Israelischer Soziologe über Gedenken: „Was heißt denn versöhnlich sein?“
Der israelische Soziologe Natan Sznaider sieht Berlin nicht nur als Ort der Geschichte und Erinnerung nicht als etwas, das Menschen besser macht.
taz: Natan Sznaider, Sie sind in Berlin einen Tag nach dem Holocaust-Gedenktag auf einer Konferenz anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz. Was werden Sie uns mitteilen?
Natan Sznaider: Sicher wird das nicht einfach für mich. Ich werde auf Deutsch reden, aber natürlich nicht als Deutscher. Ich werde aus jüdischer Perspektive etwas sagen wollen.
Aus jüdischer oder israelischer?
Aus einer jüdischen. Und natürlich auch aus einer israelischen Perspektive. Bei mir geht das zusammen. Ich bin ja aus Deutschland, aber nicht in Deutschland. Ich bin aus Tel Aviv, und ich leb in Tel Aviv. Ich bin 1974 aus Deutschland weg.
Sind Sie noch Deutscher?
Ich hab den Pass noch. Es ist eine technische Sache, keine identitäre. Wenn mich jemand fragen würde „Bist du Deutscher?“, würde ich sagen: Nein. Ich bin Israeli.
Verfolgen Sie als einstiger Kicker aus Mannheim noch Fußballgeschehen?
Total, ja! Ich bin stark davon angetan, dass mein alter Verein, wo ich in der D-Jugend Rechtsverteidiger war, Waldhof Mannheim, in der dritten Liga eine gute Rolle wieder spielt. Und ich verfolge auch die Bundesliga, obwohl ich da keine Lieblingsmannschaft hab. Die ist nun Hapoel Tel Aviv, was gut zur jüdischen Leidensgeschichte passt.
Der Mensch Natan Sznaider, 1954 in Mannheim geboren und als Zwanzigjähriger nach Israel ausgewandert, ist Soziologe an der Akademischen Hochschule in Tel Aviv-Jaffa. Sznaider lebt in Tel Aviv und ist im Frühjahr einige Monate Gastprofessor an der Uni Zürich.
Die Intervention 2014 wurde er einem bildungsbürgerlichen Radiopublikum bekannt, als er im Deutschlandfunk zum sogenannten Gaza-Konflikt interviewt wurde. Moderator Friedbert Meurer insistierte während des Gesprächs, dass Sznaider im Hinblick auf die drei israelischen zivilen Opfer und die 1.000 palästinensischen toten Zivilisten doch Mitgefühl für die Gegenseite zeigen müsse. Sznaider empfand diese Mahnung als unverschämte Anspielung darauf, dass Israel nicht genug Tote aufzuweisen habe.
Bücher „Gesellschaften in Israel“, Berlin 2017, „Neuer Antisemitismus“ (mit Doron Rabinovici und Christian Heilbronn), Berlin 2019.
In Berlin Am Dienstag, 28. Januar, gibt Sznaider bei der Tagung „Wie wollen wir in Zukunft an die Shoah erinnern?“ im Haus von Deutschlandradio Kultur einen Impuls – wie auch Aleida Assmann (Germanistin, Konstanz) und Norbert Frei (Historiker, Jena).
taz lab Am 25. April ist Sznaider beim großen taz-Kongress zu Gast. (jaf)
Dachten Sie als Jugendlicher schon, einmal Israeli zu werden?
Eigentlich, solange ich mich erinnern kann. Deswegen bin ich ja ausgewandert. Vorher war ich nur kurz deutsch, mit 16 erst habe ich die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen. Bis dahin hatte ich einen Staatenlosenpass. Und staatenlos zu sein war wirklich doof. Man konnte kaum reisen, hatte nie die Garantie, wieder ins Land gelassen zu werden. Meine Eltern waren displaced persons. Nachdem sie sich in Deutschland niedergelassen hatten, haben sie natürlich nicht die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen, weil sie aus Polen waren. Für mich war aber immer klar, dass ich Israeli werden will, nicht nur wegen des Passes, sondern auch wegen allem, was damit zusammenhängt.
Was ist für Sie „wegen allem“?
Es ging mir im Persönlichen und Politischen um Souveränität. Ich glaubte und glaube fest an die Ausübung politisch-jüdischer Souveränität im eigenen Land, in Israel. Das klingt jetzt sehr ideologisch, aber dahinter steckte ein sehr persönliches Bedürfnis der Menschwerdung. Das war mir wichtiger als die proletarische Revolution, die meine Klassenkameraden damals anstrebten.
Fühlten Sie sich deutsch?
Ich glaube nicht, dass so eine Frage damals in meinem Milieu relevant war. Wir lebten in diesen wilden Zeiten damals, 1970 bis 1974. Drogen, Musik, alles Mögliche, Schule war total Nebensache. Es ging um irgendeine Revolution. Ob man sich da als Deutscher fühlte oder nicht, war nicht die Frage. Meine Revolution war halt die zionistische.
Wie haben Sie sich als Jude damals behauptet? Spielte Jüdisches überhaupt öffentlich eine Rolle?
Sicher spielte es eine Rolle. Ich war lange Jahre der einzige jüdische Junge in meiner Klasse. Leute reden heute über den aufkommenden Antisemitismus in Deutschland. Doch das war damals viel stärker, viel offensichtlicher, vor allen Dingen viel normaler. Wenn es in meiner Schule zu laut wurde, wurde, ohne mit der Wimper zu zucken, von Lehrern gesagt: „Das ist doch keine Judenschule hier!“
Was soll denn dieser Ausspruch bedeuten?
So nannte man die Synagoge, und da geht es manchmal laut zu. Weniger andächtig als in der Kirche. Ich nehme an, dass das ein typisch antisemitischer Begriff ist, der sich in die Bundesrepublik gerettet hatte. Alles damals ganz normal. Und dass wir von ehemaligen Nazis unterrichtet wurden, die auch gerne vom Krieg erzählten, haben wir auch als normal empfunden, bis uns die 68er-Studenten aus Heidelberg erklärten, dass es das eben nicht zu sein habe.
Haben Sie sich in irgendeiner Weise zur Wehr gesetzt?
Fußball war mir ungeheuer wichtig, weil es mir ein Gefühl der Kontrolle gab. Auch ab und an einem antisemitischen Bengel eine draufgehauen. Aber Antisemitismus in Westdeutschland damals, das war normal, ganz ohne Internet und ohne viel Medienspektakel. Wir waren auch zufrieden, dass die amerikanische Armee in Mannheim stationiert war. Sie gab uns das Gefühl, dass man doch sicher sein kann.
Haben Sie in Ihrer Familie über antisemitische Hässlichkeiten sprechen können, gab man Ihnen, wie es die politische Philosophin Hannah Arendt aus ihrer Familie berichtete, Schutz?
Nein, nicht in dieser Weise. Arendt kam ja aus gutem deutschjüdischem Hause. Ich bin in einer ostjüdischen Familie aufgewachsen, in der man nicht sehr wehleidig sein wollte. Mein Vater hat immer gesagt: Wenn dich jemand schlägt, dann schlag halt zurück. Und das hab ich gemacht.
War Israel deshalb für Sie attraktiv – eine muskulär ausgesprochen starke Gründung als Staat?
Israel war für mich von Anfang an attraktiv. 1969, als ich 15 war, war ich zum ersten Mal in Israel. Es ist ein ganz anderes Land damals gewesen. Viel einfacher, sehr viel unzivilisierter, als es heute ist. Rau in so vielem und mit informellen Strukturen. Ich mochte das einfach gerne, das Unfertige, das Entschlossene. Es war mir klar damals, da will ich hin. Viel ist auch immer noch so, und das ist gut so.
Eine ungewöhnliche Perspektive für einen Jungen, der aufs Gymnasium ging – und standesgemäß auf Ordnung und Struktur bedacht sein sollte.
In Mannheim bin ich ja prollig aufgewachsen, ich war auf einer Volksschule mit Leuten, die nicht so bürgerlich waren. Mit Kindern von DPs, von Ostflüchtlingen, man nannte sie damals „Zigeuner“, und von allen möglichen Prollkindern. Und dann musste ich aufs Gymnasium.
Aber Sie wollten es doch auch?
Nää! Mit zehn wollte ich da bleiben, wo ich war. Mit dem Gymnasium musste ich dann auch aus der Nachbarschaft raus. Und plötzlich lernte ich richtig bürgerliche deutsche Kinder kennen, Kinder von Beamten und Rechtsanwälten und Ärzten. Das war etwas verstörend.
Wie lange hat Ihre Verstörung gedauert?
Eigentlich bis heute hält sie an, wenn ich in Deutschland bin. Dieses Gefühl, dass ich nicht standesgemäß bin, dass ich nicht in meinem Element bin. Ich glaub auch nicht, wenn ich in Deutschland geblieben wäre, dass ich je Professor geworden wäre.
Warum denn nicht?
Das bildungsbürgerlich-akademische Milieu ist in Deutschland so in sich ruhend und auch selbstzufrieden. Das zu sagen meine ich gar nicht böse. Sie haben einen so selbstverständlichen Blick auf sich und die Welt, wahrscheinlich so, wie früher Aristokraten auf Bauern geschaut haben. Das beneide ich sogar. Ich wünschte mir diesen Blick auch.
Und in Israel?
Israel hat mir einfach ermöglicht, dass ich wirklich ganz neu anfangen konnte. Das war ja auch eigentlich der tiefe Grund des Zionismus, dass Juden, die in ihren Ländern sich nicht zugehörig fühlten, plötzlich ganz von vorne anfangen konnten. Ohne das groß romantisieren zu wollen: Israel ist einfach offener und demokratischer, vor allem, wenn man dazugehört. Und das tut man als Jude.
Was bedeutet Ihnen der Internationale Holocaust-Gedenktag?
Mir persönlich nicht viel. Auch hier in Israel hat der Tag wenig Bedeutung. Es gibt ja den israelischen Holocaust-Gedenktag im späten Frühjahr. Der geht auf den Warschauer Ghettoaufstand zurück – nicht auf die Befreiung von Auschwitz. Die Sprache, mit der man in Israel über den Holocaust spricht, wurde über den Aufstand geschaffen. Es war die Sprache des Widerstands, des „Nie wieder wir“, der Kampfbereitschaft. Der Tag wurde auf den 27. Nissan des jüdischen Kalenders gelegt. Das Datum fällt genau zwischen das Ende des Pessachfestes – an welchem man des Aufstands im Warschauer Ghetto gedenkt, er begann Pessach 1943 – und den israelischen Unabhängigkeitstag. Es ist ein Tag, der die jüdische mit der israelischen Geschichte verbindet.
Und der 27. Januar?
Die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar ist ein internationaler Tag und nimmt dem israelischen Gedenktag diese besondere Verknüpfung der jüdisch-israelischen Geschichte. Und das, obwohl in der jetzt ablaufenden Woche die ganze Welt in Israel zum Schaulaufen der Erinnerung auflief. Inzwischen ist mit der Zuwanderung vieler aus der ehemaligen Sowjetunion kommenden Juden der 9. Mai auch wichtig geworden.
Der Tag des Endes des Zweiten Weltkriegs, wie er in Russland gefeiert wird.
In Israel gehen am 9. Mai die eingewanderten Veteranen auf die Straße und zeigen stolz ihre Orden. Das kann man natürlich sehr gut mit der Erinnerung an den 27. Januar verknüpfen. Auschwitz wurde von der Roten Armee befreit. Wüsste man darüber mehr oder wollte dies wissen, müssten in Berlin an dem Tag alle zum Treptower Park gehen. Man müsste dort danken und man müsste trauern um die 7.000 Rotarmisten, die da begraben sind, aber das wird wohl keiner machen.
Wird diese Erinnerung in Israel genauso missachtet?
In Israel existiert sie wieder, sie ist nicht mehr im Abseits, durch die eingewanderten Veteranen aus Russland. Am Anfang war die israelische Gedenkkultur auf den Ghettoaufstand in Warschau konzentriert. Erinnerung an die Shoah war eine Erinnerung an den Widerstand. Wir wollten keine Opfer sein. Die Russen haben aus der Shoah plötzlich den Zweiten Weltkrieg wieder zurückgeholt, in dem sie als Kämpfer der Roten Armee Nazideutschland besiegt haben.
Sie haben nie empfunden: „Berlin wurde zu Recht zerstört, weil aus dieser Stadt der Holocaust dirigiert wurde“?
Überhaupt nicht. Das sind Orte, mehr nicht. Und Berlin ist ein guter Ort für mich. Privat sind da für mich einfach gute Erinnerungen verbunden. Das Berlin von hier und jetzt. Ich denke über Orte nicht sehr historisch nach. Über Menschen schon. Das ist auch, glaube ich, was viele junge Israelis an Berlin anmacht. Sie fühlen sich an einem guten Ort pudelwohl, können da gut leben, Kunst machen, Multikulti in Neukölln praktizieren. Ich vermute, Neukölln hat auch ein bisschen etwas Nahöstliches. Man geht dann eben auf der Sonnenallee schön Hummus essen, wie in Israel, mach ich ja auch, und man fühlt sich in einem relativ friedlichen Nahost da in Neukölln und spielt die Koexistenz. Und warum nicht? Irgendwo ist es dann auch egal, was da mal vor 80 Jahren oder so war. Das, was war, hat nichts mehr mit dem Ort zu tun. Und das ist sogar gut so.
Wie denken Sie über Polen?
Mit diesem Land ergeht es mir ähnlich. Ich fühle nie, dass das heutige ethnische Polen irgendetwas mit dem jüdischen Polen vor 1939 zu tun hat. Nicht in Radom, wo mein Vater herkommt, wo ich auch nie war. In Krakau, woher meine Mutter kam, war ich einmal und sah das Haus, in dem sie einst gewohnt hat. Aber ich verstehe auch, dass das jüdische Polen ja nicht mehr existiert. Es sind nur noch polnische Orte übriggeblieben. Es gibt heute kein jüdisches Europa mehr. Das ist ausgelöscht worden. Da gibt es in der Tat kein Zurück mehr. Das jüdische Krakau, Kazimierz, wo meine Mutter aufwuchs, gibt es nicht mehr. Es ist ein polnischer Stadtteil von Krakau, wo man jüdische Nostalgie fetischisieren kann. Das ist so wie Klezmer im Berliner Scheunenviertel. Grauslich. Es gibt kein Dort mehr dort. Und so ist es auch mit Auschwitz.
Berlin ist heute beinah vollgestellt mit Erinnerung an das Jüdische, an den Holocaust – etwa das Stelenfeld.
Es gehört halt mit dazu, wenn man sich akademisch um Erinnerung kümmert, dass man das irgendwie mit einbezieht, sich mit anschaut und irgendein ästhetisches Urteil darüber bildet. Es ist, falls ich das mal sarkastisch sagen darf, gelungen. Vom Ästhetischen her. Andere würden sagen, es ist die wahre Strafe, dass ein amerikanisch-jüdischer Architekt so ein monströses Ding mitten in die Stadt gestellt hat und alle müssen sich das andächtig anschauen. Ich mag, wenn ich da vorbeikomme, die Kids, die sich im Sommer da sonnen, und die kleineren Kinder, die dort Verstecken spielen. Aber was soll’s? Spielt das eine Rolle, ob das jetzt da steht oder nicht? Macht das die Berliner, die Deutschen besser? In den Augen der Welt, in ihren eigenen Augen? Wie anders würde die Welt sein, wenn es nicht da wäre, sondern da ein Hotel stehen würde oder ein großes Schwimmbad? Es hat überhaupt keine Konsequenzen. Man wird ja durch Erinnerung kein besserer Mensch.
Das denken aber viele.
Sollen sie denken. Es ist Unsinn, und es macht keinen Unterschied. Ich war ja auch noch nie in Auschwitz, obwohl meine ganze Familie dort umgekommen ist. Was soll ich da? Bei mir an der Uni gibt es jedes Jahr eine Delegation, die da hinfährt. Die wollen immer, dass ich sie begleite, denn ich unterrichte ja Soziologie des Holocaust. Und ich sage denen immer: Wozu? Warum glaubt ihr, dass ihr am Originalschauplatz etwas fühlen könnt, das ihr durch Texte nicht versteht? Ich sag, wenn ihr unbedingt sehen wollt, wie eine Baracke aussieht, dann könnt ihr die hier im Hof nachbauen. Da müsst ihr nicht unbedingt nach Polen fahren, es gibt dort nichts zu sehen.
Der Versuch vielleicht, den größten Schrecken zu erfahren.
Ich versteh das, und es entspricht dem Zeitgeist. Ich warte noch auf eine Reality-TV-Show, die Leute ins Lager steckt. Ich find das persönlich nicht okay. Da fragte mich dann einmal eine entrüstete Studentin, was denn mein Vorschlag wäre, aus Auschwitz zu machen. Ich sagte: niedermachen. Gras und Bäume darauf wachsen lassen. Dass keine Erinnerung von dem Ort mehr da ist und dass die Erinnerung dann wirklich getilgt wird. Ich will auch gar nicht sagen, dass ich da unbedingt recht habe, aber dieser sogenannte dunkle Tourismus lässt mich kalt. Ein Ort ist ein Ort ist ein Ort.
Weshalb schlagen Sie das vor?
Ich glaube nicht, dass die Erinnerung an diese Schrecken wachgehalten wird, indem man sich Attrappen von Gaskammern oder Baracken oder Schienen am Originalschauplatz anguckt. Das ist so eine Fetischisierung des Materials. Ich empfinde das eher sogar als eine merkwürdige Form von Gegenerinnerung. Weil es ja wirklich der Ort war, an dem Menschen zu Material gemacht worden sind. Und jetzt materialisieren wir die Erinnerung. Für mich ist das eine primitivere Form der Erinnerung. Von mir aus können diese Orte einfach verschwinden.
Und stattdessen – Gras drüber wachsen lassen?
So wie es sprichwörtlich heißt. Das heißt nicht, dass man es vergessen soll, aber über den Ort soll Gras wachsen. Es gibt dort einen Berg von Brillen, den man sich anschaut. Das grenzt meiner Meinung nach an äußerste Geschmacklosigkeit.
Wie finden Sie die Stolpersteine?
Gut. Da wird jeder daran erinnert, dass es da mal Menschen gab, die da richtig lebten. Da sollen die Einwohner eines Hauses tagtäglich mit den Geistern der ermordeten Juden leben, die dort vorher waren. Es wird erinnert, wo die Leute herkamen, und nicht, wo sie endeten.
Es heißt, der Antisemitismus in Deutschland wachse wieder. Teilen Sie diesen Befund?
Irgendetwas tut sich, das glaube ich auch. Ich bin nicht sicher, dass man das statistisch nachweisen kann. Dass der Antisemitismus wächst, heißt ja, dass er jetzt stärker als „vorher“ war. Wann war das „vorher“? Klar ist wohl, dass die Leute schamloser sind und sich offener zu ihren Ressentiments bekennen. Nicht nur gegen Juden, sondern „gegen“ alle Möglichen halt.
Werden Sie auf der Konferenz eine versöhnliche Rede halten?
Keiner erwartet das. Und was heißt denn das – „versöhnlich“? Geht es darum, ehemalige Feinde miteinander zu versöhnen? Das macht doch überhaupt keinen Sinn. Das jüdische Europa existiert nicht mehr. Und für mich und vieler meiner jüdischen Freunde aus meiner Generation heißt das auch, dass wir ohne Familien aufwuchsen, die meisten von uns ohne Opa und Omi, dass es eben keine Kontinuität in unserer eigenen Geschichte gab, dass wir mit Eltern lebten, für die das Leben eigentlich schon beendet war. Was heißt denn da, „versöhnlich“ zu sein?
Deutsche hätten gern Versöhnung, Frieden mit den Juden.
Kann ich gut verstehen. Würde ich als Deutscher auch wollen. Für uns Juden ist das nicht relevant.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid