Interview mit Daniela Dröscher: Der Kern des Patriarchats
Die Autorin Daniela Dröscher über ihren neuen Roman „Lügen über meine Mutter“ und das Mehrgewicht der eigenen Familie.
taz am wochenende: Frau Dröscher, Sie haben schon häufiger über Ihre Mutter beziehungsweise eine dicke Mutter geschrieben. Etwa in „Zeige deine Klasse“ oder in Ihrer abgründigen Erzählung „Ophelia, mach hinne“.
Daniela Dröscher: Es ist eines meiner Lebensthemen.
Trotzdem, so heißt es, haben Sie gezögert, diesen Roman nun zu schreiben.
Marguerite Duras hat rund 20 Bücher und 40 Jahre gebraucht, um irgendwann „Der Liebhaber“ schreiben zu können. Um das unverstellt aus der Sicht des Kindes zu schreiben, musste ich einfach älter, musste ich 45 Jahre alt werden. Ich hatte vorher nicht den notwendigen Abstand und anfangs auch keine Sprache dafür, es gab den heutigen Bodypositivity-Diskurs ja auch noch nicht. Zudem fragte ich mich, ob ich als normalgewichtig geltende Autorin diese Geschichte überhaupt schreiben darf.
Daniela Dröscher, geboren 1977 in München, schreibt Prosa, Essays und Theatertexte. Ihr Romandebüt „Die Lichter des George Psalmanazar“ erschien 2009. Es folgten der Erzählband „Gloria“ und der Roman „Pola“ sowie das Memoir „Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft“. Daniela Dröscher wurde unter anderem mit dem Anna-Seghers-Preis, dem Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds sowie dem Robert-Gernhardt-Preis (2017) ausgezeichnet. Seit Herbst 2018 ist sie auch Ministerin im Ministerium für Mitgefühl. Ihr neuer Roman „Lügen über meine Mutter“ erscheint dieser Tage im Kölner Verlagshaus Kiepenheuer & Witsch (442 Seiten, 24 Euro).
Sie erzählen aus der Perspektive eines zu Beginn 6 Jahre alten Kindes. Warum?
Mir war es wichtig, immer „ich“ zu sagen und immer aus der Perspektive des Kindes zu sprechen, weil ich mir nicht anmaße, zu wissen, wie es sich anfühlt, einen dicken Körper zu haben.
Der Roman beschränkt sich auf die Jahre 1983 bis 1986.
Ich hätte das Ganze auch episch schreiben können, aber die Theaterautorin in mir wollte die Verdichtung, die szenische Verknappung. Warum es gerade diese Jahre sind, liegt in meiner Biografie begründet. Ich wurde 1977 geboren und finde diese Zeit auch vor ihrem gesellschaftlichen Horizont sehr interessant. Diese sogenannte BRD-Noir-Zeit, mitten in der Kohl-Ära, noch weit vor 1989 und der Wiedervereinigung. Ich fand spannend, noch mal zu schauen, was da eigentlich los war.
Das Patriarchat stand damals noch in voller Blüte, Männer hatten Priorität, und von heute aus betrachtet fragt man sich, warum da viele mitgemacht haben?
Eine gute Frage. Die Mutter im Buch ist nicht politisch organisiert, sie kommt gar nicht auf die Idee, sich mit anderen zu verbünden. Diese unhinterfragte Rollengläubigkeit ist eindrücklich. Die Autorin Heike Geißler, die ostsozialisiert ist, hat den Text gelesen und gemeint: „Bin ich in den 1960ern? Was war los bei euch?“
In dem Familienhaushalt im Buch funktioniert gar nichts, wenn die Mutter nicht da ist. Da scheint sich einiges geändert zu haben. Andererseits hängt Care-Arbeit auch heute noch weitgehend an den Frauen.
Stimmt, und diese unbezahlte Arbeit ist das Fundament von allem. Wenn das nicht läuft, dann läuft gar nichts. Ich bin gerade in Italien und meine Gastgeber haben eine 7 Monate alte Tochter und ich denke: Was für eine Arbeit ist es, ein Kind aufzuziehen. Es ist so eine Arbeit! Es gibt viele Ideen und Lösungen, aber das muss man wollen.
Care-Arbeit zu bezahlen, scheint nicht der Weisheit letzter Schluss.
Wir müssen die Arbeit umverteilen, die Erwerbsarbeit darf nicht das Goldene Kalb bleiben. Doch das rüttelt am Leistungsprinzip, weil Menschen, die Kinder aufziehen, nicht so leistungsfähig sind, beziehungsweise ihre Leistung woanders vollbringen. Das berührt den Kern des Patriarchats und des Kapitalismus.
Die Geschichte, die Sie erzählen, ist eine Nora-Geschichte, also im Sinne von Henrik Ibsens Stück „Nora oder ein Puppenheim“ aus dem Jahr 1879. Ein Stück, das heute gern für obsolet erklärt wird.
Das ist tatsächlich eine Nora-Geschichte. So oft ist mir diese westdeutsche Nora noch nicht begegnet und ich dachte, vielleicht ist das etwas, was erzählt werden muss.
Es ist eine Emanzipationsgeschichte.
Absolut. Am Ende steht eine Befreiung, die für diese Figur möglich ist. Aber ich finde, es sollte mehr Geschichten geben von selbstbewussten, dicken, fröhlichen Frauen, die einmal quer durchs Patriarchat marschieren und ihr Ding machen. So ist meine Figur jedoch nicht. Sie versucht, es sehr vielen recht zu machen, und ist eine Gefangene ihres Rollenbilds und des Rollenbilds ihrer Zeit.
In ihrem Dicksein ist sie nach heutiger Lesart emanzipierter als andere, weil sie mehr Raum beansprucht.
Die Mutter selbst hat auch gar kein Problem mit ihrem Körper, aber sie lässt zu, dass ihr Gewicht immer wieder zum Problem gemacht wird. Sie lässt sich auf die Waage zwingen, in Kur schicken, unterzieht sich diesen Diäten. Sie verweigert sich erst am Ende. Sie ist eine schöne, selbstbewusste, eigenwillige Person, die zulässt, dass ihr Körper zum Gefängnis wird.
Das Dicksein lässt sich auch als Chiffre für Nichtzugehörigkeit lesen.
Ja, ich hoffe, dass das Buch beide Lesarten mitbringt. Einerseits ist es sehr konkret und ich denke, Dickenfeindlichkeit ist eines der letzten Tabus im Vergleich zu anderen Diskriminierungen. Andererseits gibt es Ähnlichkeiten zu anderen Formen der Diskriminierung.
Die Künstlerin Katharina Bill, die zu Performativität von Körperfett und normativen Darstellungskonventionen forscht, sagt, dass hinter Dickenfeindlichkeit oft Frauenhass stecke.
Da würde ich absolut zustimmen. Ich habe mich schon als Jugendliche in Bezug auf meine Mutter gefragt: Was ist eigentlich die Provokation dieses Körpers. Ein weiblicher Körper, der sich Raum nimmt, ist nicht vorgesehen.
Ob Mann oder Frau, der Vorwurf lautet, man habe sich nicht im Griff, verhalte sich gesundheitsschädigend.
Eine Kollegin, die mehrgewichtig ist, sagt, wenn sie zum Arzt gehe, könne sie etwas an den Augen haben, und er behauptet, es liege daran, dass sie zu dick sei. Menschen werden auf dieses eine Merkmal reduziert; dann wird gesagt, sie seien faul, undiszipliniert, egoistisch, und die Stereotype rattern los.
Im Roman erwischt die Tochter die Mutter eines Nachts im Keller beim Naschen. Ist das mit der Selbstdisziplin wirklich ein Vorurteil?
Ich glaube, das muss jeder beim Lesen für sich selbst beantworten. Ich habe es so gebaut, dass sich die Lesart aufdrängt, jemand, der so viel arbeitet wie diese Mutter, braucht vielleicht eine Art Ent- und Belohnung. Der Körper reichert auch Fett an, um Stress zu verarbeiten.
Sie haben vorhin das Wort „mehrgewichtig“ verwendet, im Buch ist die Rede von „dick“. Hadija Haruna-Oelker schreibt in ihrem Buch „Die Schönheit der Differenz“, das Wort „übergewichtig“ sei abwertend.
Ich stimme zu, in dem „über“ ist schon ein „zu“ enthalten. Wer darf das über wen sagen? Ich finde, „mehrgewichtig“ ist ein schönes Wort, vielleicht wird es geläufiger, wenn wir es häufiger verwenden. Im Roman sage ich „dick“, weil es für die Zeit und diese Figur passender ist.
Im Roman heißt es, Schreiben und Schreien seien nur ein winziges „b“ voneinander entfernt. Ist Ihr Roman auch ein Schrei?
Ich glaube, es ist ein sehr geformter und kontrollierter Schrei.
In „Zeige deine Klasse“ sagen Sie, Schreiben bedeute auch, die Wirklichkeit zu verändern.
Ich schreibe nur über Dinge, die ich nicht verstehe und die ich für mich klären muss. Aber ich glaube, ich habe meinen Frieden gemacht.
Mittlerweile hat sich viel getan. „Bodyshaming“ und „Bodypositivity“ scheinen keine Fremdwörter mehr zu sein. Sind wir auf einem guten Weg?
Ich hoffe es, aber es hat wirklich mit Sichtbarkeit zu tun. Wir brauchen mehr solche tollen Schauspielerinnen wie beispielsweise Crissy Metz. Künstlerinnen, die einen ganz eigenen Körper mitbringen und damit selbstbewusst performen.
Wie Stefanie Reinsperger vom Berliner Ensemble.
Richtig! Wir brauchen solche Frauen, und zwar in allen Berufen.
Ich habe Ihren Roman als eine große Liebeserklärung an die eigene Mutter gelesen.
Wenn sich das transportiert, habe ich meinen Job gut gemacht!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist