Digitalkonferenz zu Carearbeit: Schreibende Mütter mit Wut
Die Belastung von Carearbeitenden ist im kulturellen Bereich oft unsichtbar. Das Kollektiv Writing with Care/Rage will das ändern.
Kürzlich, so erzählt Lene Albrecht, sei ihr drei Monate altes Kind auf dem Wickeltisch im Bad eingeschlafen. Also habe sie sich kurzerhand mit dem Laptop auf die Toilette gesetzt, um endlich eine Stunde am Stück arbeiten zu können. Eine typische Anekdote aus dem Alltag schreibender Mütter: „Es gibt keine Schreibroutine. Du schreibst, wenn du Zeit hast. Man organisiert sich den Alltag um das Kind herum.“ Albrecht ist Autorin des 2019 erschienen Romans „Wir, im Fenster“, zweifache Mutter – und sie ist Mitgründerin des Kollektivs Writing with Care/Rage, das auf diese Missstände aufmerksam machen will.
Angestoßen wurde Care/Rage von der österreichischen Schriftstellerin Sandra Gugić, die im Herbst 2019 auf einer Stipendiat*innenlesung des Berliner Senats ein Aha-Erlebnis hatte. „Zuerst war es mir unangenehm, dort mit meinem noch nicht ganz einem Jahr alten Kind und meinem Partner aufzutauchen. Und dann war ich ungeheuer erleichtert, dass unter den anderen Stipendiat*innen viele Eltern, vor allem Mütter mit Kindern, waren.“ Gugić wurde dadurch bewusst: Carearbeitende brauchen mehr Austausch und Vernetzung. Und so gründete sie zusammen mit anderen Kolleginnen ein zunächst loses Netzwerk, aus dem sich nach und nach das Kollektiv Care/Rage entwickelte, derzeit bestehend aus elf carearbeitenden Autorinnen.
Zu diesen elf Autorinnen gehört neben Lene Albrecht und Sandra Gugić auch die Lyrikerin Caca Savic, Mutter eines neunjährigen Jungen. „Ich bin glücklicherweise nicht alleinerziehend, aber mein Partner ist selbst freier Künstler“, sagt sie. Vor allem die Pandemie sei bei ihnen „kräftig reingerollt“. Aber auch ohne Corona ist es für sie schwierig, Zeit zum Schreiben zu finden, denn dafür braucht sie Freiheit. „Ich kann nicht einfach darauflosschreiben, ich muss in diesen Kosmos eintauchen können. Aber eigentlich bin ich die ganze Zeit damit beschäftigt, dass das Kind überlebt.“ Ein Witz, der zugleich Realität ist: „Ich kann nicht stundenlang am Schreibtisch sitzen, ohne nachzuschauen.“
Organisatorische Herausforderung
#WritingWithCare, Konferenz im virtuellen Raum, 18.-20.06, Programm unter www.care-rage.de
Nicht nur das Schreiben, auch bei Veranstaltungen dabei zu sein bedeutet eine große organisatorische Herausforderung. Und nahezu unmöglich ist für Carearbeitende, Aufenthaltsstipendien wahrzunehmen – eigentlich eine wichtige Einkommensquelle für Autor*innen. „Ich dachte, ich könnte mein Kind für eine zweimonatige Residency temporär in einer anderen Grundschule anmelden, aber so funktioniert das deutschsprachige Schulsystem nicht“, so die in Berlin lebende Caca Savic.
Lene Albrecht ergänzt: „Die Stipendien orientieren sich an einem bestimmten Künstlerbild, das nicht mehr zeitgemäß ist, an jemanden ohne Sorgeverantwortung. Für mich ist es mit Baby und Kleinkind undenkbar, ein halbes Jahr irgendwohin zu ziehen in eine ganz kleine Wohnung und ohne Kinderbetreuung. Viele Möglichkeiten, mich zu finanzieren, habe ich als Künstlerin nicht.“
Und genau hier setzt Care/ Rage an. Das Kollektiv möchte für mehr Öffentlichkeit für diese bisher unsichtbaren Probleme sorgen – und eigene Utopien entwickeln. „Wir wollen innerhalb des Betriebs offen über Muttersein und Carearbeit reden können“, sagt Savic, denn: „Selbst in den Jahren 2020, 2021 wird einem oft geraten, in Lebensläufen nicht zu erwähnen, dass man Kinder hat.“ Organisiert hat sich das Kollektiv digital, anders wäre es nicht nur wegen Corona, sondern auch als Carearbeitende nicht möglich gewesen.
„Wir kannten uns eher lose“, erläutert Albrecht, „und haben uns erstmal entschieden, zusammen unsere Erfahrungen in ein Google Doc zu schreiben, über Muttersein, ein Mitglied pflegt auch ihre Eltern … dieser Austausch war krass empowernd, wir haben gemerkt, wie wir aus diesem Zusammenschluss Kraft ziehen, dass das Spaß macht und etwas Gutes darauf entsteht.“
Mit Komplizinnenprinzip
Auch wenn Writing with Care/Rage im Moment nur aus Frauen und größtenteils nur aus Müttern besteht, sind schreibende Mütter nicht der alleinige Fokus, sondern sämtliche Personen, die Carearbeit leisten, sind angesprochen, natürlich auch nicht-binäre Menschen. „Wir sind sehr queerfeministisch“, betont Albrecht. „Uns geht es darum, den Stellenwert von Carearbeit ganz allgemein in der Gesellschaft sichtbar zu machen.“ Zugleich weiß sie darum, dass die Gruppe auf eine gewisse Art homogen ist. „Wir sind weiße Frauen, und fast alle kümmern wir uns um Kinder. Aber genau deshalb gibt es das Komplizinnenprinzip: Wir laden andere ein, bei denen wir das Gefühl haben, dass ihre Stimmen nicht gehört werden.“
Bisher haben sie im Kollektiv oder einzeln mehrere Texte zu diesem Thema veröffentlicht und sich dem offenen Brief an staatlich finanzierte Förderanstalten, unter anderem unterschrieben von Pro Quote, dem Frauenmuseum Berlin, dem Theaterautor*innen-Netzwerk und Mehr Mütter für die Kunst, angeschlossen, der eine gendergerechte Verteilung von Fördermitteln, besonderes Augenmerk auf Carearbeitende und kinderfreundliche Stipendien fordert.
Mit der Konferenz #WritingWithCare vom 18. bis 20. Juni tritt Care/Rage erstmals groß an die Öffentlichkeit, um sichtbar über Produktionsbedingungen von schreibenden Carearbeitenden zu diskutieren und eine Verbesserung der Strukturen zu fordern.
Mehr Sichtbarkeit
Eröffnet wird die (kostenlose) Konferenz mit einem Grußwort von Sharon Dodua Otoo, die im Frühjahr ihr Debüt „Adas Raum“ veröffentlicht hat und Mutter von vier Kindern ist. Sie gehört zwar nicht zum Kern des Kollektivs, ist aber eine der Komplizinnen, von denen Lene Albrecht spricht. Außerdem wird es bei der dreitägigen Digitalkonferenz mehrere Panels und Workshops geben, unter anderem mit der Edition Nautilus, Jacinta Nandi, Sibylla Vričić Hausmann, Ulrike Draesner und Nikola Richter. Ein offener Text lädt, ähnlich wie zu Beginn der Kollektivgründung, alle dazu ein, ihre Erfahrungen festzuhalten und mit anderen ins Gespräch zu kommen.
Und was bringt die Zukunft für Writing with Care/Rage? „Unsere Idee ist natürlich, dass der Austausch, die Diskussion, über die Konferenz hinweg weitergeht“, sagt Caca Savic. Anschließend an die Konferenz soll eine Ausgabe des Literaturboten zum Thema Carearbeit entstehen. „Es gibt einen tollen Text von Ursula K. Le Guin schon aus den Achtzigern, in dem sie darüber nachdenkt, was diese Grundfrage ‚books or babies‘ mit ihrem Schreiben macht, und warum wir nicht ‚books and babies‘ denken“, sagt Lene Albrecht. Das ist auch die Essenz von Care/Rage. „Was Mutterschaft bedeutet, muss auseinandergepflückt und neu gedacht werden. Es gibt nur Mütter und Nicht-Mütter – doch was ist zum Beispiel mit den Frauen, die geboren, aber kein Kind haben?“, fragt Albrecht. „Wir wollen den Begriff ‚Mutter‘ total neudenken und revolutionieren.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen