Jörg Kubiessa zu Polizei Sachsen: „Beamte brauchen einen Kompass“
Die sächsische Polizei hat aus den Corona-Protesten gelernt, sagt Landespolizeipräsident Jörg Kubiessa. Ein „Leitbild“ soll künftig Skandale in den eigenen Reihen verhindern.
taz: Herr Kubiessa, Sie sind seit dem 1. April Polizeipräsident von Sachsen. In welchem Zustand haben Sie die sächsische Polizei von Ihrem Vorgänger Horst Kretzschmar übernommen?
Jörg Kubiessa: Den Zustand der Polizei mache ich immer daran fest, wie die Bürgerinnen und Bürger dieses Bundeslandes die Polizei sehen. Und ich glaube, dass wir ein hohes Vertrauen in der Bevölkerung genießen und die Bürgerinnen und Bürger zufrieden mit uns sind. Darauf dürfen wir sehr stolz sein. Trotzdem ist es natürlich so, dass es in der Vergangenheit auch einige Fehlleistungen gab, von denen uns jede einzelne wehtun sollte – und wehtut.
An welche Fehlleistungen denken Sie da?
ist seit dem 1. April 2022 Landespolizeipräsident in Sachsen. Zuvor war er Polizeipräsident und Leiter der Polizeidirektion Dresden.
Zum Beispiel an den jungen Polizeianwärter, der im Mai schwerverletzt ins Krankenhaus eingeliefert wurde, nachdem er alkoholisiert aus dem Fenster eines Lehrgebäudes der Polizeifachschule Chemnitz gestürzt war. Oder an die beiden Polizeischüler, die Ende April nach einer Exkursion zur KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora in Thüringen abends eine Frau mindestens belästigt haben – die Ermittlungsverfahren laufen noch. Das sind Sachen, die gehören nicht zu uns. So etwas darf nicht passieren.
Mitte April war bekannt geworden, dass das Mobile Einsatzkommando (MEK) Leipzig ein brutales Aufnahmeritual durchgeführt haben soll. Hinzu kommen die Fahrradaffäre und die Munitionsaffäre, die 2020 und 2021 bundesweit für Schlagzeilen sorgten. Was glauben Sie: Wieso konnte es bei der sächsischen Polizei zu so vielen Fehltritten solchen Ausmaßes kommen?
Das, was Sie berechtigterweise als Skandale beschrieben haben, war ein längerer Prozess. Wir müssen besser sicherstellen, dass Prozesse, die nicht optimal laufen, frühzeitig erkannt werden, damit Auswüchse in der Form gar nicht erst entstehen können.
Was wollen Sie ganz konkret unternehmen, um Skandale in der sächsischen Polizei künftig zu vermeiden?
Sachsens Innenminister Armin Schuster hat im Juni angekündigt, eine Qualitätsoffensive in der sächsischen Polizei zu starten. Das begrüße ich ausdrücklich.
Den Begriff Qualitätsoffensive müssen Sie erklären.
Früher nannte man das Dienst- und Fachaufsicht. Heute gehört mehr dazu, zum Beispiel ein Leitbild, Strategien und Umsetzungsmaßnahmen. Bei der Qualitätsoffensive in der sächsischen Polizei werden Führungs- und Prozessqualität, Fehlerkultur sowie Binnenklima im Zentrum stehen. Der Inspekteur der Polizei wurde bereits beauftragt, ein neues Dienst- und Fachaufsichtskonzept für die gesamte sächsische Polizei zu erstellen. Außerdem plane ich, ein Leitbild zu entwickeln, an dem sich die Beamtinnen und Beamten in Stresssituationen orientieren können. Sie benötigen einen Kompass.
Ich möchte mit Ihnen über zwei Vorfälle innerhalb der sächsischen Polizei sprechen. Vorfall eins: Der frühere Leiter des Polizeireviers Zwickau wurde im Mai von seinen Aufgaben entbunden, weil er Interna an den Chef der rechtsextremen Kleinstpartei „Freie Sachsen“, Martin Kohlmann, weitergegeben haben soll – zu einem interkulturellen Fest, das zugunsten einer rechten Demo im Mai kurzfristig abgesagt werden musste.
Gegen den Beamten läuft ein Disziplinarverfahren. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft laufen noch. Der Leiter der Polizeidirektion hat damals entschieden, den Revierleiter innerhalb seiner Dienststelle umzusetzen; das ist auch erfolgt.
Der Beamte wurde in den Stab der Polizeidirektion Zwickau versetzt. In Anbetracht des Vorwurfs ist das immer noch eine ganz schön hohe Position mit viel Verantwortung, oder?
Bei einer Entscheidung über die Umsetzung eines Beamten ist stets sein Anspruch auf amtsangemessene Verwendung als maßgebliches Kriterium zu berücksichtigen. Für den in Rede stehenden Beamten wurde eine Tätigkeit gewählt, bei der er keine Führungsverantwortung und im Vergleich zu anderen amtsangemessenen Dienstposten auch sonst keine besondere Verantwortung trägt.
Sprechen wir über den zweiten Fall. Anfang April hat das Oberverwaltungsgericht Bautzen entschieden, dass ein transsexueller Polizeischüler seine Ausbildung fortsetzen darf, nachdem er diese bei der sächsischen Polizei im Herbst 2020 als Frau begonnen hatte und rausgeworfen wurde, weil er erklärt hatte, eine Geschlechtsangleichung anzustreben. Ende April allerdings, also vier Wochen nach Ihrem Amtsantritt, hatte die Polizei Sachsen ihm immer noch keine Dienststelle zugewiesen.
Die betreffende Person nahm die Ausbildung in Schneeberg Ende Mai wieder auf. Und gestatten Sie mir nur eine Ergänzung: Wir werden in der sächsischen Polizei niemals jemanden ablehnen, weil er oder sie trans ist. Wichtig ist nur, dass man zum Zeitpunkt der Bewerbung die Wahrheit sagt.
Der Polizeischüler hatte im Sommer 2019 den Einstellungstest inklusive Sportprüfungen als Frau absolviert. Als er im Laufe der Ausbildung mitteilte, ein Mann zu sein, hat die Polizei Sachsen ihm „arglistige Täuschung“ beim Ausfüllen eines Formulars vorgeworfen – und ihn rausgeschmissen. Halten Sie die Entscheidung für gerechtfertigt?
Ich halte mich an das Urteil des Oberverwaltungsgerichtes. Darin heißt es, dass der Polizeischüler die Ausbildung vorerst fortsetzen darf. Die Entscheidung im Hauptsacheverfahren steht allerdings noch aus.
Das heißt, Sie distanzieren sich nicht von dem Rauswurf?
Ich habe Ihre Frage bereits beantwortet.
Themenwechsel. Lassen Sie uns über Ihre Demostrategie reden. Gehen Sie bei rechten Demos anders vor als bei linken?
Nein. Denn das Versammlungsrecht gilt für alle Menschen – insbesondere für diejenigen, die eine Minderheitenmeinung vertreten. Der Auftrag der Polizei ist, allen Menschen zu ermöglichen, ihre Meinung kundzutun. Egal ob linke oder rechte Demos, unsere Devise lautet: Kommunikativ, deeskalierend und verhältnismäßig agieren.
Sobald Teilnehmer einer Demo Gewalt gegen Sachen oder Menschen ausüben, ist es unsere Aufgabe, sicherzustellen, dass die Demo wieder friedlich verlaufen kann. Nur in Ausnahmefällen fordern wir den Versammlungsleiter dazu auf, die Demo zu beenden. Die Auflösung der Demo durch die Polizei ist das allerletzte Mittel.
In Sachsen finden nach wie vor jeden Montag Coronademos statt – organisiert von den „Freien Sachsen“. Inzwischen geht es aber nicht mehr nur um die Corona-Politik und die einrichtungsbezogene Impfpflicht, sondern vor allem um die Gaskrise. Laut den Rechtsextremen drohe Deutschland ein „Energielockdown“. Wie verlaufen die Demos?
Relativ friedlich. Wir haben die Lage ganz gut im Griff. Wenn es zu Störungen kommt, schreiten wir ein. Unterstützung von der Bundespolizei und von anderen Bundesländern brauchen wir momentan nicht.
Sind Sie vorbereitet auf die für den Herbst erwarteten massiven Proteste?
Eine wichtige Fähigkeit, die man als Polizist besitzen muss, ist, aus der Bewältigung vergangener Herausforderungen zu lernen. Doch nur, weil die Proteste im vergangenen Herbst und Winter so heftig waren, heißt das nicht, dass sich das diesen Herbst wiederholen wird. So einfach ist es leider nicht.
Aber gehen wir mal davon aus, dass die von Rechtsextremen initiierten Proteste diesen Herbst dasselbe Ausmaß annehmen werden wie im vergangenen.
Wir haben im vergangenen Winterhalbjahr – als in Sachsen aufgrund der hohen Infektionszahlen völlig nachvollziehbar zeitweise nur Versammlungen mit zehn Teilnehmern erlaubt waren – eine Reihe von Erfahrungen gemacht, mit denen wir uns zutrauen, die Proteste im kommenden Winter zu bewältigen. Aber meine Berufserfahrung sagt mir: Das wiederholt sich nicht so schnell.
Was würden Sie denn anders machen als Ihr Vorgänger, falls die Demonstrierenden genauso gewaltbereit sein sollten und zum Beispiel Polizist:innen und Journalist:innen angreifen?
Dann müssen wir als Polizei so stark vor Ort sein, dass wir auch handeln können. Es reicht ja nicht, nur gegen die gewalttätigen Teilnehmer vorzugehen. Es geht auch darum, die friedlichen Demonstranten zu schützen. Deswegen müssen wir so stark sein, dass wir beides können.
Kommen wir zu einem anderen Thema: 37 Prozent der Polizist:innen, die Berlin im Frühjahr 2022 eingestellt hat, haben eine Migrationsgeschichte. Sachsen erhebt solche Zahlen nicht. Welche Maßnahmen ergreifen Sie, um Menschen aus Einwandererfamilien für den Polizeiberuf zu motivieren?
Die Polizei Sachsen stellt sich auf Jobmessen vor, um für den Polizeiberuf zu werben. Dort bekommen natürlich auch Menschen mit Migrationsgeschichte die Gelegenheit, mit uns zu sprechen.
Die Berliner Polizei zum Beispiel beteiligt sich an einem Programm, das Jugendliche mit Migrationshintergrund bei der Berufswahl unterstützt und Praktika im Öffentlichen Dienst vermittelt…
Die sächsische Polizei wirbt im Rahmen der Kampagne „Verdächtig gute Jobs“ durch entsprechende inhaltliche Gestaltung der Plakate, Werbefilme und Broschüren um Personen mit Migrationshintergrund. Wir haben Broschüren auf Polnisch und Tschechisch. Außerdem ist die sächsische Polizei bestrebt, auf ihren Social-Media-Kanälen die Vielfalt der Polizeibediensteten abzubilden. Speziell versuchen wir, die bereits vorhandenen Kolleginnen und Kollegen mit Migrationshintergrund für Öffentlichkeitsmaßnahmen zu gewinnen. Die Teilnahme ist allerdings freiwillig.
Wieso gibt es die Broschüren nur auf Tschechisch und Polnisch und nicht auch auf Arabisch, Persisch oder Kurdisch?
Das hat damit zu tun, dass wir ganz eng mit den tschechischen und polnischen Kollegen zusammenarbeiten.
Fänden Sie es denn gut, wenn sich die Zahl der migrantischen Polizist:innen in Sachsen erhöhen würde?
Die Polizei ist – und davon bin ich zutiefst überzeugt – kein Spiegelbild der Gesellschaft. Denn wir stellen nach Eignung, Leistung und Befähigung ein. Natürlich wird uns Diversität in der Polizei immer besser machen. Ich persönlich tue mich aber schwer damit, irgendeinen Maßstab festzulegen im Sinne von: Wenn so und so viel Prozent der Polizisten eine Migrationsgeschichte haben, dann wäre das so und so.
Aber wir müssen offen sein – so wie wir es vor vielen Jahren in Bezug auf Frauen in der sächsischen Polizei waren. Polizistinnen waren damals durchaus etwas Neues für eine männerorientierte Polizei. Und heutzutage ist es mit Fug und Recht ein Stück Normalität geworden, dass sowohl Männer als auch Frauen im Streifenwagen sitzen.
Im sächsischen Koalitionsvertrag von 2019 heißt es, dass eine anonymisierte Kennzeichnung von Polizeibediensteten eingeführt werden soll. Eine solche Kennzeichnung würde es Bürger:innen erleichtern, Polizist:innen zu identifizieren, von denen sie sich ungerecht behandelt fühlen. Warum gibt es diese Kennzeichnung noch nicht?
Wir müssen noch klären, wie wir das mittels digitaler IT-Software in der Praxis tatsächlich umsetzen können. Die Kennzeichnung soll ja anonymisiert und nicht wiedererkennbar sein.
Im Koalitionsvertrag steht außerdem, dass Betroffene anlassloser Kontrollen als Nachweis eine Kontrollbescheinigung bekommen sollen. Zwar kann schon heute jede Person, die von der Polizei kontrolliert wird, eine schriftliche Bescheinigung verlangen – das wissen aber die wenigsten. Ist die Quittierung Pflicht, könnte die Zahl rassistischer Kontrollen eingeschränkt werden, schließlich müssten Polizist:innen dann jede einzelne Personenkontrolle schriftlich begründen. Wann werden Sie die verpflichtende Kontrollbescheinigung einführen?
Wie und wann die Kontrollbescheinigung bei anlasslosen Kontrollen umgesetzt werden soll, wird derzeit noch diskutiert.
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