Japanischer Comic-Großmeister: Der einarmige Zeichner
Shigeru Mizuki schuf Antikriegs-Mangas. Und er erzählt auf phantastische Weise von seiner Jugend in Japan vor und während des Zweiten Weltkriegs.
In der japanischen Armee heißt es: Strohmatten und Rekruten haben eines gemein – je mehr man sie schlägt, desto besser werden sie.“ Diesen Spruch hat sich der Rekrut Shigeru leicht merken können – denn schon beim kleinsten Widerspruch gegenüber Ranghöheren, selbst bei einer harmlosen Frage, hagelte es Backpfeifen. Der so Schikanierte sollte 1944, bei einem Bombardement der US-Armee, seinen linken Arm verlieren.
Obwohl Linkshänder, lernte er daraufhin, mit dem rechten Arm zu schreiben und zu zeichnen. Und wurde zu einem der berühmtesten Mangaka (Comiczeichner) Japans.
Shigeru Mizuki lebte von 1922 bis 2015 und war bis vor wenigen Jahren außerhalb Japans noch weitgehend unbekannt. Nach ersten Übersetzungen ins Englische und ins Französische wurde er in Angouleme 2007 mit dem Preis für das beste Album (für „Tante NonNon“) ausgezeichnet. Im letzten Jahr hat der Reprodukt Verlag begonnen, auch deutschen Lesern eine Auswahl seiner wichtigsten Werke zugänglich zu machen („Hitler“, „Auf in den Heldentod“), und setzt diese Reihe nun fort.
Mizukis Vielseitigkeit sticht dabei sofort ins Auge. Er arbeitet sowohl mit fantastischen wie auch mit realistischen, autobiografischen oder historischen Bezügen. Ästhetisch unterscheidet sich Mizukis Stil deutlich vom herkömmlichen Manga, den der von Walt Disney beeinflusste „Gott des Manga“ Osamu Tezuka („Kimba“, „Astro Boy“) nach 1945 entscheidend prägte.
Shigeru Mizuki: „Kindheit und Jugend“. Reprodukt Verlag, Berlin 2020, 480 Seiten, 24 Euro
Shigeru Mizuki: „Auf in den Heldentod!“. Reprodukt Verlag, Berlin. 384 Seiten, 20 Euro
Keine Rehaugen
Überwiegen in Mainstream-Mangas häufig schematische Figurendarstellungen – etwa übergroße Rehaugen, überlange Beine der Protagonisten, effekthascherisches Seitenlayout –, so geht Mizuki einen anderen Weg. Er zeichnet seine Figuren als einfache, oft ins Groteske überzeichnete Karikaturen und schafft für sie realistische Hintergründe. Diese entstehen meist auf der Grundlage von Fotos. Seine Erzählweise ist dabei insgesamt humoristisch und satirisch.
Mizukis Karriere begann nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Zeichnen von Bilderfolgen für das japanische Kamishibai-Papiertheater. Danach schuf er erste Mangas für Leihbibliotheken. 1959 erfand er die Figur, die seinen Ruhm begründete: „Kitarō, der Geisterjunge vom Friedhof“. Mit dieser und weiteren Mangaserien (sowie deren Anime-Verfilmungen) belebte er alte japanische Volksmärchen neu – Generationen japanischer Kinder lernen diese seitdem vor allem in Mizukis Version kennen.
„Kindheit und Jugend“ heißt das zuletzt erschienene Werk, das sich hervorragend als Einstieg in Mizukis Universum eignet. Es ist der erste von drei Bänden einer 1.500-seitigen gezeichneten Autobiografie. Sie beginnt mit der Geburt des Zeichners in Osaka und endet mit der Einberufung zum Kriegsdienst 1943.
An Japans Westküste
Es erzählt zunächst vom behüteten Aufwachsen des kleinen Shigeru in bürgerlichem Milieu in der Kleinstadt Sakaiminato an Japans Westküste. Und von einer zunehmend fragilen Gesellschaft. Durch die Weltwirtschaftskrise 1929 endet eine Ära des Wohlstands. Große Bevölkerungsteile verarmen. Der kulturbeflissene Vater, der zeitweilig ein Kino betrieb, hat zunehmend Schwierigkeiten, seine Familie zu versorgen.
Tante NonNon, eine verarmte alte Frau, wird zu Shigerus Kindermädchen. Sie führt ihn in die gruselige Welt des japanischen Aberglaubens ein. Fortan lauern dem kleinen Shigeru an jeder Ecke „Yōkai“, Geister, auf. Die Welt der Kinder ist nicht gerade unschuldig: Banden der Nachbarorte liefern sich brutale Straßenkämpfe.
In der Schule ist Shigeru bei Mitschülern beliebt, da er auf Kommando – besonders gerne in feierlichen Momenten – laut zu furzen versteht. Als Jugendlicher ist er träge und verfressen. Doch liest er auch gerne Bücher, besonders Eckermanns Gespräche mit Goethe. In einer Szene wandelt Shigeru verträumt, „auf der Suche nach Frau von Stein“ durch die Straßen und stellt sich Sakaiminato als Weimar vor.
Mit oft hinreißender Selbstironie gelingt Mizuki so ein oftmals abgründiges Porträt seiner Jugend. Der zunehmende Nationalismus in Japan wird früh gestreift. Der Zeichner erinnert daran, wie die Soldaten bereits von kleinen Kindern als Helden verehrt wurden. Unterbrochen werden die aus Sicht Shigerus erzählten Episoden gelegentlich von Kommentaren des „Rattenmannes“. Sie ist eine bekannte Yōkai-Figur aus „Kitarō“ und fungiert hier als Alter Ego Mizukis. So vermag der Autor, Erläuterungen zu politischen Ereignissen im zunehmend imperialistisch-aggressiven Japan einzustreuen.
Zweiter Weltkrieg
Und schließlich ist der Krieg da. Nach der Grundausbildung, in der Mizuki sich selbst als tölpelhaften „Schütze Arsch“ zeichnet, werden die Soldaten auf einen übervollen Frachter gepfercht und ins Zentrum des Krieges nach Guadalcanal befördert. Ein Vorgeschmack auf das später erlebte Selbtmordkommando: in Panik erdrücken sich die Soldaten fast selbst, als sie bei einem falschen Alarm über die Strickleiter an Deck zu kommen versuchen. Danach erfahren sie: es war nur eine Notfallübung.
Der erste Teil der in den 2000er Jahren entstandenen Autobiografie bietet einen derb-humorigen, aber auch tiefsinnigen Einblick in eine nur scheinbar fremde Kultur und ein reiches Leben. Sie bricht vor dem entscheidenden Kriegseinsatz ab. Doch gibt es die Möglichkeit, die Lektüre sogleich fortzusetzen und zum Band „Auf in den Heldentod!“ zu greifen.
In diesem bereits 1973 erschienenen Antikriegs-Manga schilderte Mizuki seine Erfahrungen im Pazifikkrieg minutiös und als Fiktion getarnt (hier nennt er sich, erkennbar an der runden Brille, Maruyama). Zunächst glauben die Rekruten angesichts der idyllischen Inselkulisse Neu-Britanniens (Papua-Neuguinea), im Paradies gelandet zu sein. Doch sie werden durch unsinnigste Befehle aufgerieben.
Einige sterben an Malaria, andere werden von Krokodilen gefressen oder ersticken auf absurde Weise beim Fischfang. Die Versorgung ist knapp. Der dauerhungrige Maruyama versteckt gar eine Bananenstaude in einem Bombentrichter.
Kauzige Typen
Die einfachen japanischen Soldaten werden keineswegs, wie oft fälschlich verallgemeinert, als fanatisierte Harakiri-Kämpfer charakterisiert. Es sind eher normale, kauzige Typen, Zwangsrekrutierte, die den Entscheidungen der kaiserlichen Offiziere hilflos ausgeliefert sind. Sie werden zu Beginn ihres Einsatzes auf den „Heldenkampf“ eingeschworen. Und sollen den „Heldentod“, als die Niederlage des kaiserlich-faschistischen Regimes bereits absehbar ist, unbedingt noch sterben – wie einst der berühmte, kaisertreue Samurai Dai-Nankô.
Die nationalistisch aufgeladene, mit Samurai-Legenden veredelte Ideologie der höheren Ränge macht Mizuki mit einfachen, aber effektiven künstlerischen Mitteln anschaulich. Auf dem Höhepunkt seiner Rede bekommt der Bataillonskommandeurs einen Strahlenkranz um sich herum gezeichnet, passend zu dessen feierlich-dümmlichem Pathos.
Nach der Schlacht schafften es dann doch einige aus der dem Tod geweihten Kompanie ins Lager zurück. Zwei ihrer Leutnants mussten Harakiri begehen, um die Schande des Rückzugs wiedergutzumachen. Gegen Ende überzeichnet Mizuki die Wirklichkeit, indem er die anmaßenden Befehle des Kommandostabs ins Absurde steigert.
Als Kontrast zu den karikiert gezeichneten Charakteren und den satirisch zugespitzten Dialogen collagiert und bearbeitet Mizuki Fotografien von Kriegshandlungen vor tropischer Kulisse, was oft einen irritierenden hyperrealen Effekt erzeugt. So erschafft Mizuki ein dichtes apokalyptisches Panorama eines sinnlosen Krieges, das für seine Entstehungszeit ungewöhnlich und mutig war. Ähnlich wie der im gleichen Jahr 1973 erschienene epische Manga „Barfuß durch Hiroshima“, in dem der Zeichner Keiji Nakazawa den selbst erlebten Atombombenabwurf auf Hiroshima verarbeitete.
Shigero Mizukis Mangas sind eine echte Entdeckung. Sie bieten eine Fülle erhellender Details über die Geschichte und Kultur Japans und sind dabei höchst unterhaltsam zu lesen.
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