piwik no script img

Israels Militär tötet Hamas-Chef SinwarEin möglicher Wendepunkt

Israelische Soldaten töten den Hamas-Chef Jahia Sinwar in Gaza. In dem Krieg in Nahost könnte das vieles verändern.

Vom israelischen Militär getötet: Der Hamas-Chef Jahia Sinwar bei einer Veranstaltung im Jahr 2023 Foto: Ibraheem Abu Mustafa/REUTERS

Jerusalem taz | Hamas-Chef Jahia Sinwar ist tot. Der Drahtzieher hinter dem Überfall auf Israel am 7. Oktober wurde nach Angaben der israelischen Armee am Mittwoch von Soldaten einer Infanterieeinheit getötet. Seine Identität wurde mittels eines DNA-Tests bestätigt. Auch Quellen aus Hamas-Kreisen sagten gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, es gebe Hinweise auf Sinwars Tod bei einem israelischen Einsatz in Gaza.

Online verbreitete sich am Donnerstag ein Foto, das mutmaßlich dessen Leiche zeigt. Zu sehen ist darauf ein halb unter Trümmern begrabener Mann mit dessen markanten Gesichtszügen, weißen Haaren und einer klaffenden Kopfverletzung an der Stirn. Vor ihm liegt eine Handgranate. Er trägt eine Kampfweste, eine Armbanduhr und einen Palästinenserschal, auch Kufiya genannt.

Laut der Mitteilung der Armee seien mit Sinwar zwei andere Terroristen getötet worden. Israelische Geiseln wurden demnach in der Nähe nicht gefunden. Lange war davon ausgegangen worden, dass der Hamas-Anführer sich zu seinem Schutz in einem weitläufigen Tunnelnetzwerk unter dem Gazastreifen und in der Nähe von einigen der noch immer rund 100 dort gefangenen israelischen Geiseln aufhalten würde. Laut Geheimdienstberichten verzichtete er vollkommen auf elektronische Kommunikation und setzte stattdessen auf Kuriere für Nachrichten nach außen.

Zufällige Tötung

Der israelische Sender Kan berichtete, Sinwar sei nicht gezielt oder aufgrund von Geheimdienstinformationen, sondern „zufällig“ bei einem Armeeeinsatz in einem Haus in Rafah getötet worden. Bei den Leichen wurden demnach Bargeld und gefälschte Ausweise gefunden.

Für Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu, der seit Kriegsbeginn vor mehr als einem Jahr auf einer Taktik der militärischen Stärke beharrt und den „absoluten Sieg“ über die Hamas als Kriegsziel festgeschrieben hat, ist die Nachricht ein großer Erfolg. In den vergangenen Monaten hatten die israelische Armee und der Auslandsgeheimdienst Mossad zahlreiche Anführer der Hamas und der proiranischen Hisbollah getötet. Sinwar selbst war erst im Juli an die Spitze der Terrororganisation aufgestiegen, nachdem sein Vorgänger Ismail Hanije in Teheran ermordet worden war.

Sinwars Tod könnte Bewegung in die festgefahrenen Verhandlungen um ein Ende der Kämpfe und eine Freilassung der noch gefangenen Geiseln bringen. Die Angehörigen der Entführten forderten noch am Abend, dessen Tod zu nutzen, um zu einem sofortigen Abkommen mit der Hamas zu kommen. „Jetzt bleibt nur noch eines zu tun: Die 101 (Geiseln) zurückzubringen, und zwar sofort“, schrieb der Oppositionspolitiker Jair Golan bei X. Verteidigungsminister Joav Gallant rief die Hamas-Kämpfer zur Kapitulation und zur Freilassung der Geiseln auf. Ministerpräsident Netanjahu wollte sich am Abend äußern.

Es wird weithin angenommen, dass Sinwar die vergangenen Jahre maßgeblich die Strategie der Hamas geprägt hat. 2017 stieg er zu deren Anführer im Gazastreifen auf. Er galt seit mehreren, insgesamt 23 Jahre währenden Gefängnissaufenthalten als Kenner der israelischen Gesellschaft und sprach fließend Hebräisch. 2011 kam er im Rahmen eines Gefangenenaustausches frei. Unter seiner Führung hatte die Hamas vor ihrem überraschenden Überfall, bei dem rund 1200 Israelis getötet und 251 nach Gaza verschleppt wurden, jahrelang vorgegeben, den bewaffneten Kampf gegen Israel zurückzuschrauben.

„Der Schlächter von Chan Junis“

Sinwar wurde 1962 im Gazastreifen in Chan Junis geboren. Seine Familie kam ursprünglich aus der Region um die heutige israelische Küstenstadt Aschkelon. Zur Hamas stieß er bereits in jungen Jahren und erhielt dort wegen seines gnadenlosen Vorgehens gegen mit Israel kollaborierende Palästinenser den Beinamen „Schlächter von Chan Junis“. Er hatte mehrere israelische Attentate überlebt.

Im vergangenen Jahr soll er laut Geheimdienstberichten angesichts der unerbittlichen Angriffe der israelischen Armee auf den Gazastreifen und der nach palästinensischen Angaben mehr als 42.000 Toten davon ausgegangen sein, dass er sterben würde. Der 62-Jährige, der sein Leben lang kompromisslos für die Vernichtung Israels und einen palästinensischen Staat gekämpft hatte, soll aber gehofft haben, zuvor noch einen regionalen Krieg zwischen Israel sowie dem Iran und seinen Verbündeten in der Region anzufachen. Derzeit stehen Jerusalem und Teheran so kurz vor einem offenen Krieg wie nie zuvor.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

19 Kommentare

 / 
  • Moderation , Moderator
    Vielen Dank für Eure Beiträge, wir haben die Kommentarfunktion vorübergehend geschlossen. Wenn die Diskussionen ausfallend werden, zu weit vom Thema abweichen, oder die Zahl der Kommentare zu groß wird, wird das manchmal leider nötig. Sonst können wir die Kommentare nicht mehr zeitnah moderieren.  
  • Unter einer anderen, intelligenteren israelischen Führung wäre das ein guter Vorwand, den Sieg zu erklären und von Gaza abzulassen.

  • Alles lediglich temporär. Gewalt bringt mittel- oder langfristig Gegengewalt, dann können einzelne Menschen sich noch so sehr als Sieger und Helden fühlen - es ist temporär. Die zerbombte Kindheit und Jugend wird wachsen und die, die nichts daür konnten werden je nach Perspektive und Storytelling wieder "das Böse" sein.

  • Es wird sich nur etwas ändern, wenn beide Seiten das wollen. Und Netanyahu will Krieg.

  • Herzlichen Glückwunsch an das israelische Militär.



    Free Palestine from Hamas.



    Free Lebanon from Hisbollah.



    Free Iran from Mullahs.



    There is enough space for everyone between the river and the sea.

  • "Sinwar selbst war erst im Juli an die Spitze der Terrororganisation aufgestiegen"



    Eine lange fiese Blutspur mit Vorzeichen und Versäumnissen.



    Wer der taz-Journalistin Susanne Kaul seit vielen Jahren interessiert folgt, denkt vielleicht differenziert und kritisch über einen offenbar unlösbaren Konflikt.



    Avi Primor 2012 bei taz.de



    "Weder die israelische noch die palästinensische Regierung sind einem echten Friedensprozess gewachsen, deshalb wird es erst Verhandlungen geben, wenn sich die USA einmischen. Wenn das nicht passiert, und es ist leider nicht auszuschließen, dass die USA wieder nichts tun werden, dann wird es irgendwann explodieren. Israel schafft täglich neue Tatsachen im Westjordanland, gleichzeitig demonstriert die Hamas, was sich mit Gewalt alles erreichen lässt. Früher oder später wird das die Menschen im Westjordanland dazu bringen, sich erneut auf Abenteuer einzulassen."



    Retrospektiv gibt es historische Sternstunden und Abgründe, es entscheiden manchmal Kleinigkeiten und die richtigen Personen am richtigen Ort.



    Eine der Konstanten in der Architektur dieser Region, die Eskalationsmöglichkeiten als Flächenbrand:



    taz.de/Drohender-K...en-Osten/!6037027/

  • "Er galt seit mehreren, insgesamt 23 Jahre währenden Gefängnissaufenthalten als Kenner der israelischen Gesellschaft [...]" - na, wenn das man keine Stilblüte ist...

  • Bring them home NOW!

    Der verantwortliche Hamas-Kommandeur für den Angriff vom 7. Oktober wurde getötet. Jetzt wird es Zeit für Verhandlungen über die Freilassung der 101 Geiseln.

  • Das könnte in der Tat die Gelegenheit für Nethanjahu sein, sich als glorreicher Feldherr zu präsentieren. Und diesen Moment der Stärke für neue Akzente und das eigene politische Überleben zu sichern. Der Iran wird jetzt ja erstmal mit der Neuorganisation seiner terroristischen Bruderschaften beschäftigt sein.

  • Da dürften so manche Palästinenser in Gaza über Sinwars Tod erleichtert sein, schließlich hatte der die Bevölkerung zu Geiseln seines sinnlosen Krieges gegen Israel gemacht und sie als menschliche Schutzschilde missbraucht. Einziger Nutznießer der Iran.

    Er behandelte sein eigenes Volk, die Palästinenser in Gaza, als ob sie alle bereit wären, Märtyrer zu sein – doch wollten sie das auch?

  • "Sinwars Tod könnte Bewegung in die festgefahrenen Verhandlungen um ein Ende der Kämpfe.... bringen"

    Mit Netanjahu gibt es keine Exit Strategie. Sein politisches Lebensziel besteht darin, den palästinensischen Nationalismus zu eliminieren. Gut dokumentiert, angefangen bei der Blockade der Osloer Verträge bis zur Unterstützung der Hamas um eine Zweistaatenlösung zu verhindern.

    Das Ganze oftmals mit eigenen Statements untermauert, die wenig Spielraum für Interpretationen lassen:

    "Gaza wird entmilitarisiert werden und keine Bedrohung mehr für den Staat Israel darstellen. Die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte werden auch weiterhin die Sicherheitskontrolle über Gaza innehaben, um Terror zu verhindern.. es wird keine Zivilbehörde geben.. , es wird etwas anderes geben, aber in jedem Falle unter unserer Kontrolle" aus der Pressekonferenz v. 11 November 2023.

    Ohne innenpolitischen Druck wird Netanjahu seinen Kurs fortsetzen, ohne Rücksicht auf Verluste und taub für Proteste von außen.

    Die einzige Frage die sich in der Hinsicht stellt, ist die ob er es zum offenen Bruch mit der Biden Regierung kommen lässt.

    • @Sam Spade:

      Wo ist das Problem, wenn de Gazastreifen entmilitarisiert wird? Wäre das nicht im Interesse von allen? Und natürlich braucht es eine neue Ordnung im Gaza-Streifen und natürlich muss diese Ordnung die Sicherheit Israels garantieren. Was denn sonst? Die Deutschen mussten auch entmilitarisiert werden und brauchten die ersten Jahre eine starke militärische Kontrolle von den alliierten Besatzungsmächten. Sonst hätten wir heute noch Faschismus.

    • @Sam Spade:

      Naja, ein autoritärer Machtapparat braucht stets irgendwelche äußeren Feinde, durch deren Bekämpfung die Gesellschaft zusammengeschweißt und der Glaube an die jeweiligen Führer gestärkt wird.

      Wenn man einen realen Feind hat, ist das umso besser. Daher brauchen sich Hamas und Netanjahu gegenseitig.

    • @Sam Spade:

      Das sehe ich genauso. Es ist eine Illusion zu glauben, es müssten nur möglichst viele oder möglichst wichtige Hamas-Leute getötet werden und werde alles gut. Mit Netanjahu wird es keinen Frieden geben, weil es keine Perspektive für die Palästinenser geben wird.

    • @Sam Spade:

      Ich hätte nicht gedacht, dass ich in der Taz "Nationalismus zu eliminieren" als etwas Negatives bezeichnet sehen würde.

      Im Übrigen gibt es ja innenpolitischen Druck auf Netanjahu, inklusive Großdemonstrationen.

    • @Sam Spade:

      Aha, also laut ihrer Aussage ist der israelische PM sowas wie ein machiavellistischer Teufel?

      So beschreiben sie ihn. Ich will das nur festhalten.

    • @Sam Spade:

      Die einzige Frage ist, ob die Palästinenser es schaffen endlich mal besseres Führungspersonal hinzukriegen, keine Leute, die nur den Interessen Irans oder ihrem Antisemitismus dienen.

      Bisher nur versagt:

      Die UNO hatte mit großer Mehrheit 1948 einer Zwei-Staatenlösung zugestimmt. Die Palästinenser haben unter der Führung der arabischen Staaten, vorwiegend der Muslimbrüderschaft abgelehnt.

      Arafat bekam von Israel spätestens 1993 die Chance durch das Oslo-Abkommen sowie 2000 und 2001, Camp David und Taba, einen Palästinensischen Staat zu bekommen, mit 97 Prozent des Westjordanlandes plus Ost-Jerusalem plus Gaza. Abbas bekam 2005 mit Israels Rückzug aus Gaza die Chance und 2008 unter Olmert. Alles verpasst.

      Unverdrossen wird aber behauptet: Israel hätte sich seit jeher geweigert. Nein, die PLO ist gescheitert. Und erst recht Hamas. Die Tragödie des palästinensischen Volkes besteht darin, dass es von seinen eigenen Führungen als Kanonenfutter missbraucht wurde.

      Und der Grauen für Palästinenser und Israelis geht weiter.



      "Der 7. Oktober war nur die Generalprobe", so Yahiye Sinwar.

      Netanjahu mag ich nicht, doch ich verstehe ihn.

    • @Sam Spade:

      Für die im Gaza lebenden Menschen wird dies eine Entrechtlichung bedeuten. Israel spielt das Spiel, was Sinwar beschrieben hat, als er aus dem Gefängnis entlassen wurde: Das er nur das Gefängnis gewechselt hat.

      Das, was die Allierten in Deutschland in die Wege geleitet haben, den Aufbau eines demokratischen Staats ohne Nazen, das bekommt Israel seit Jahrzehnten nicht hin und will es auch nicht.

    • @Sam Spade:

      In Bezug auf die fehlende Exit strategie haben sie recht. Man könnte auch fies formulieren das Israel einen der schlechtesten politischen Führungen in seiner schwersten Zeiten hat. Trotzdem stellt sich die Frage ob irgendeine israelische Regierung nach den 7.Oktober hätte anders reagieren können.

      Trotzdem kann Sinwars Tod folgen haben , dass das Ganze auf eine eventuelle Militärbesatzung hinausläuft ist nach den 7. Oktober eine wahrscheinliche Konsequenz. Zumal was wäre eine gangbare Alternative, welche den Sicherheitsbedürfnissen Israels rechnung trägt ?

      Eine erneute Hamasregierung oder andere Islamistsen würde lediglich zu einen erneuten Krieg führen.

      Und auch andere politische Organisationen der Palästinenser an einer 2 Staaten_lösung kein Interesse haben z.B die PLO



      palaestina.org/fil...nationalcharta.pdf hier deutlich in den Artikel 1-3



      Dazu kommt noch der Einfluss des Irans und dessen Wirken in der Region.

      So richtig Kritik am Netanjahu etc ist. Er ist nicht der Hauptverantwortliche für die vertrackte Situation in der Region, die andere Seiten hat mindestens einen genauso großen Anteil.