



            Vermutlich versuchen Intellektuelle, die nicht Putin konform sind, einen Dienst beim Militär zu umgehen.

        • @Suryo:

          Russen sind doch keine homogene Masse.



          Kleiner Tipp am Rande - befassen Sie sich einmal etwas intensiver mit der Historie der Ukraine. Beginnen Sie am besten im 9. Jahrhundert.

          • @Alex_der_Wunderer:

            Befassen Sie sich mal lieber mit der aktuellen russischen Propaganda über die Ukraine und ihre Geschichte.

            Purer faschistischer Hass.

  • Es ist für mich auf perverse Weise faszinierend, wie es selbst zu diesem Interview hier noch Apologeten Russlands und wachsweiche Rufe nach Verhandlungen gibt.



    Mit Aggressoren von Putins Kaliber, dessen Habitus und Handlungen identisch mit Straßenschlägern ist, sind Verhandlungen völlig sinnlos. Wer je versucht hat, mit einem Schläger zu verhandeln, weiß, was ich meine.



    Es ist wohlfeil und schäbig, vom warmen, sicheren, deutschen Sofa aus den Ukrainern zuzurufen, sie sollen halt verhandeln und ihnen die Werkzeuge zu versagen, sich zu wehren. Im Kern ist es menschenverachtend und ignorant und dient lediglich der Verteidigung des eigenen ideologischen Konstrukts, das man offensichtlich nicht loslassen möchte…

    • @Heideblüte:

      Die Schlagworte vom Strassenschläger und vom sicheren deutschen Sofa sind ebenfalls wohlfeil. Man kann auch aus anderen Gründen als zur Verteidigung der eigenen Ideologie für Verhandlungen eintreten. Und Waffenstillstandsverhandlungen führt man nicht mit Freunden.

    • @Heideblüte:

      Danke, einfach und treffend.

    • @Heideblüte:

      Der Sofa-Vorwurf ist wenig sinnvoll, weil man ihn genauso gut umdrehen kann - diejenigen, die hier eine militärische Lösung fordern, stehen ja auch nicht selbst an der Front. Zumal man sich fragen muss, wer eigentlich einem "ideologischen Konstrukt" anhängt. Die Signale, dass man sich, langsam, auf eine Verhandlungslösung vorbereitet, sind kaum zu überhören. Es mag diejenigen enttäuschen, für die dieser Krieg zum quasi-religiösen Endkampf geworden ist: aber er wird enden, vermutlich nicht allzu weit in der Zukunft, und nicht mit einem Triumph egal welcher Seite, sondern mit einem schmutzigen Kompromiss. Und nach 3 Jahren Krieg ist das auch gut so.

      • @O.F.:

        Zu einem Endkampf überhöht gerade die russische Propaganda diesen Krieg. Die russisch-orthodoxe Kirche bezeichnet ihn explizit als "heiligen Krieg" (So Patriarch Kyrill im März dieses Jahres) und ganz allgemein peitscht die hysterisch-aggressive russische Propaganda das Ganze zu einem fundamentalen Gut-gegen-Böse-Krieg, zu einem Kampf Russlands gegen den verdorbenen, dekadenten Westen, gegen "Nazis", "ukrainische Faschisten", "Gayropa", "Satanisten" hoch. Wissen Sie das nicht oder ignorieren Sie es absichtlich? Und: wenn man das nicht weiß, wieso diskutiert man dann eigentlich zu diesem Thema? Das ist nichts Neues, sondern jedem, der etwas Ahnung von Russland hat, bestens bekannt.

        Was entgegen Sie all jenen, die sagen, dass jeder Kompromiss für Russland nur zum Zeitgewinn genutzt werden wird, um dann erneut loszuschlagen? Was Verträge mit Russland wert sind, weiß doch jeder: nichts. Ein faschistisches System wie das heutige Russland braucht Krieg, braucht den äußeren Feind. Nichts spricht dafür, dass ein Kompromiss echten Frieden bringt.

        Abgesehen davon, dass der Kreml Verhandlungen explizit ablehnt. Wieso glauben Sie so hartnäckig daran, es sei in Wahrheit anders?

        • @Suryo:

          Der erwähnte Zeitgewinn kommt nicht nur Russland zugute, sondern auch der Ukraine. Natürlich muss er auch genutzt werden. Es spricht m.E. nichts dagegen, dass dies auch der Fall sein wird.

      • @O.F.:

        " Die Signale, dass man sich, langsam, auf eine Verhandlungslösung vorbereitet, sind kaum zu überhören"



        Wen meinen Sie mit "man"? Aus Moskau kommen ganz andere Signale. Peskow hat noch vor zwei Tagen wieder die russischen (völlig irrealen) Maximalforderungen wiederholt.



        " diejenigen ..., für die dieser Krieg zum quasi-religiösen Endkampf geworden ist"



        Auch hier meine Frage: Wen meinen Sie?

        • @Barbara Falk:

          Maximalforderungen sind der übliche Einstieg in Verhandlungen. Über die eigene Kompromissbereitschaft redet man dabei sicher nicht öffentlich.

  • Praktisch alle Demokratien sind durch Gewalt entstanden. In Frankreich durch den Sturm auf die Bastille, in Deutschland durch 3 Kriege. In den USA durch Unabhängigkeits- und Bürgerkrieg. Die Liste lässt sich beliebig verlängern. Das gilt auch und gerade für die Gesellschaften, die heute Gewalt als Mittel der Politik ablehnen.



    Oder auch nicht: Bei Israel zum Beispiel muss man gar nicht den Krieg nach der Gründung bemühen: es reicht auf die Klagemauer zu verweisen, an denen orthodoxe Juden beten: Sie ist das Zeugnis eines -verlorenen- Aufstandes der "Israeliten" gegen die römische Besatzungsmacht.



    Nur: Gewalt als Mittel der Politik kann man, muss man verachten. Aber das beseitigt sie nicht. Wenn die letzten 35 Jahre europäischer Geschichte irgend etwas bewiesen haben, dann das.

  • Kann man sicher sein, dass Wagenknecht, Weidel und Mützenicht das zu lesen bekommen? Vielleicht hilft‘s ja beim Denken.

    • @vieldenker:

      Zum Denken gehört freilich auch, Gelesenes zu hinterfragen...

      • @O.F.:

        Ob die das auch können? Prinzipiell schon, würde ich denken.

      • @O.F.:

        Dann machen sie mal. "Hinterfragen" Sie einen Ukrainer, der an der Front und in Gefangenschaft war. Sie haben sicher das Wissen und die Erfahrungen, um das zu tun. Nicht wahr?

  • "Doch irgendwann hat sich der Antiimperialismus vieler Linker, mit denen ich auch damals gemeinsam protestierte, wohl in Antiamerikanismus und Prorusslandismus verwandelt". Ähem, da hat sich nichts gewandelt, höchstens der Durchblick des Autors. Das war schon in den 70ern so.

    • @TheBox:

      Nur hatte das in den 70ern keinerlei Folgen. Das sieht heute etwas anders aus, wenn aus linker Überzeugung, siehe manche in der SPD, die Ukraine keine, oder nur zaghaft Waffen bekommt.

  • Sehr guter Artikel der breit kommuniziert und weiterverlinkt werden sollte

    • @Andere Meinung:

      👍👍

  • Der Vorschlag, nach Russland zu gehen erinnert ein wenig an die Aussagen in Richtung Kritiker der BRD vor dem Mauernfall:“ Wenn es Dir hier nicht passt geh doch nach drüben“.

    Ich habe Verständnis für die Situation und auch auch für die Verbitterung, aber Neues habe ich nicht gehört. Im Grunde genommen dreht sich alles um „Das imperialistische Russland muß gestoppt werden.“ Stimmt. Nur zum wie wird nichts gesagt.

    Der Ukraine fehlen Waffen und Menschen, die sie bedienen. Dazu kommt eine um sich greifende Kriegsmüdigkeit sowie ausufernde Desertierungen. Und der Wunsch der Amerikaner und der Europäer, nicht zu eskalieren.

    Leider haben wir alle auch noch im Ohr, daß die Freiheit Deutschlands am Hindukusch verteidigt wird.

    Alle sind sich einig, daß am Ende eine Verhandlungslösung her muss. Aber wie kommt man dahin?

    • @Jens Barth:

      Russland wird dann ernsthaft verhandeln, wenn es mit weiterem Kampf nicht noch mehr zu gewinnen hat. Folglich müsste zumindest die Ukraine soweit gestärkt werden, dass der weitere russische Vormarsch zum Erliegen kommt. Ich halte es allerdings für nahezu unmöglich die Hilfe so auszutarieren, dass Russland die Hoffnung auf weitere Gewinne endgültig aufgibt, zugleich aber die Ukraine sich durch die Hilfe nicht ermutigt fühlt zu versuchen, das Verlorene wieder zu gewinnen. Einen Ausgang mit einer Art „Unentschieden“ halte ich daher für das am wenigsten wahrscheinliche, und wenn doch, dann das langwierigste. Somit halte ich das US-Deutsche vorgehen gerade so wenig zu geben, dass die Ukraine Russland aufhalten, aber kaum etwas zurückerobern kann für jenes, welches am wenigsten anhaltenden Frieden verspricht.



      Entweder müsste also die Ukraine im Austausch für dauerhaften Frieden noch mehr - vielleicht auch ihre Unabhängigkeit, demokratische Staatsordnung und Freiheit - aufgeben und den Krieg praktisch verlieren, oder es muss zu einer entscheidenden russischen Niederlage kommen, damit dann die Ukraine in die NATO integriert werden kann. Dafür bräuchte sie aber deutlich mehr Unterstützung.

      • @Socrates:

        "zugleich aber die Ukraine sich durch die Hilfe nicht ermutigt fühlt zu versuchen, das Verlorene wieder zu gewinnen. "



        Sie sind demnach dafür, Russland eroberte Gebiete dauerhaft zuzuschlagen? Und das soll dazu beitragen Russland davon zu überzeugen, eine Hoffnung auf weitere Gebiete aufzugeben, auch noch dauerhaft?



        Diese Logik will sich mir nicht recht erschließen.

    • @Jens Barth:

      "Der Ukraine fehlen Waffen und Menschen, die sie bedienen. Dazu kommt eine um sich greifende Kriegsmüdigkeit sowie ausufernde Desertierungen." Das weißt Du woher? Aber sicher besser als Maksym Butkevych, nicht wahr?

  • Verständnisfrage: Herr Butkevych bezeichnet sich als Antimilitaristen mit anarchistischem Hintergrund, laut Wikipedia / Amnesty war aber schon lange vor dem Maidan Leutnant der Reserve? Beißt sich ein bisschen mit dem Selbstverständnis dieses "absolut nicht aggressiven Menschen".

    Insgesamt etwas aufgeladen das Interview, was ja auch verständlich sein mag, mit wenig neuen Erkenntnissen und den bekannten Argumenten, man müsse das neue Imperium in der Ukraine aufhalten, bevor es auch vor unserer Haustür Massenmord begehe.

    Ich hätte mir im Interview mehr Fragen zum Buch gewünscht.

    • @Giergalgen:

      In der Ukraine galt auch in den 1990ern, wie heute, die allgemeine Wehrpflicht, mit nur eingeschränkter Möglichkeit der Verweigerung (nur aus religiösen Gründen).



      Herr Butkevych hat den Grundwehrdienst umgangen, indem er parallel zum Studium Kurse der Militärakademie besucht hat (so steht es in der ukrainischsprachigen Wikipedia). Mit welchen relevanten Spezialkenntnissen er sich für die Reserve empfahl, kann er nur selbst beantworten (ich nehme mal an, seine Englischkenntnisse). Der Leutnantsrang bedeutet nicht viel, das ist (wie in der Bundeswehr) der unterste Offiziersgrad, den kriegt jeder Absolvent automatisch.

    • @Giergalgen:

      Diese bekannten Argumente - aus meiner Sicht Tatsachen - können nicht oft genug wiederholt werden.

    • @Giergalgen:

      Dass er früher schon Leutnant der Reserve war habe ich hier gefunden:



      suspilne.media/260...maksima-butkevica/



      Das ist für normale Leser undurchsichtig. Den Inhalt des Interviews finde auch ich schwammig. Man sollte aber berücksichtigen, dass wir noch nicht in der Lage sind uns jeden Tag militärisch verteidigen zu müssen. Wir müssten wir uns eher mit dem erheblichen Maß an Kollaboration hier beschäftigen. - Natürlich: Wer Leutnant der Reserve war, war nicht Kriegsdienstverweiger. Da hätte die Interviewerin zur Klärung nachfragen müssen.

    • @Giergalgen:

      Man hätte den Mann auch gerne fragen können, ob er politisch rechts stehe und ob ihm bekannt ist, dass sein tolles Land immerhin eine Gaspipeline gesprengt hat, um eine Kriegsunterstützung zu bekommen. www.youtube.com/watch?v=sKQL5Gj1zp4

      • @Mohammed Wasiri:

        Fake-News, die Unterstützung hätte die Ukraine zum Glück auch ohne gesprengte Gaspipeline bekommen.



        BTW, Russland ist der Aggressor und von daher sind alle! Mittel recht diesen zu bekämpfen.

    • @Giergalgen:

      " .... laut Wikipedia / Amnesty war aber schon lange vor dem Maidan Leutnant der Reserve? ..." wo steht dies denn genau?



      Was ich da (bei AI ukrainisch) gefunden habe ist, dass er sich nach Kriegsbeginn zur Armee gemeldet hat und erstmal Reservist war, bevor er zum Einsatz kam.

      • @Axel Schäfer:

        Ich weiß nicht ob ich direkte Links posten darf, daher mal so: Im englischen Wikipedia Eintrag zu Maksym Butkevych wird unter Ausbildung folgendes genannt, chronologisch scheinbar eingeordnet, bevor er seinen Master in Sussex machte? Zitat: "During his education, he graduated from the military department and received the rank of lieutenant in the reserves."



        Als Quelle (7) wird auf nen ukrainischen Amnesty Artikel verwiesen, da ich kein ukrainisch kann muss man da der google Übersetzung vertrauen, die ihn auch als Reserveleutnant bezeichnet ( ? ). Vielleicht ja auch einfach ein Übersetzungsfehler, es wunderte mich nur.

  • Pflichtlektüre für Frau Wagenknecht

    • @Zahnow Gregor:

      Ich glaube nicht dass Frau Wagenknecht eine Pazifistin ist oder sich dafür hält - dafür hat sie die stark militarisierte DDR oder Stalins Säuberungsmethoden zu sehr verteidigt - und nur dann hätte diese Lektüre einen Sinn.

      Sie bedauert nicht den Krieg, sondern dass Russland ihn noch nicht gewonnen hat.

      Würde Russland einer imperialistischen Aggression gegenüberstehen, würde sie nicht von Moskau territoriale Zugeständnisse zu dessen Beendigung einfordern - so wie sie es jetzt von Kiew tut. Sie würde stattdessen die Russen zu fanatischen Widerstand bis zum Äußersten ermuntern...