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Joanna Maycock über den Brexit„Die Verwundbarsten sind die Frauen“

Hätte Großbritannien eine gute soziale und medizinische Versorgung, hätten viele Frauen gegen den EU-Ausstieg gestimmt, sagt die Chefin der European Women’s Lobby.

„Sie haben gestimmt wie die Männer, aber ihre Gründe sind andere“, sagt Joanna Maycock über die britischen Frauen. Hier laufen welche beim Glastonbury Festival durch den Matsch Foto: ap
Heide Oestreich
Interview von Heide Oestreich

taz: Mrs Maycock, was haben Sie getan, als Sie Freitagmorgen vom Ausgang des Referendums hörten?

Joanna Maycock: Ich habe geweint. Ich hätte niemals gedacht, dass die Menschen für so etwas Selbstzerstörerisches stimmen würden. Und dann habe ich gedacht: Okay, wir müssen uns organisieren. Unsere Lektion lautet: Wir müssen den Frust und den Ärger der Leute ernst nehmen. Wir, die Progressiven, müssen die Bedrohung durch die extreme Rechte und den Populismus sehr viel ernster nehmen. Das heißt: nicht einfach den Leuten erzählen, was sie denken sollen, sondern sich außerhalb unserer Community engagieren und dort zuhören. Die Menschen, die nicht in einer unserer Blasen in Berlin, London oder Brüssel leben, fühlen sich hilflos der zunehmenden Globalisierung ausgesetzt.

Die Frauen haben zum gleichen Prozentsatz wie die Männer für den Brexit gestimmt, es gab keinen „Gender-Split“. Wundert Sie das?

Sie haben gestimmt wie die Männer, aber ihre Gründe sind andere. Sie sind auch frauen- und sozialpolitisch: Verliere ich meinen Job, wenn ich Kinder bekomme? Wie sieht dann meine Zukunft aus? Wie ist die Kinderbetreuung, wie die Gesundheitsvorsorge? Hätten wir ein sozial- und frauenpolitisch stabiles System, dann wäre es nicht zu so einer Entscheidung gekommen.

Welche Auswirkungen eines möglichen Austritts Großbritanniens aus der EU auf Frauen erwarten Sie?

Unsere Wirtschaft wird leiden, und damit werden Jobs verloren gehen. Und viele Frauen arbeiten in prekären Jobs, die in einer Krise immer zuerst abgebaut werden. Die Verwundbarsten sind die schwarzen Frauen, die Musliminnen, die Frauen mit Migrationshintergrund. Sie sind doppelt getroffen, weil durch dieses Referendum auch der Rassismus in der Gesellschaft stark zugenommen hat.

Die EU hat mit mehreren Richtlinien als eine Art Motor der Frauenrechte gewirkt. Der Motor ist nun weg. Was bedeutet das für die Frauen in Großbritannien?

Gute Frage. Schon in den Römischen Verträgen war „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ festgeschrieben. Es gab mehrere Richtlinien zur Gleichbehandlung von Frauen und gegen Diskriminierung, die nationales Recht wurden. Unsere gesamte Antidiskriminierungspolitik beruht auf diesen Rechten. Ich würde aber sagen, dass dieser Motor nur bis 2008 gut funktioniert hat. Das hat viele Ursachen, aber eine ist die Austeritätspolitik. Die ist ohnehin für das soziale Europa ein Desaster. Aber sie ist ein besonderes Desaster für die Frauen.

Bild: European Women's Lobby
Im Interview: Joanna Maycock

ist Generalsekretärin der European Women‘s Lobby, der Dachorganisation von etwa 2.000 Frauenverbänden in ganz Europa. Sie ist Britin und glücklicherweise zusätzlich Belgierin und kann die EWL deshalb weiter in Brüssel vertreten.

Das wäre ein linkes Argument für einen Brexit.

Nein. Der Neoliberalismus ist eine globale Norm, auf die wir nur Einfluss nehmen können, wenn wir uns zusammenschließen. Und unser Zusammenschluss ist die EU. Wir wollen eine bessere EU, nicht keine EU.

Wird sich mit dem Referendum auch die Frauenpolitik in Großbritannien generell verändern? Weil die Rechte im Aufwind ist?

Ja, das ist eine meiner größten Sorgen. Denn die PopulistInnen sind ja nicht nur rassistisch, sie sind auch frauenfeindlich. Sie haben eine antifeministische und eine Anti-LGBT-Agenda, sie sind gegen die Menschenrechte. Und sie fördern eine Art von Aggression, deren Einfluss wir am Mord an Jo Cox sehen können.

Was heißt das für Deutschland?

Sie in Deutschland müssen von uns lernen. Bei Ihnen grassiert dieselbe Anti-EU-Stimmung wie in England. Das ist mein Appell an Sie: Lassen Sie diese Stimmung nicht einfach weiter einsickern in Ihre Gesellschaft. Hören Sie zu, diskutieren Sie. Seien Sie nicht hochmütig. Meine Hoffnung ist, dass wir, die Progressiven, Europa vor dem Faschismus retten können.

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9 Kommentare

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  • 6G
    6474 (Profil gelöscht)

    eine 48 jährige frau interviewt eine andere frau ähnlichen alters und beide kommen zu dem schluss das es natürlich DIE frauen am schlimmsten treffen wird.

     

    natürlich nicht die kinder, nicht die jungen unter 30 jährigen, nicht die osteuropäer,nicht die anderen migranten, nicht die farbigen briten-Nein!DIE frauen!!!!

    das die frauen genauso gewählt haben wie die männer fällt dann auch nicht mehr ins gewicht

  • "Hören Sie zu, diskutieren Sie. Seien Sie nicht hochmütig."

     

    Laut einer aktuellen Umfragen trauen sich 45% der Deutschen nicht mehr, ihre abweichende Meinung öffentlich zu äußern. Mag das am Hochmut liegen, die jeder, dessen Meinung nicht "korrekt" ist, als Nazi, Pack und Dunkeldeutschland beschimpft wird?

  • Thanks Mrs. Maycock for this interview.

    You have put it in a nutshell, the case of right wing and populist incitement is against human rights and minorities equalisations.

     

    I think to identify with the nation and fear of "criminal immigration" is widespread also among women.

     

    Social and welfare issues rather had not been important in the referendum campaigns - in contrast to Scottland's.

    To the contrary, John Redwood argued for Brexit to get rid of all the EU regulations.

     

    Danke für dieses Interview.

    Mrs. Maycock, Sie bringen es auf den Punkt.

    Ich denke, dass die Identifikation mit der Nation und die Angst vor den "kriminellen Ausländern" eben auch unter Frauen weit verbreitet ist.

    Die sozialpolitischen Fragen scheinen ja gerade kein Thema gewesen zu sein.

    Im Gegenteil, in der Kampagne von John Redwood ging es darum "Regulierungen abzubauen".

  • Wieder so eine boulevardesk verkürzte und verfälschende Überschrift!

     

    Die Äußerung lautete: "Die Verwundbarsten sind die schwarzen Frauen, die Musliminnen, die Frauen mit Migrationshintergrund." - innerhalb der Gruppe der Frauen insgesamt, wohlgemerkt. Jobbedingt redet Frau Maycock nicht über die Verwundbarkeit von Männern.

  • Alle Frauen Stimmen zusammen hätten gereicht das Votum zu bestimmen - also sind die Frauen auch massgeblich am Brexit beteiligt.

  • Wenn es keinen Gender-Split gibt, liegt es an der Benachteiligung der Frauen.

     

    Also das ist neu.

    • @sart:

      Falsch interpretiert, es geht nicht um die Benachteiligung von Frauen gegenüber Männern, es geht um den allgemeinen Sozialabbau, der Frauen deshalb härter trifft als Männer, weil sie zusätzlich die Verantwortung für die Kinder haben, sobald welche da sind.

      • @cursed with a brain:

        Wenn Frauen unter allgemeinem Sozialabbau mehr zu leiden haben, ist das dann doch eine Benachteiligung der Frauen, oder nicht?

         

        Aber selbst, wenn ich das tatsächlich falsch interpretiert habe und wir die Benachteiligung weglassen, verstehe ich es immer noch nicht:

         

        Es bestand beim Wahlverhalten kein Unterschied zwischen den Geschlechtern. Das ist doch eigentlich das, was idealerweise sein sollte.

         

        Laut Maycock haben die Frauen im Schnitt so abgestimmt wie die Männer, weil sie härter vom Sozialabbau getroffen werden. Wenn Sie nicht härter betroffen wären, hätten sie eher für "Remain" gestimmt.

         

        Aber müsste man nicht erwarten, dass Frauen und Männer gleich abstimmen, wenn sie gleichermaßen vom Sozialabbau betroffen wären? Und genau umgekehrt Frauen tendenziell anders wählen müssen, da sie ja im vergleich zu den Männern durch den allgemeinen Sozialabbau eine Mehrbelastung haben?

         

        Das würde ja bedeuten, dass Frauen grundsätzlich EU-freundlicher sind, was aber durch die Mehrbelastung beim Sozialabbau soweit ausgeglichen wird, dass sie so wie die Männer abgestimmt haben.

         

        Ganz ehrlich, ich verstehe es echt nicht.

    • @sart:

      Habe nichts anderes erwartet. Schon Hillary Clinton sagte, das die Opfer von Krieg in erster Linie Frauen sind. Weil diese ihre Söhne und Männer verlieren.

       

      Seit dem weiß ich... egal was, Opfer sind immer Frauen. Das Männer sich durch fehlende soziale Absicherung noch mehr kaputt schuften müssen für die Familie ist doch eh etwas normales. Die sind das gewohnt, also keine Opfer.