Islamwissenschaftlerin über Antisemitismus: „Israel bietet sich als Feindbild an“
Trotz der Übergriffe auf Pro-Israel-Demonstranten in Deutschland glaubt Lamya Kaddor nicht, dass der muslimische Antisemitismus hierzulande erstarkt.
taz: Frau Kaddor, auf einer Bremer Demonstration haben kürzlich 150 junge Muslime antisemitische Parolen gerufen. Erstarkt derzeit der muslimische Antisemitismus?
Lamya Kaddor: Er wird sichtbarer, aber ich bezweifle, dass er stärker wird. Einen latenten Antisemitismus gibt es bei einem beträchtlichen Teil der Muslime schon lange – vor allem bei arabisch und immer mehr türkischstämmigen Muslimen.
Warum gerade bei ihnen?
Den türkischen Antisemitismus hat der Beschuss der türkischen Gaza-Hilfsflotte durch die israelische Armee im Jahr 2010 befeuert. Und was die Deutsch-Araber betrifft: Sie sind seit Beginn des Nahost-Konflikts vor 60 Jahren mit diesem Thema beschäftigt: mit Israels Daseinsberechtigung und dem Leid der Palästinenser, wie sie es sehen. Da bietet sich Israel als Feindbild an.
Ist der Antisemitismus arabischer Muslime also ausschließlich politisch motiviert?
In der Regel ja. Er wird allerdings gern vermischt mit ideologisiertem, das heißt islamisiertem Antisemitismus. Islamisten – Fundamentalisten – reißen Koran-Passagen aus dem Zusammenhang, in denen Gewalt enthalten ist, und missbrauchen sie zur Rechtfertigung ihrer politischen Position.
Es gibt also Koran-Suren, die man antisemitisch lesen kann?
Aus der heutigen Perspektive eines Antisemitismusforschers würde ich sagen: Ja. Eine Passage heißt zum Beispiel: „Bekämpft die Ungläubigen, wo ihr sie findet.“ Gemeint sind unter anderem jüdische Stämme, mit denen der historische Mohammed damals kämpfte. Es geht dabei aber um eine Kriegshandlung und nicht um einen religiösen Disput. Gleichzeitig spricht der Koran an anderer Stelle auch positiv über Juden.
Unter dem Eindruck der Eskalation in Nahost gerieten Pro und Anti-Israel-Demonstranten jüngst in mehreren Städten aneinander:
In Hannover gingen - unter dem Motto "Free Palestine" - am 27. Juli 2.100 Menschen auf die Straße. Sie zeigten Transparente mit durchgestrichenen Davidsternen. Monty-Maximilian Ott von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft meldete daraufhin eine Gegenkundgebung an. Deren Teilnehmer wurden attackiert, als sie eine Israel-Fahne zeigten.
In Göttingen eskalierte am 26. Juli die von pro-palästinensischen Gruppen organisierte "Demonstration für Gaza". Es kam zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und den Teilnehmern einer Gegenkundgebung.
In Bremen wurde am 12. Juli bei einer Demonstration von Palästinensern ein 28-jähriger Passant schwer verletzt. Demonstriert hatten 120 Menschen.
In Frankfurt/Main hatten am 12. Juli 2.000 Menschen nach Polizeiangaben friedlich gegen das israelische Vorgehen im Gaza-Streifen demonstriert. Zu Deeskalation der folgenden Ausschreitungen überließ die Polizei den Demonstranten einen Lautsprecherwagen, aus dem dann israelfeindliche Parolen ertönten. AS
Allerdings hat der Mufti von Jerusalem 1938 mit Hitler paktiert und Judenhetze betrieben.
Ja, leider. Man muss aber bedenken, dass es erstens nicht zufällig der Großmufti von Jerusalem war, der sicher politische Motive hatte. Zweitens hat jede Großstadt im Orient einen Mufti und jede Region einen Großmufti. Er war also nur einer unter vielen, und seine Aussage ist keineswegs bindend für „die“ Muslime.
Aber wer den Antisemitismus befeuern will, kann sich auf den Jerusalemer Mufti berufen.
Ja, und diese Sache darf natürlich nicht verschwiegen werden. Andererseits könnte man dieses Kapitel nutzen, um etwa im Schulunterricht dezidiert die politischen Hintergründe zu erklären. Aber natürlich stimmt es, dass Islamisten diesen Mufti zitieren und stolz sagen: „Seht ihr, wir hatten sogar mit Hitler zu tun!“
Stimmt es, dass viele Muslime Hitlers „Mein Kampf“ lesen?
Ja. Besonders in der arabischen Welt ist das Buch relativ auflagenstark.
35, die Islamwissenschaftlerin ist Lehrerin im nordrhein-westfälischen Schulversuch "Islamkunde in deutscher Sprache". 2004 bis 2008 hat sie an der Uni Münster islamische Religionslehrer ausgebildet und 2010 den Liberal-Islamischen Bund mitgegründet. Sie hat das Buch "Muslimisch, weiblich, deutsch" verfasst und über Antisemitismus im Islam geforscht.
Lesen Muslime der arabischen Welt auch Berichte von Holocaust-Opfern?
Kaum. Dazu muss man wissen, dass im größten Teil der arabischen Welt Zensur herrscht. Die Menschen haben also mitunter gar keine Chance, kritische Bücher zu lesen. Auch keine differenzierten Biographien von NS-Opfern. Dafür gibt es viel Literatur, die sich gegen Juden, Zionisten, Israelis richtet – was für viele Araber das Gleiche ist.
Gilt das auch für arabischstämmige deutsche Muslime?
Nein. Ich erlebe hier – gerade unter den gebildeteren Muslimen – eine Generation, die inzwischen durchaus unterscheidet zwischen Israelis, Zionisten und Juden. Diese Menschen sagen: Das Problem sind nicht die Juden, sondern das harte Vorgehen des israelischen Militärs.
Sind besonders junge Muslime anfällig für Antisemitismus?
Ich glaube, sie zeigen ihn unverhohlener – vermutlich, weil der Reflexionsgrad nicht so hoch ist wie bei Erwachsenen. Der Jugendliche geht platter mit dem Thema um und erkennt nicht, dass es im Nahostkonflikt anfangs nur um Territorien ging. Und dass er sich erst allmählich zu einem auch religiös geprägten Konflikt entwickelt hat.
Welche Rolle spielen die hiesigen Imame, von denen viele in Koranschulen lehren?
Schwer zu sagen. Die Imame stehen unter großem Druck. Sie wissen, dass sie beobachtet werden – nicht vom deutschen Staat, sondern von der muslimischen Community, die sehr kritisch verfolgt, was der Imam ihren Kindern erzählt. Deshalb werden sich viele Imame inzwischen hüten, politische Statements abzugeben. Wobei ich nicht ausschließen will, dass es auch Imame gibt, die den Antisemitismus befeuern. Aber ich will auch nicht ausschließen, dass es Rabbis gibt, die die Palästinenser und ihren Glauben verfluchen.
Reflektieren viele Muslime ihren eigenen Antisemitismus?
Noch viel zu wenige. Und speziell jetzt ist angesichts der Eskalation im Nahen Osten der ungünstigste Zeitpunkt. Gerade unter den arabischen Muslimen würden sich jetzt viele weigern, Verständnis für die andere Seite aufzubringen.
Aber gibt es grundsätzlich Kräfte, die eine innermuslimische Antisemitismus-Debatte initiieren könnten?
Ja. Denn natürlich spricht der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime oder ich als Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes mit jüdischen Vertretern. Aber konkrete Programme für die Jugendarbeit sind immer noch selten. In letzter Zeit hat allerdings der Liberal-Islamische Bund mehrere Projekte entwickelt, die in diese Richtung gehen.
Sind Sie selbst mit antisemitischen Klischees aufgewachsen?
Ja. Meine Eltern sind beide Syrer, und Syrien befindet sich offiziell immer noch im Krieg mit Israel. Da habe ich natürlich Zuhause gelegentlich Geschichten gehört über die jüdische Weltverschwörung und den sagenhaften Reichtum der Juden – die üblichen Propagandaklischees.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Als Kind habe ich nie verstanden, was sie meinten, denn ich kannte ja keine Juden. Auch als wir in der Schule die NS-Zeit durchnahmen, hat mich irritiert, dass es stets um tote Juden ging. Das hat mich gestört – so lange, bis ich später bewusst auf Juden traf und mich austauschen konnte.
Inzwischen geben Sie selbst islamischen Religionsunterricht auf Deutsch. Hilft das?
Ja, denn die Jugendlichen bekommen eine Chance, die ich selbst nie hatte. Als deutsch-syrische Muslimin war ich immer eine Minderheit in der Minderheit, denn Koranschulen und Moschee-Aktivitäten – das fand alles auf Türkisch statt. Und in der Schule gab es keinen islamischen Religionsunterricht. Meine religiöse Erziehung haben deshalb ausschließlich meine Eltern übernommen. Ich hätte mir manches Mal Religionsunterricht gewünscht, um Fragen zu stellen, die ich Zuhause so nicht stellen konnte.
Welche Fragen stellen Ihnen Ihre Schüler heute?
Sie fragen vor allem, was sie im Islam dürfen und was nicht. Sie nehmen den Islam oft als Gesetzesreligion wahr, die er so vordergründig gar nicht ist.
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