Israels Protestbewegung: Wo ist der Gegenentwurf?
Israels Protestbewegung muss solidarisch sein mit den Palästinensern. Und mit dem Interesse der jüdischen Bürger an einem Leben in Sicherheit.
E s gab im israelischen Parlament, der Knesset, einen symbolischen Moment an diesem für die Geschichte Israels denkwürdigen 24. Juli 2023. In Live-Aufnahmen der Plenardebatte zur Abschaffung der sogenannten „Angemessenheitsklausel“, mit der das israelische Oberste Gericht bisher Regierungsentscheidungen aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit dem Interesse der Allgemeinheit kassieren konnte, ist zu sehen, wie Verteidigungsminister Yoav Gallant vehement auf Justizminister Yariv Levin, den Architekten dieser radikalen Schwächung des Justizsystems, einredet.
Levin solle wenigstens einen der unzähligen Einwände der Opposition in den Gesetzestext aufnehmen, um zumindest ein kleines Entgegenkommen zu signalisieren. „Gib ihnen doch etwas!“, sagt Gallant mehrmals. Levin beharrt darauf, dass der Gesetzesentwurf genau so durchgehen werde. Zwischen den beiden sitzt Premierminister Benjamin Netanjahu, scheinbar geistig abwesend, als ob ihn das alles nichts angehen würde. Er lässt die beiden munter auf offener Bühne streiten, während er parallel einen weiteren Einwand der Opposition mit seiner Stimme ablehnt. Kurze Zeit später steht er kommentarlos von seinem Sitzplatz auf und verlässt den Plenarsaal.
Dieses Video lief am Abend nach der Abschaffung der „Angemessenheitsklausel“, die trotz monatelanger, bisher nie dagewesener Proteste der israelischen Bevölkerung durchgesetzt wurde, in allen Hauptnachrichtensendungen des Landes. Der Tenor: Netanjahu habe sein politisches Schicksal in die Hände der antidemokratischen Hardliner seiner Regierung gelegt. Es seien diese Kräfte, die den radikalen, unilateralen Umbau Israels von einer liberalen, funktionierenden Demokratie mit einer dynamischen Wirtschaft in eine Diktatur vorantreiben würden.
Die zunehmend fassungslosen Journalist:innen sprachen von der „Verantwortungslosigkeit“ Netanjahus im Hinblick auf die nationale Sicherheit sowie die finanzielle Stabilität des Landes. Er sei bereit, Israel „in den Abgrund zu führen“ – trotz des Drucks der israelischen Armeereservisten, trotz drohender Herabstufungen durch internationale Ratingagenturen und vor allem trotz der deutlichen Kritik der US-Regierung.
Bauboom in den Siedlungen
Was in der gegenwärtigen liberalen Medienlandschaft (mit wenigen Ausnahmen) in Israel zu wenig Beachtung findet: Die zentralen Akteure beim anvisierten Abbau der demokratischen Schranken des israelischen Staates sind ebenfalls treibende Kräfte der nationalreligiösen Siedler:innenbewegung. Sie übertragen dabei ihre antidemokratischen Überlegenheitsvorstellungen aus dem Westjordanland auf das israelische Kernland.
Gleichzeitig eskaliert die Gewalt von Siedler:innen gegenüber Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten unter Duldung der israelischen Armee, wie etwa beim Überfall auf das Dorf Huwara im Frühjahr 2023 oder in Umm Safa im vergangenen Juni. Als Finanzminister ist der Siedler Smotrich zudem für die massive Umschichtung von Steuergeldern aus dem israelischen Kernland in die völkerrechtswidrigen Siedlungen verantwortlich, was dort unter anderem zu einem regelrechten Bauboom führt.
Es ist gleichzeitig wichtig zu betonen, dass es zahlreiche Interessengruppen in dieser Regierung gibt (etwa die Ultraorthodoxen, die Mizrachim), die aus unterschiedlichsten Gründen die radikale Schwächung des Justizsystems unterstützen. Doch keine Gruppe benötigt die Abschaffung der unabhängigen Gerichtsbarkeit für ihre Ziele so sehr wie die Siedler:innen-Bewegung.
Wegen dieser Verknüpfungen sprechen Akteur:innen des „Blocks gegen die Besatzung“, darunter „Breaking the Silence“ und „Standing Together“, im Kontext der Antiregierungsproteste von der „Siedler-Revolution“. Ihr Ziel ist es, die Mehrheit der Protestbewegung davon zu überzeugen, dass es keine „Demokratiebewegung“ ohne die Auseinandersetzung mit der 56 Jahre andauernden Besatzung der palästinensischen Gebiete geben könne.
Die nächsten Monate entscheiden
Die nächsten Monate werden entscheidend sein für die politisch heterogene Protestbewegung. Die zentrale Frage ist, ob es ihr gelingen wird, einen programmatischen Gegenentwurf zu den rechtsautoritären Plänen der Regierung zu entwickeln, der einerseits die Mehrheit der Bewegung hinter sich versammelt, andererseits aber auch mutig genug ist, um den oben beschriebenen ideologischen Ursprung dieser rechtsautoritären Agenda zu benennen.
Bisher sieht es jedoch nicht danach aus: Erst am vergangenen Demo-Wochenende hat eine der Anführerinnen der Protestbewegung, Shikma Bressler, mit Verweis auf Entwicklungen in Ländern wie Ungarn, der Türkei oder auch Iran öffentlich einen kausalen Zusammenhang zwischen Besatzungslogik und dem derzeit laufenden Umbau des Staates verneint. Dies ist taktisch und auch emotional verständlich.
Nichtsdestotrotz ist es wichtig, die Protestziele in eine integrative politische Botschaft auszuweiten, die neben der Solidarität mit den Palästinenser:innen in Israel und in den besetzten Gebieten auch das legitime Eigeninteresse der jüdischen Mehrheitsbevölkerung Israels nach einem Leben in Sicherheit aufnimmt.
Weiterhin braucht es eine Verbindung mit der im Land höchst virulenten sozialen Frage (Israel ist eines der OECD-Länder mit den höchsten Einkommensunterschieden) sowie mit dem strukturellen Rassismus innerhalb der israelischen Gesellschaft (gegenüber den palästinensischen Staatsbürger:innen des Landes, aber auch gegenüber marginalisierten Teilen der jüdischen Bevölkerung, etwa den Mizrachim oder den äthiopischen Jüdinnen und Juden), um diese Bevölkerungsgruppen für die Proteste zu gewinnen.
Dies klingt in der jetzigen Situation zugegebenermaßen realitätsfern, doch es ist genau diese Realität, die schon eine ganze Zeit lang für die meisten Menschen hier vor Ort untragbar ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Abschluss G20-Gipfel in Brasilien
Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen