Jahrestag der Befreiung des KZ Dachau: Gedenken schützt Demokratie

Wie soll man umgehen mit der Erinnerung an die NS-Barbarei? Die Historikerin Kira G. Alvarez, Enkelin eines KZ-Häftlings, zur Aufgabe der Gedenkarbeit.

Eingangstor mit Aufschrift "Arbeit macht frei" Konzentrationslager Dachau

Am 29. April jährt sich der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau zum 76. Mal Foto: Michael Eichhammer/imago

Vor einigen Jahren saß ich mit anderen Nachfahren von Überlebenden in einem Seminarraum der KZ-Gedenkstätte Dachau. Wir sprachen über unsere Familiengeschichten und die schrecklichen Verbrechen, die unsere Vorfahren an diesem Ort erlitten hatten.

Ich war noch relativ neu in Deutschland und die einzige US-Bürgerin in der Gruppe. Es wurde mir aber klar, dass dies auch für viele meiner deutschen Ge­sprächs­part­ne­r:in­nen eines der ersten Male war, mit anderen offen über ihre traumatische Familiengeschichte zu reden. Wir sprachen oft zögerlich und suchten im Blick der anderen Bestätigung und Ermunterung, um weiterzureden.

Am 29. April jährt sich der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau durch US-Truppen im Jahr 1945 zum 76. Mal. Sie befreiten auch meinen Großvater, der seit 1940 im KZ Dachau inhaftiert war und dort gefoltert wurde. Er wurde unter anderem von Dr. Claus Schilling, dem ehemaligen Leiter der tropenmedizinischen Abteilung am Robert Koch-Institut und seinen Assistenten, grausamen und unethischen medizinischen Experimenten ausgesetzt.

Zeit seines Lebens hatte er schwer an den gesundheitlichen und psychischen Folgen dieser „Experimente“ zu leiden. Mein Großvater überlebte diese Torturen und konnte – wie auch andere KZ-Überlebende – später auch darüber sprechen. Viele andere fielen jedoch den Quälereien der SS, Krankheiten oder Unterernährung zum Opfer. Und viele derjenigen, die die Hölle von Dachau überlebten, waren aufgrund des erlittenen Traumas auch in ihrem späteren Leben nach der brutalen Haft während des Zweiten Weltkriegs nicht in der Lage, mit ihren Familien und Freunden über die Zeit im KZ zu sprechen.

Generationsübergreifende Traumata

Als eine Nachfahrin und Überlebende der dritten Generation weiß ich, dass Traumata generationsübergreifend sein können, sich in der Familie eines jeden Überlebenden einnisten und auch auf die Nachkommen übergehen. Forschungen im Bereich der Epigenetik – zum Beispiel bei den Nachkommen der früheren afroamerikanischen Sklaven – zeigen, dass die Erinnerungen und Spätfolgen erlittener Qualen und Schrecken auch in nachfolgenden Generationen weiterleben und ihre Gesundheit, ihre Lebensqualität, beeinträchtigen können.

Das Gedenken an den Holocaust und andere repressive und genozidale Ereignisse kann und sollte uns auch lehren, dass der Schmerz der Vergangenheit nicht nur ein Teil politischer und historischer Narrative ist, sondern auch menschliche Psychen nachhaltig beschädigt.

Die Erinnerung an die Verbrechen des NS-Regimes mahnt uns auch und gerade heute, dass Demokratie und der Schutz von Menschenrechten ständiger Verteidigung gegen autoritäre Gefahren bedürfen. Vor 76 Jahren beendeten die Soldaten eines demokratischen Amerika die nationalsozialistischen Verbrechen der Deutschen in Dachau. Doch in den letzten Jahren musste ich – eine US-Amerikanerin in Deutschland – erleben, wie demokratische Prozeduren und Menschenrechte in meinem Heimatland unter einem fortgesetzten Angriff immer weiter erodierten.

Die hässliche Fratze der Gegenwart

Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben ihre hässliche Fratze in unverstellter Offenheit gezeigt. Immer neue Einwanderungsbeschränkungen und die brutale Behandlung der Kinder von Schutzsuchenden an der mexikanisch-amerikanischen Grenze, die Morde an Eric Garner, George Floyd und vielen anderen Afroamerikanern durch Polizisten, der versuchte Staatsstreich eines rechtspopulistischen Mobs vom 6. Januar 2021 und zuletzt die Welle von Angriffen gegen US-Bürger:innen asiatischer Abstammung – all das hat mich so bestürzt wie die meisten Amerikaner:innen. Aber es hat mich nicht überrascht.

Als Tochter von Immigranten bin ich mit dem ständigen Kampf meiner Eltern aufgewachsen, täglich beweisen zu müssen, dass sie „amerikanisch“ sind.

Die Demokratie ist fragil, und Vorkehrungen zum Schutz von Menschenrechten haben sich immer wieder als löchrig erwiesen. Die Pandemie hat auch große und demokratiegefährdende Ungleichheiten aufgedeckt, die bisher ignoriert wurden. Wie können Gesellschaften heute der Erosion von demokratischen Institutionen und Menschenrechtsverletzungen effektiv entgegentreten? Ein Weg beginnt mit Bildungsarbeit. Die KZ-Gedenkstätten sind als materielle Überreste und Zeugen von unvorstellbarer Grausamkeit wichtige Lernorte für Menschen aus aller Welt.

Das Vermächtnis ernst nehmen

Doch die damaligen Täter waren oft keine Wahnsinnigen, äußerlich ähnelten sie nicht Monstern, sondern schienen ganz normale Menschen zu sein, die angeblich nur ihre Arbeit machten. Wir müssen den wenigen noch Überlebenden des Holocaust zuhören, ebenso wie denen anderer Genozide. Wir müssen ihr positives Vermächtnis ernst nehmen – und zugleich ein Bewusstsein für die noch lange weiterlebenden negativen Folgen ihrer Misshandlungen und ihres Leids entwickeln. Und wir müssen unsere theoretische Einsicht mit der Praxis unseres Lebens verbinden. Wir sollten in unserem Alltag versuchen, uns gegen alltägliche Diskriminierungen zu stellen.

Mein Großvater blieb trotz des dunklen Schattens, den die Jahre im KZ Dachau auf sein späteres Leben warfen, bis zum Ende ein unermüdlicher Verfechter demokratischer Werte. Er wies beim Rückblick auf die schmerzliche Vergangenheit stets darauf hin, dass Umstände erforscht werden müssten, die es möglich machten, dass das kultivierte und zivilisierte Deutschland der nationalsozialistischen Barbarei verfiel. Folgen wir ihm in seinem Aufruf zur aufklärenden Bildungsarbeit. Denn nur so können wir demokratische Strukturen schützen und mit Leben erfüllen, und die Rechte von Menschen künftig wirksamer schützen.

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