Jahrestag des G20-Gipfels in Hamburg: Jugendliche am Pranger
Zwei Jahre nach dem G20-Gipfel läuft die Fahndung weiter auf Hochtouren. Bislang wurde keine Anklage gegen Polizisten erhoben.
Die Öffentlichkeitsfahndung: Kernpunkt der Ermittlungen gegen G20-RandaliererInnen ist die Öffentlichkeitsfahndung – die größte in der Geschichte der Bundesrepublik. Mit Fotos von insgesamt 413 Personen, die auch viele Medien bereitwillig publizierten, versuchte die Polizei, Verdächtige zu identifizieren, was bei einem Drittel, genau in 133 Fällen gelang. Zuletzt stellte die Polizei Anfang Juli erneut Fotos 13 unbekannter Verdächtiger ins Netz.
Die Fahndung ist ethisch und rechtlich höchst umstritten, da auch nach vielen Minderjährigen gefahndet wurde und wird. Der taz sind mehrere Fälle bekannt, in denen Fahndungsfotos von unter 16-Jährigen publiziert wurden. Eine Öffentlichkeitsfahndung darf ohnehin nur als das letzte Mittel bei besonders schweren Straftaten angewendet werden. Das Jugendstrafrecht schützt jugendliche Verdächtige zudem vor der Öffentlichkeit.
Nach wie vor weigert sich die Polizei beharrlich, die von Medien und der parlamentarischen Opposition gestellte Frage zu beantworten, wie viele der 133 Identifizierten unter 21, unter 18 oder gar jünger als 16 Jahre waren. Die Begründung: Es gebe darüber keine Statistik, der Aufwand, die 133 Akten zu sichten, sei nicht zu bewältigen.
Die weiteren Ermittlungen: Laut Polizei wurden nach dem G20-Gipfel insgesamt 3.567 Strafverfahren gegen mutmaßliche Gewalttäter eröffnet. Es geht dabei meist um die Delikte schwerer Landfriedensbruch, tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte, gefährliche Körperverletzung und Sachbeschädigung. 1.228 Beschuldigte sollen bislang identifiziert sein. Auch wenn die Soko „Schwarzer Block“ inzwischen aufgelöst wurde, sind heute noch immer 30 ErmittlerInnen mit der Fahndung nach Verdächtigen beschäftigt.
Die Urteile: 310 Anklagen wurden gegen mutmaßliche Randalierer erhoben. In 147 Fällen kam es bislang zu einer Verurteilung der Angeklagten. Dazu kommen diverse Strafbefehle, deren Zahl nicht erfasst wurde. Dem stehen 15 Freisprüche gegenüber. 19 Verfahren wurden eingestellt. Ex-Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) forderte nach dem Gipfel „harte Urteile“ gegen die Gewalttäter und bekam sie. Die Anwälte der Angeklagten weisen durch die Bank darauf hin, dass in der Vergangenheit bei vergleichbaren Delikten auf Demonstrationen – etwa Flaschenwürfen gegen PolizistInnen – wesentlich milder geurteilt wurde. Statistische Auswertungen gibt es darüber allerdings nicht.
Das härteste Urteil erging erst vergangenen Montag: Amtsrichter Johann Krieten verurteilte einen 36-Jährigen wegen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren mit der Begründung; „Damit es keine weiteren Gewaltorgien gibt, müssen klare Ansagen gemacht werden.“ Krieten ist auch für zwei weitere der härtesten G20-Urteile verantwortlich: Er verhängte einmal zwei Jahre und sieben Monate und einmal dreieinhalb Jahre Haft gegen zwei Beschuldigte. In beiden Fällen korrigierte die Berufungsinstanz die Urteile deutlich nach unten.
Politische Aufarbeitung: Ein parlamentarischer Sonderausschuss zur G20-Aufarbeitung verlief weitgehend ergebnislos. Viele Zeugen mauerten, neue Erkenntnisse gab es kaum, einen gemeinsamen Abschlussbericht überhaupt nicht.
Mitgegangen, mitgehangen: Eine veränderte Rechtsprechung versucht die Hamburger Staatsanwaltschaft im Prozess um die Ausschreitungen in der Elbchaussee durchzusetzen. Sie fordert hohe Haftstrafen ohne Bewährung für fünf junge Männer, die nachweislich keine Gewalttaten und Sachbeschädigungen begangen haben. Ihr Rechtskonstrukt: Der Aufmarsch an der Elbchaussee sei keine Demo gewesen, aus der heraus Straftaten begangen wurden, sondern eine Verabredung sämtlicher TeilnehmerInnen, schwere Straftaten zu begehen.
Dies sei arbeitsteilig geschehen: Einige Personen hätten geplündert und gebrandschatzt, der Rest der Menge habe sie durch seine Anwesenheit geschützt. Deshalb seien allen Teilnehmerinnen der Versammlung sämtliche Straftaten zuzuordnen, die aus der Versammlung heraus begangen wurden – auch denen, die die Versammlung schon nach wenigen Minuten verließen.
Kann die Staatsanwaltschaft diese Rechtssicht im laufenden Verfahren durchsetzen, sehen kritische Juristen, etwa der Republikanische Anwaltsverein, das Demonstrations- und Versammlungsrecht grundlegend in Gefahr.
Die politisch Verantwortlichen: Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) wurde von vielen HamburgerInnen für das Gipfeldebakel politisch verantwortlich gemacht. Er verlor in Meinungsumfragen drastisch und verabschiedete sich nach Berlin, wo er als Vizekanzler nun Seit an Seit mit Angela Merkel (CDU) regiert, mit der er zusammen den Gipfel nach Hamburg geholt hatte. Innensenator Andy Grote (SPD) ging im Windschatten von Scholz nahezu unbeschadet aus dem Gipfeldesaster hervor.
Polizeieinsatzleiter Hartmut Dudde stieg zum Leiter der Schutzpolizei auf und damit zum Chef aller 5.000 uniformierten PolizistInnen Hamburgs. Die Innenbehörde genehmigte ihm die Besoldung B3 auf Lebenszeit: mehr als 7.600 Euro brutto im Monat. Dudde ist nun der drittmächtigste Polizist der Stadt.
Die andere Seite: Politisch mitverantwortlich für die militanten Ausschreitungen machten sämtliche Parteien außer der Linken in den Tagen nach dem Gipfel die Rote Flora und forderten Konsequenzen für das autonome Zentrum am Schulterblatt. Inzwischen haben die Ermittlungen von Staatsanwaltschaft und Polizei die Flora weitgehend rehabilitiert – sie sei kein Kommunikationsknotenpunkt im Rahmen der Ausschreitungen und auch kein Ausgangspunkt von Straftaten gewesen. Während SPD und Grüne sich aus ihrer Das-muss-Konsequenzen-haben-Rhetorik herausgeschlichen haben, fordern die CDU und vor allem die AfD noch immer mit Verweis auf die Gipfeltage die Schließung.
Prozesse gegen Polizistinnen: Insgesamt gab es 156 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten, die während des Einsatzes rechtswidrig Gewalt ausgeübt haben sollen. 96 dieser Verfahren wurden bereits eingestellt, bislang ist es zu keiner einzigen Anklage, geschweige denn zu einer Verurteilung gekommen. In 43 Fällen sah die Staatsanwaltschaft keinen dringenden Tatverdacht, 53-mal konnte der beschuldige Beamte nicht ermittelt werden. Auch deshalb wird Hamburg nun die Kennzeichnungspflicht für Polizisten einführen.
Urteile über den Polizeivollzug gab es hingegen in mehreren Zivilprozessen. Das Hamburger Verwaltungsgericht erklärte diverse Verhaftungen von G20-GegnerInnen und deren Behandlung in der Gefangenen-Sammelstelle für eindeutig rechtswidrig.
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