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Jazz-Saxofonist David MurrayBebop in der Hinterhand

Der New Yorker David Murray ist eine wichtige Figur der Downtown-Loftszene. Nun kommt der politische Künstler zum Berliner Jazzfest. Ein Portrait.

Schafft mit Zirkularatmung aggressiv-raue und zerklüftete Tongebirge: David Murray Foto: Gregg Greenwood

Es ist 11 Uhr morgens in Harlem, als sich David Murray in New York zum Zoom dazuschaltet. Er ist guter Dinge. Am Tag zuvor war er mit vielen anderen bei den „No Kings“-Demonstrationen, landesweiten Protesten gegen Donald Trump und seinen autokratischen Herrschaftsstil. Sieben Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner sind im ganzen Land gegen Trumps Politik auf die Straße gegangen.

„Dieser Präsident ist das Schlimmste, das dem Land je passiert ist“, erklärt der 70-jährige Künstler ernst. In seinen Kompositionen und Improvisationen reflektiert er die aktuellen Ereignisse und sieht ein Land am Niedergang. „Ich spiegele die Gesellschaft in meiner Musik, ich kann nicht anders, das ist wie Treibstoff für meine Kunst.“

Murray kam 1975 aus Kalifornien nach New York, um in die Downtown-Freejazz- und Loft-Szene einzutauchen. Seitdem hat der Saxofonist und Bassklarinettist mehr als 200 Alben veröffentlicht und in unterschiedlichsten Formationen gespielt, vom World Saxophone Quartett über Cecil Taylor und Anthony Braxton bis hin zu Questlove und The Grateful Dead. Mit der ausgefeilten Technik von Zirkularatmung schafft es Murray, in langen Solo-Passagen und Überblasungen aggressiv-raue und zerklüftete Tongebirge mit überraschend zarten Melodielinien und Gospel zu verbinden.

Inspiriert von Vögeln

2024 wurde sein Quartett-Album „Francesca“ von der New York Times zum Jazzalbum des Jahres gewählt. Jetzt präsentiert Murray anlässlich seines 50-jährigen Bühnenjubiläums beim Eröffnungskonzert des Berliner Jazzfests das neue Projekt „Birdly Serenade“. Musikproduzent Randall Poster, zuständig unter anderem für die Soundtracks von Wes Andersons Filmen, hatte Murray für sein „Birdsong Project“ angefragt: Er sollte Jazzkompositionen zu Vogelgesängen beisteuern, nachdem Poster Murray bei einem Auftritt im New Yorker Jazzclub „Blue Note“ gehört hatte.

In den Adirondack Mountains nördlich von New York wollte Murray während einer Künstlerresidenz mit seiner Frau, der Dichterin Francesca Cinelli, den Vögeln zuhören und dann komponieren. Jedoch, so Murray, waren zu jener Zeit dort keine Vögel mehr ansässig, sie waren bereits in den Süden aufgebrochen. So entstanden die Stücke teilweise auf Grundlage von Gedichten Cinellis, aber auch als Referenz an den „Bird“ des Jazz, den Bebop-Saxofonisten Charlie Parker.

Konzert beim Jazzfest Berlin

David Murray live, „Haus der Berliner Festspiele“, 31. 10., 18.30 Uhr

David Murray, geboren 1955 in Oakland, Kalifornien, spielte bereits als Achtjähriger Altsaxofon in der Murray-Familienband, die auch Musik für die örtliche Gospelgemeinde machte. Mit 15 Jahren wechselte er nach dem Besuch eines Konzerts von Saxofonist Sonny Rollins zum Tenor. „Ich sagte meinem Vater: Sonny Rollins. Ich möchte genau so ein Saxofon haben wie er. Mein Vater war Müllmann, aber war Mitglied einer Kreditgenossenschaft. Mit seiner Hilfe konnte ich einen Kredit aufnehmen, und innerhalb von zwei Tagen hatte ich die Kanne am Start.“

Mit 70 auf dem Karriere-Höhepunkt

Später folgt Murray seinem Idol Rollins auch nach New York und zieht mit Anfang 20 in die Stadt, wo er schnell Teil der Loft-Szene von Lower Manhattan wird. „Wir organisierten uns, klebten Plakate mit Konzertterminen und traten in verlassenen Fabriketagen auf“, erinnert er sich. „Die Leute waren hungrig nach Musik. Sie hatten genug vom Bebop und wollten freie Musik hören. Viele Leute verbinden mich mit der Avantgarde, aber ich hatte Bebop immer in der Hinterhand. Denn er ist Teil der Geschichte der Schwarzen und es gibt keine höhere Form dieser Geschichte als Bebop.“

1977 gründet Murray dann das World Saxophone Quartet, 1980 sein Oktett, mit dem er 1996 auch auf dem Coveralbum „Dark Star“ die Musik von Grateful Dead interpretierte, gemeinsam mit Dead-Gitarrist Bob Weir. Zurzeit liegt Murrays kreativer Fokus eher bei seinem jungen Quartett. „Wissen Sie“, erklärt er, „ich fühle mich gerade auf dem Höhepunkt meiner Karriere und möchte auch in den nächsten zwanzig Jahren dort bleiben.“

Er sei dankbar dafür, mit Musikern gespielt zu haben, die ihn zuvor inspiriert hatten: Cecil Taylor, Don Cherry, Elvin Jones, Mal Waldron und Pharoah Sanders. „Es sind nun mal Pioniere, ihre Stimmen sind alle in mir und ich möchte ihre Tradition fortsetzen. Wenn ich inzwischen selbst zu den Älteren gehöre, Helden einer jüngeren Generation, dann muss ich mich ziemlich ins Zeug legen, denn es gab vor mir einige großartige Anführer, wie Sonny Rollins. Er spielt nicht mehr, aber er ist noch immer eine große Inspiration. Und da müssen wir weitermachen.“

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