Israelis in Berlin gegen Netanjahu: Der Crime Minister
Die israelische Community in Berlin protestierte lautstark gegen den Besuch Netanjahus. Die geplante Justizreform gefährde den gesamten Nahen Osten.
Für die meist israelischen Demonstranten, die sich am Donnerstag vor dem Brandenburger Tor versammelt haben, ist Benjamin Netanjahu nicht ihr Prime Minister, sondern ein „Crime Minister“. So kann man es auf einem der Schilder lesen, die während der Reden in die Höhe gehalten werden.
„Haven’t the Jews suffered enough?“, steht auf einem anderen, das hört man hin und wieder als ironische Bemerkung im Gespräch mit Israelis, „haben die Juden nicht genug gelitten?“ Auf einem weiteren heißt es: „Der Angeklagte ernennt nicht seine Richter“, eine Anspielung darauf, dass gegen Netanjahu ein Prozess wegen Korruptionsvorwürfen läuft.
Es ist ein sonniger Nachmittag. Nicht weit entfernt, im Schloss Bellevue, absolviert Netanjahu gerade mit Bundespräsident Steinmeier einen Fototermin. Zuvor hat er sich mit Kanzler Scholz getroffen, der seine „große Sorge“ über die Entwicklungen in Israel ausdrückte.
Fototermine kann der neue israelische Regierungschef gerade gut gebrauchen, umso mehr, als in vielen westlichen Hauptstädten derzeit wenig Bereitschaft herrscht, sich mit ihm oder seinen Ministern ablichten zu lassen. Da darf er sich darüber freuen, wenn ihn Giorgia Meloni und nun auch Olaf Scholz empfangen.
Das Vorhaben seiner Regierung, zukünftig per Abstimmung in der Knesset Entscheidungen des Obersten Gerichts kippen zu können, das derzeit mangels einer Verfassung die demokratischen und humanitären Werte des Landes in letzter Instanz zu schützen vermag, führt in Israel seit Wochen zu massiven Protesten – und bei Israel grundsätzlich wohlgesinnten Regierungen zu harscher Kritik.
Wie gefährlich die Reform ist
Vor dem Brandenburger Tor sind kurz Sprechchöre zu hören: „Dai la kibbusch – Schluss mit der Besatzung.“ Darüber sind sich wohl viele der Anwesenden einig. Die Veranstalter unterbinden aber das Zeigen von „Apartheid“-Schildern, weil das zur Delegitimierung ihres Protests führe, sagt die Opernsängerin Shlomit Yeshayahu, eine der Veranstalterinnen der Demo.
Sie lebt seit sieben Jahren in Berlin und sagt: „Die meisten hier sind Israelis, die in Berlin leben, und es sind Leute aus anderen Städten gekommen. Wir stehen hier aus Solidarität mit unseren Brüdern und Schwestern in Israel, die dort nicht so ideale Bedingungen wie wir hier haben.“
Die israelische Community in Berlin werde nicht dabei zuschauen, wenn sich zu Hause Entwicklungen abspielten, die das Land zerstörten. „Wir wollen auch der hiesigen Gesellschaft deutlich machen, wie gefährlich diese Reform ist, nicht nur für Israel, sondern auch für den Friedensprozess und die Stabilität im gesamten Nahen Osten.“
Linke Positionen dämonisiert
Moria Avdayev ist mit ihrer Freundin zur Demo gekommen und hat auf ein Stück Pappe geschrieben: „Ich bin wegen ihm hier.“ Netanjahu präge seit über zehn Jahren das Land, alles werde immer teurer, die Leute seien im Dauerstress. Linke Positionen würden dämonisiert. Sie ist vor Kurzem nach Berlin gezogen, um in Neurowissenschaften ihren Master zu machen.
Der Protest im Land und die Unzufriedenheit über die rechts-religiöse Regierung kommt aus der liberalen Hälfte der Gesellschaft. Es sind die Leute, die den Laden am Laufen halten, in der Verwaltung, dem Gesundheitswesen, der High-Tech-Industrie und der Armee, die seit Wochen beinahe täglich demonstrieren. Man kann Regierungen bilden, die diesen Teil der Gesellschaft nicht repräsentieren. Ob man das Land auf Dauer gegen sie regieren kann, ist eine andere Frage.
„Das ist keine Regierung, das ist eine kriminelle Vereinigung“, ruft jetzt ein Redner von der Bühne, und ein Chor von Trillerpfeifen stimmt ihm zu.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind