Immer weniger Spermien: Wann kommt das Spermageddon?
Die Natur kalkuliert mit einem Überschuss, doch den Spermien geht es nicht gut. Dafür gibt es viele Gründe – von Plastik bis Feinstaub.
1974, genau zwei Jahre nachdem der Club of Rome die Grenzen des Wachstums aufzeigte, stießen zwei Forschende auf die Vorzeichen einer ganz anderen potenziellen Katastrophe: Bei der Untersuchung von über 300 Samenproben stellten sie fest, dass nur die wenigsten mehr als 100 Millionen Spermien pro Milliliter enthielten. 1950 waren es noch mehr als die Hälfte. Auch das Volumen des Ejakulats hatte sich verkleinert. Während die Welt über Überbevölkerung diskutierte, stand mit einem Mal eine ganz neue Sorge im Raum: Was, wenn die Fortpflanzung in den nächsten Jahrzehnten ausfällt?
300 Samenproben sind nicht die Welt. Wirklich in Gang kam die Diskussion erst, als in den 1990ern eine Zusammenfassung von 60 Studien den Trend bestätigte. Seitdem mehren sich bedenkliche Schlagzeilen. Eine Studie bezeichnete die Qualität von Samenproben aus Wehrdienstuntersuchungen in Hamburg und Leipzig als „bemerkenswert schwach“, eine andere die Samenqualität von jungen Dänen als schlechter als die aus einer Fruchtbarkeitsklinik von 1940. Eine weitere Zusammenfassung aus dem Jahr 2017 verzeichnete den Spermienrückgang vor allem in Nordamerika, Europa und Australien.
Gleichzeitig gab es auch Zweifel an den Ergebnissen. Etwa an den Berechnungen der Meta-Analyse aus den 1990er Jahren und der Vergleichbarkeit historischer Spermien-Messverfahren. Andere Studien widersprachen dem Trend oder fanden ihn nur regional beschränkt, und auch bei den dänischen Rekruten verbesserte sich die Spermienkonzentration über die nächsten 15 Jahre. Außerdem lag sie bei 85 Prozent der Getesteten grundsätzlich im fruchtbaren Bereich.
Als Grund zur Entwarnung reicht das allerdings nicht. Dafür ist der Trend zu hartnäckig. Er findet sich inzwischen auch in modernen, methodisch robusten Studien und Meta-Analysen mit zehntausenden Proben. Eine dieser Studien verzeichnet sogar eine Verschlechterung von 1 bis 2,6 Prozent pro Jahr.
„Wenn man in 50 Jahren eine 50-prozentige Verschlechterung sieht, läuten die Alarmglocken“, sagte der Fortpflanzungsbiologe Albert Salas-Huetos dem Wissenschaftsmagazin New Scientist. Shanna Swan, Epidemiologin und Mitautorin einer der bislang größten Untersuchungen zum Thema, vergleicht die Debatte mit der um die globale Erhitzung: „Erst gibt es Warnungen, dann viel Ablehnung und irgendwann immer mehr Leute, die anerkennen, dass es schlimmer wird.“
Es steht also nicht gut um die Spermien. Was von der Wissenschaft lange gefürchtet wurde, gilt jetzt vielerorts als gesichert. Allgemein gilt allerdings: Die Natur kalkuliert mit Überschuss. Ab 40 Millionen Spermien pro Milliliter erhöht jedes weitere die Fruchtbarkeit kaum. Unklar ist dagegen, ob sich der Überschuss irgendwann erschöpft, was den plötzlichen Rückgang in Quantität und Qualität verursacht, ob und wie er sich auf die Fruchtbarkeit auswirkt und was wir dagegen unternehmen können.
Rückgang auch bei Tieren bemerkbar
Eine naheliegende Vermutung betrifft die Stressfaktoren des modernen Lebens. Alkohol und Zigaretten schaden der Spermienproduktion, genauso wie Bewegungs- und Schlafmangel oder eine allzu fett- und zuckerreiche Ernährung. Fettzellen zum Beispiel wandeln übermäßig viel Testosteron in Östrogen um und produzieren ihrerseits entzündungsfördernde Stoffe. Wenn der Körper die ganze Zeit mit der Immunabwehr beschäftigt ist, spart er an anderer Stelle, im Zweifelsfall auch bei der Fortpflanzung.
Das zeigt sich gut am Beispiel Corona: Selbst eine relativ milde Covid-Infektion kann die Spermienproduktion über Wochen unterbrechen. Probleme mit Spermienanzahl und Spermienqualität finden sich außerdem häufig in Zusammenhang mit chronischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes Typ 2.
Der Rückzug der Spermien lässt sich aber nicht nur auf Individuen und ihren Lebensstil reduzieren. Allein schon, weil er nicht nur Menschen betrifft. Hunde zum Beispiel haben selten Arbeitsstress – dennoch litt in den letzten Jahrzehnten auch ihre Spermienqualität. Auch die Spermien von Pferden zeigen sich im Vergleich zu den 80ern heute um etwa 30 Prozent weniger beweglich. Parallel finden sich in freier Wildbahn, bei Panthern, Fischen oder Schildkröten zunehmend genitale Fehlbildungen.
Auch beim Menschen steigen die Zahlen an Endometriose, Eierstockzysten und Hodenkrebs. All das deutet auf einen schädlichen Einfluss von Umweltfaktoren hin – möglicherweise schon lange vor der Geburt, wenn sich die Sexualorgane bilden.
Dass Umweltstoffe die Fortpflanzung verschiedener Arten gefährden können, ist keine neue, spekulative Theorie, sondern war schon in den 1960ern Kernthema einer der ersten Umweltbewegungen. Damals trieb das Pestizid DDT den Weißkopfseeadler an den Rand der Artengefährdung. Das fiel vielen erst auf, als die Biologin Rachel Carson darüber den Bestseller „Silent Spring“ schrieb. Der „Stille Frühling“ ist eine eindringliche Warnung vor einer Welt ohne Vogelgezwitscher. Die Folge war eine breite politische Bewegung, ein DDT-Verbot durch US-Präsident Nixon und für den Weißkopfseeadler eine deutliche Erholung: Aus den rund 400 verbliebenen Brutpaaren sind inzwischen wieder über 70.000 geworden.
DDT gilt heute, wie diverse Pestizide, als hormoneller Störstoff. Das sind Stoffe, die unser Hormonsystem und seine Arbeit behindern und damit oft auch die Entwicklung unserer Fortpflanzungsorgane. Andere Störstoffe, denen eine schädigende Wirkung nachgesagt wird, sind Kunststoffe wie Phthalate und BPA, die sich zum Beispiel über Nahrungsmittelverpackungen ihren Weg in unseren Körper bahnen, sowie Parabene, die sich in einigen Reinigungs- und Kosmetikprodukten finden. Darüber hinaus können auch Feinstaubbelastung und Schwermetalle die Fortpflanzung schädigen.
Erst diesen Monat wieder fanden Forschende der Universität New Mexiko Mikropartikel von 15 verschiedenen Arten von Kunststoff in sämtlichen getesteten Hoden von Hunden und Menschen. Auch sie erkennen einen Zusammenhang zwischen dem Plastik und den sinkenden Spermienzahlen.
Die Stoffe werden nicht ausreichend überwacht
Was lässt sich dagegen unternehmen? Gut wäre eine Ausweitung der Regelungen, die Störstoffe jetzt schon EU-weit verbieten oder in Produkten für Kinder ausschließen (aber damit nicht unbedingt für Schwangere). Außerdem sollten Höchstgrenzen neue Erkenntnisse über die sensiblen Wechselwirkungen des Hormonsystems reflektieren und schädliche Stoffe in Plastikverpackungen und Gerätschaften – soweit möglich – durch weniger gefährliche ersetzt werden.
Dass bei der Überwachung dieser Stoffe noch Luft nach oben ist, zeigt ein aktueller Skandal: Eine Dokumentation über Plastikweichmacher entdeckte in den Urinproben einer Familie einen EU-weit nicht zugelassenen Störstoff. Das alarmierte Verbraucherschutzamt untersuchte die Proben von 250 weiteren Kindergartenkindern und fand bei mehr als 60 Prozent den Stoff, der in Tierversuchen die vorgeburtliche Entwicklung der Hoden gefährdet. Vor wenigen Tagen berichtete Öko-Test, dass in 7 von 25 Sonnencremes für Babys und Kleinkinder geringe Mengen des verbotenen Weichmachers gefunden wurden. Es ist trotzdem nicht ratsam, den Sonnenschutz auszusetzen.
Wer sich privat schützen will, kann zumindest versuchen, Plastikflaschen, -verpackungen oder Parabene zu vermeiden. Gütesiegel wie der „blaue Engel“ und „Bisphenol-frei“ oder Apps wie ToxFox helfen beim Produktcheck von Kinderspielzeug bis Kosmetik. Portable Luftfilter schützen nicht nur vor Corona, sondern auch vor Feinstaub.
Auf die Schnelle lässt sich für bessere Spermien auch der kleine Teil an Gesundheitsfaktoren beeinflussen, der tatsächlich in unserer Hand liegt: So helfen beispielsweise Omega 3-Fettsäuren, Früchte, Gemüse, Nüsse oder Fisch, freien Radikalen im Körper entgegenzuwirken und so Entzündungszustände auszubremsen. Ein reduzierter Bauchumfang und leichter Sport wurden ebenfalls mit verbesserter Spermienqualität in Verbindung gebracht – aber Achtung: sehr intensives Training kann den gegenteiligen Effekt haben.
Was der Rückgang der Spermienzahl und -qualität für die menschliche Fortpflanzung im Allgemeinen bedeutet, ist leider schwer zu beantworten. Dazu weiß die Forschung noch zu wenig über die tatsächlichen Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit. Lange Zeit galt Unfruchtbarkeit als Frauenproblem, was wohl auch dazu beigetragen hat, dass den Spermien zu wenig Beachtung geschenkt wurde.
So wird zum Beispiel in der Weltgesundheitsorganisation immer noch über die Spermien-Untergrenze für Unfruchtbarkeit diskutiert. Was die Forschung allerdings mit großer Sicherheit belegt, ist die Verbreitung von hormonellen Schadstoffen und ihren vielfältigen biologischen Folgen. Dabei gilt: Das vielleicht größte Risiko besteht darin, sie zu unterschätzen.
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