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Israel nach dem LockdownAuferstanden

In Tel Aviv haben die Cafés und Kneipen wieder geöffnet, Fußballfans dürfen ins Stadion. Die Pandemie gilt als überwunden. Wie lebt es sich jetzt?

Ein milder Frühlingstag an der Promenade in Tel Aviv. Ist alles wie früher? Foto: Gideon Markowicz/dpa

Tel Aviv taz | „Keine Zeit“, sagt der Besitzer des Über­cafés in der Levontinstraße im Zentrum Tel Avivs, hebt kurz entschuldigend die Schultern und läuft dann weiter durch das Café, in dem sich vor dem Tresen eine Schlange gebildet hat. Ein Mann mit Tattoo auf dem Unterarm bedient in atemberaubender Geschwindigkeit die Espressomaschine, holt Sandwiches aus der Glasvitrine und zieht Kreditkarten durch den Kartenleser. Mein Handy macht ein Zimbelgeräusch. Eine Freundin aus Bremen schreibt, dass sie zwar neidisch sei, dass ich in Tel Aviv lebe, aber trotzdem wissen möchte, wie es mir geht. Und ob ihre Vorstellung, dass mein Leben vor allem daraus besteht, geimpft in der Sonne zu sitzen, der Realität entspricht. Ich nehme mir vor, später zu antworten, lege Trinkgeld auf den Tisch und trinke den Cappuccino aus.

Ohne die allgegenwärtigen Masken in den Gesichtern der Menschen sähe es an diesem Morgen im März in der Levontinstraße Tel Avivs so aus, als hätte es Corona nie gegeben. Die Tische vor den Cafés sind voll. Um drinnen zu sitzen, in Restaurants oder Cafés, benötigt man einen grünen Impfpass, der die eigene Immunisierung bestätigt. Doch an diesem Morgen sitzen die überwiegend jungen Leute ohnehin draußen und genießen bei 20 Grad im Schatten den strahlenden Sonnenschein. Kinder kreischen vom Spielplatz herüber, nur vereinzelt biegen einige Autos von der überfüllten Allenbystraße ab und übertönen das Vogelgezwitscher.

Eine Gruppe junger ­Menschen auf der anderen Straßenseite lässt sich von einem Tourguide die Architektur der Straße erklären. Die Levontinstraße liegt zwischen dem heruntergekommenen Viertel nahe dem alten Busbahnhof im südlichen Tel Aviv und dem zentral gelegenen stolzen Rothschildboulevard. Bauten des Bauhauses liegen neben Häusern im Stile des Art Nouveau und Art Decó, gebaut von Einwanderern vor einhundert Jahren. Mit den Jahren verfielen die Gebäude, die Gegend entwickelte sich zu einem Zentrum für Drogen und Prostitution, bis vor einigen Jahren eine Gentrifizierungswelle einsetzte. Seitdem reihen sich hier Cafés, Friseure, Blumenläden und Modeboutiquen in prachtvoll renovierten Gebäuden aneinander.

Die Architekturführung findet ausschließlich auf Hebräisch statt. Es gibt keinen Bedarf für englischsprachige Touren. Noch dürfen Touristen nicht ins Land.

Anfang März hatte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verkündet, dass Israel das erste Land weltweit sein werde, das die Corona­krise überstanden haben wird. Für viele Menschen, die gerade in Europa versuchen, dem regnerischen Grau im Lockdown zu trotzen, klingt dies vermutlich nach einem Traum.

Doch wenn auch ein Ruck der Erleichterung quer durch das Land geht – es gibt doch so einige Scherben, die zusammengekehrt werden müssen. Und das Vertrauen in die neue Freiheit ist nicht sehr groß.

Viele sind mit einem blauen Auge davongekommen

Sherry Shami Keren hat Glück gehabt. Sie verkauft nicht nur in ihrem Geschäft in der Levontinstraße Düfte und Kerzen, sondern auch online. Auch die Cafébesitzer in der Straße sind mit einem blauen Auge davongekommen; viele haben sich mit Take-away über Wasser halten können. Insgesamt jedoch mussten in Israel alleine 4.000 Restaurants und Cafés dauerhaft schließen. Shami Keren schaut die Straße hinauf. Das Modegeschäft ein paar Meter weiter ziehe wohl bald um, sie glaube aus finanziellen Gründen.

Dessen Besitzerin ist kurz angebunden. Vor zwei Wochen hat sie die Fußmatte wieder vor das Geschäft legen und Kun­d*in­nen hineinlassen dürfen. „Ob ich optimistisch bin?“, fragt die Mitfünfzigerin und drapiert eine Tunika im Schaufenster: „Natürlich!“ Sie meint es nicht ironisch, es klingt aggressiv. Israelis haben weltweit die längste Zeit im Lockdown verbracht – und dennoch für lange Zeit auch die Tabelle der Neuinfektionen angeführt. „Natürlich waren die Lockdowns ein finanzielles Problem. Wer hatte denn kein Problem?“ Mehr möchte sie nicht sagen. Stattdessen zieht sie den Wischmopp über den Boden. „Es ist alles eine Sache der Einstellung. Man muss Vitamin D nehmen“, sagt sie und lässt den Wischmopp weiterwirbeln.

Ido Avinoam läuft an dem Geschäft vorbei, er sucht mit seiner Freundin nach einem Café. Er ist nicht wütend, eher verstört. Avinoam ist erst kürzlich von London zurück in seine Heimatstadt Tel Aviv gezogen und kann noch immer nicht recht glauben, wie das Land während der Pandemie mit den persönlichen Freiheitsrechten seiner Bürger umgegangen ist, etwa dass der Inlandsgeheimdienst Schabak die Standorte sämtlicher israelischer Telefone überwachte. Wie nicht wenige Israelis hält Avinoam die Wiederherstellung des Alltagslebens für politisch motiviert. Er vermutet einen Coup von Premier Benjamin Netanjahu, der überall nur nach seinem Vornamen Bibi genannt wird. „Kurz vor der Wahl macht Bibi auf und sagt: ‚Corona ist vorbei‘“, sagt Avinoam und klatscht mit den Händen: „Es würde mich nicht wundern, wenn er kurz nach der Wahl einen neuen Lockdown verhängt.“

Das Vertrauen in die neue Freiheit ist nicht sehr ausgeprägt. Die Israelis blicken auf ein Jahr chaotischer Coronapolitik zurück, die den Graben zwischen säkularen und ultraorthodoxen Juden noch vertieft hat. Während in Tel Aviv Spaziergänger wegen einer fehlenden Maske im Gesicht hohe Bußgelder bezahlen mussten, gab es in ultraorthodoxen Zentren regelmäßig Massenversammlungen Tausender Strengreligiöser, bei denen die Polizei entweder hilflos daneben stand oder gar nicht erst anreiste. Es gibt kaum jemanden, der diese Tatsache nicht mit Netanjahus Bemühen zusammenbringen würde, seine ultraorthodoxen Bündnispartner in der Knesset nicht zu verprellen.

„Leben denken wir hier mittlerweile in Kategorien von rein in den Lockdown und raus aus dem Lockdown“, erzählt Daphna Arad. Sie steht auf dem Antik- und Trödelmarkt in der Nähe der Cinemateque. Arad hält nicht viel von Netanjahu. Doch bei aller Kritik kennt auch sie mittlerweile das Gefühl, auf widerwillige Weise froh zu sein, dass der als Regierungschef amtiert – angesichts der so groß angelegten und erfolgreichen Impfkampagne. „Glücklicherweise sind Netanjahu und seine Frau Sara Hypochonder“, sagt sie und lacht: „Zumindest wird ihnen das nachgesagt.“

Selbst die Clubs stehen vor der Öffnung

Noch vermisst Daphna Arad die großen Partys und Konzerte. Tatsächlich werden solche Art Menschenansammlungen mehr und mehr genehmigt. Am vergangenen Wochenende durften zum ersten Mal wieder Fußballfans im Stadion ihre Spieler anfeuern – allerdings nur 1.500 Geimpfte. Theater stehen vor der Öffnung. Auch Clubs sollen am kommenden Wochenende wieder aufmachen dürfen, wenn der Trend fallender Infektionszahlen anhält.

Doch Arad bleibt skeptisch: „Obwohl ich geimpft bin, kann ich jetzt nicht zurück in Bars, ohne zu denken, dass sich um mich herum lauter Virusträger bewegen. Ich vertraue dem Leben nicht mehr so recht.“ Ist sie optimistisch, dass das Leben in Tel Aviv bald wieder so pulsiert wie vor Beginn der Seuche? Sie hofft es. „Aber man kann die Coronapandemie nicht innerhalb von einer Minute mit einer Regierungsentscheidung beenden.“

Doch es gibt auch die, die gar nicht so recht zurück wollen in das alte Tel Aviver Nachtleben oder sich sorgen, dass ihre Ängste zurückkommen könnten. Zu ihnen gehören Avi Ben Shoshan und Mattan Jenossar, die abseits der Cafés auf Hochstühlen am Rande des Platzes sitzen. Warum hier, wo doch alles wieder offen ist?

„Wir wollten etwas privat besprechen“, sagt Ben Shoshan. Er arbeitet als Designer, auch die zwei Kaffeetassen auf dem Tisch vor ihm hat er entworfen. ­„Natürlich ist es irgendwie schön, dass alles wieder offen ist“, sagt Jenossar. „Aber eigentlich kommt es mir jetzt absurd vor, für 40 Schekel – 10 Euro – ein Sandwich im Café zu kaufen.“

Die ganzen Lockdowns über ist sie mit Freunden draußen spazieren gegangen, hat sich draußen getroffen und an Plätzen gesessen, so wie jetzt mit ihrer Kaffeetasse in der Hand. Tatsächlich haben die Israelis gegenüber Europa in der Pandemie einen unschlagbaren Vorteil: Hier kann man sich den ganzen Winter hindurch draußen treffen, sieht man von den wenigen Regentagen ab.

Jenossar hat sich bisher nicht impfen lassen, so wie eine ganze Reihe junger Israelis mit antiautoritärem Gestus, aber nicht ganz klarer Argumentation. Der grüne Impfpass, der zu vielen Vorteilen berechtigt, soll wohl auch dabei helfen, diese Skep­ti­ke­r*in­nen zu überzeugen. Bei ihrem Gesprächspartner Ben Shoshan hat die Strategie funktioniert: „Ich bin geimpft. Allein deshalb, weil ich wieder ins Schwimmbad gehen will“, sagt er.

Ob in Israel die sogenannte Her­den­immunität erreicht wird, hängt auch an Menschen wie Mattan Jenossar. Doch entscheidender dürfte sein, ob bald nicht nur über Sechzehnjährige, sondern schon über Zwölfjährige geimpft werden können. Die Bevölkerung ist jung.

Ich hole mein Handy raus. „Geimpft bin ich, die Sonne scheint, alles andere ist unklar“, schreibe ich meiner Bremer Freundin: „Bald kommt hoffentlich bei euch auch die Sonne raus.“

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4 Kommentare

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  • Beneidenswert. In Deutschland werden wir wohl - wenn es so weiter geht - noch 1 Jahr drauf warten müssen.

  • Zum Glück sind wir in Deutschland keine solchen Impfnationalisten.

    Wenn die Bewältigung der Corona-Pandemie die Schablone für die deutsche Lösung der Klimakrise ist - so wie es ganz Eifrige fordern und schon voran treiben , dann: Gute Nacht, Deutschland.

  • Na, das freut doch. Während die Israelis aus den Tal der Tränen schon fast raus sind, übt man sich in D-Land in dem , was man hier am besten kann: In Lahma*schigkeit.

    "Pandemieende, ursprünglich geplant für 04/21, heute wenige Jahre später. "



    Na, nicht dass es am Ende noch heißt "fällt aus" - mit Bitte um Verständnis..

  • Glückwunsch und alles Gute, Freunde!