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Im Berliner Verkehr ist die Hölle los!?Friede den Straßen

Kommentar von Alke Wierth

Ein ebenso integrations- wie verkehrspolitischer Appell unserer Autorin. Die ist Autofahrerin – aber vor allem auch leidenschaftliche Fußgängerin.

Alltag auf Berlins Straßen: am Rosenthaler Platz Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

V erehrte Leser*innen, ich befasse mich nun seit mehr als 30 Jahren beruflich und privat mit dem Thema Integration. In der Rückschau auf diese jahrzehntelange Erfahrung kann ich Ihnen heute verraten, welche die am schwersten in die Gesamtgesellschaft zu integrierende Minderheit ist. Sie werden staunen: Es sind die Fahrradfahrer*innen.

Die Gründe sind vielfältig. Der erste: Radfahrer*innen betrachten sich mehrheitlich als strukturell benachteiligt, also als Opfer – Opfer einer ihnen feindlich gesonnenen Verkehrspolitik, Opfer einer angenommenen „Mehrheitsgesellschaft“ in Form der Autofahrer*innen, gar als Opfer gewaltsamer Ver­nich­tungs­feldzüge jener. Der zweite, ebenso wichtige: Viele Rad­fah­re­r*innen sind integrationsunwillig. Sie betrachten es als unnötig, sich in den Gesamtverkehr zu integrieren, indem sie Verkehrsregeln einhalten oder überhaupt nur erlernen.

Dazu kommt, drittens, eine häufige Neigung zu Regelverstößen, die – aus Sicht der Integrationsforschung betrachtet – von Punkt eins, der Opferhaltung, ausgelöst werden kann: Gibt mir die Gesellschaft meine Rechte nicht, warum soll ich ihre achten?

Oder, wissenschaftlich formuliert: Dauernde (subjektive) Erfahrung von Benachteiligung und Diskriminierung führt zum sogenannten Dominanzverhalten – wie es übrigens die Berliner Polizei jüngst am Beispiel des In-der-zweiten-Reihe-Parkens in ihrem Bericht über kriminelle arabische Clans beschrieben hat – ebenfalls eine schwer integrierbare Minderheit, mit der mich persönlich zumindest in einem Punkt mehr verbindet als mit meinen vermutlich zu 99 Prozent radfahrenden taz-Kolleg*innen: Wir – also ich und die kriminellen Clans – haben überhaupt kein Fahrrad.

Starke Geschütze

Deshalb – also wegen der 99 Pro­zent – ist auch in taz-Texten und in anderen Medien zum Thema Verkehr gern mal die Rede von einem „Krieg auf den Straßen“ – eine Rhetorik, die Punkt eins, die „Opferhaltung“ (sie­he: „gewaltsame Vernichtungsfeldzüge“), entspringt, die aber, integrationstechnisch betrachtet, Schaden anrichtet, weil sie – um in dem Kriegsbild zu bleiben – Gräben schaufelt, Stellungen aufbaut, Feindschaften beschwört, also starke Geschütze auffährt, statt friedliche Einigung anzustreben. Um die es beim Krieg ja allerdings auch gar nicht geht, sondern darum – und das gilt für beide Kriegsparteien, auch die, die sich angegriffen fühlt –, am Ende die gegnerische Partei zu vernichten oder zu unterwerfen.

Und die – also die Rhetorik –, auch das wissen wir aus der Integrationsforschung, beim so zum Gegner und Feind gemachten Anderen Angst auslöst: Er soll ausgemerzt, vernichtet werden, verschwinden – es kann am Ende nur einer übrig bleiben, die anderen müssen weg. Wir kennen das etwa aus der „Überfremdungs“-Rhetorik der AfD und anderer rechtsextremer Organisationen.

Aber nun mal im Ernst: Leute! Gäbe es einen Krieg der Auto- gegen die Radfahrer*innen – wie viele Verkehrstote hätten wir dann täglich in Berlin? Es wäre mir – Sie ahnten es schon: Ich habe ein Auto! Was mich wiederum mit in der zweiten Reihe parkenden Berliner*innen arabischer Herkunft, aber auch (und das ahnten Sie nun nicht!) mit sehr vielen taz-Kolleg*innen verbindet –, es wäre mir also ein Leichtes, täglich mehrere Rad­fah­re­r*innen zur Strecke zu bringen, würde ich mich mit meinem Auto in dieser Absicht auf die Straße begeben – eben wie ein Soldat im Krieg.

Selbstmordattentäterhaft

Ich müsste mich nicht einmal anstrengen. Sie fahren mir ja von ganz allein vors Auto! Im Gegenteil. Ich nehme für mich in Anspruch, schon einigen Rad­fah­re­r*innen ihr Leben gerettet zu haben, die sich (auch das integrationstheoretisch eine Reaktion auf als unerträglich empfundene Entrechtung) selbstmordattentäterhaft quasi vor mein Auto geworfen haben – gern nachts ohne Licht unter Missachtung der Rechts-vor-links-Regel.

Gern geschehen! Denn: Ich mag Radfahrer*innen. Ich finde es gut, dass immer mehr Menschen, auch Lieferdienste, auf das Fahrrad umsteigen. Ich bin begeistert von den neuen breiten Radwegen hinter den Parkstreifen für die Autos. Ich plädiere vehement dafür, Tempo 30 im gesamten Stadtgebiet einzuführen – außer vielleicht auf den mehrspurigen Ausfallstraßen, die tatsächlich gut gesicherte Radwege bekommen können –, wofür den Autos gern Platz weggenommen werden kann.

Und ich erkläre gern, dass man das Auto in Berlin zwar in manchen Fällen als das bequemste, niemals aber als das schnellste Verkehrsmittel betrachten darf. Ich zuckele gern langsam hinter Rad­le­r*innen daher, wo ich sie nicht mit dem nötigen Sicherheitsabstand überholen kann. Ich nehme gern Rücksicht: Bitte sehr, Mitmensch!

Und ich erwarte das auch. Denn ich bin auch Fußgängerin – was mich sowohl mit Mitgliedern krimineller Clans wie mit denen der taz-Redaktion verbindet – und auch mit Ihnen, liebe Le­se­r*innen!

Integriert euch!

Und so sehr ich die Wut vieler Fahrrad- auf Autofahrer*innen verstehe, so wenig leuchtet mir ihre Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Fußverkehr ein. Brettern Radler ohne zu bremsen in die an der grünen Fußgängerampel losgehende Menschenmenge, halte ich das für einen Ausbruch aus der subjektiv empfundenen Machtlosigkeit des selbsternannten Opfers: Ha, da sind noch Schwächere als ich, denen zeig ich’s jetzt mal! Gern mache ich auf dem Gehweg Eltern Platz, die auf Rädern ihre Kinder begleiten. Doch rasen da behelmte Rennradler*innen an mir vorbei, werde ich sauer.

Ich nehme für mich in Anspruch, schon einigen Radfahrern ihr Leben gerettet zu haben

Ich verstehe einfach nicht, warum viele Radfahrer*innen nicht bereit sind, Regeln einzuhalten: Wollen sie tatsächlich – unter Einsatz ihrer und anderer Unversehrtheit – als Sie­ge­r*innen aus einem Krieg hervorgehen – bei dem dann am Ende selbst der Fußverkehr ihren Interessen weichen muss? Oder sind sie einfach blöd? (Ha, aber das sind doch nicht alle, werden Sie jetzt sagen, das sind noch nur einige Übeltäter! Tja, antwortet Ihnen da die Integrationsexpertin: Reden Sie darüber mal mit einem arabischstämmigen Berliner.)

Womit wir wieder beim Thema Integration wären: Es ist vielleicht richtig, die Utopie einer autofreien Fahrradstadt auf die politische Agenda zu setzen. Doch noch sind wir weit davon entfernt – und müssen und sollten (und können, meiner Ansicht nach) miteinander klarkommen. Also bitte: Integriert euch, Radfahrer!

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Kolumnistin taz.stadtland
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5 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • "Ich nehme für mich in Anspruch, schon einigen Rad­fah­re­r*innen ihr Leben gerettet zu haben"

    Danke. Wäre übrigens gar nicht nötig gewesen, wenn sie diese nicht erst mit Ihrem Auto bedroht hätten, sondern zu Fuß (oder mit dem Fahrrad) unterwegs gewesen wären.

  • Wie wäre es, wenn sich Autofahrer*innen sozial-ökologisch integrieren und Auto-kaufen und -fahren ablehnen und darauf hinarbeiten ihr Auto überflüssig zu machen? Also Lastenfahrrad oder Satteltaschen o.ä. nutzen und aktiv für politische Lösungen eintreten wie fahrscheinfreier, ausgebauter, barrierefreier ÖPNV + Bahn ...

    • @Uranus:

      das ist ein typischer Grossstadtbewohnerkommentar.

      Ich bin selbst passionierte Fahrradfahrerin und auch Fussgängerin!



      Allerdings fahre ich auch Auto.



      Es kommt imer auf die Strecke und die Bedingungen an.

      Bus und Bahn sind für meine persönlichen Anforderungen leider nur selten geeignet.

      Dennoch setze ich mich in meiner Stadt (als Stadträtin) vehement für die Verbesserung des Busverkehrs ein.



      Busverkehr ist hier im Moment so was wie Dinosaurier.



      Riesige Kraken die die meiste Zeit völlig leer oder mit einem Kunden besetzt durch 4 m breite Strassen brettern und alles andere im wahrsten Sinne an die Wand drücken.



      Inklusive sich selbst im Begenungsverkehr.



      Dann muss regelmässig einer um die hundert Meter rückwärts bis zur nächsten breiteren Stelle ausweichen.



      Durch die Kurven sehen sie sich nicht rechtzeitig.



      Breite Sozialstreifen für den Rad und Busverkehr und zu ungunsten von schnell fahrenden Autos ..... da müssen wir noch dicke Bretter bohren.



      Dass Autofahrer rein rechnerisch bei max Tempo 30 gegenüber max 50 auf einer Strecke von ca 5 km nur 3 1/2 Mintuen verlieren, könnte man leicht ausrechnen.



      Da man aber in Wirklichkeit nie die 50 so durchbrettern kann ist der Zeitverlust objektiv geringer.

      Bei max 30 wären die Geschwindigkeiten von Radfahrern und Autos weitaus ähnlicher und die Rücksicht aufeinander einfacher.

      Übrigens, das Gefühl von Ohmacht gegenüber einem unbeleuchteten Zweiradfahrer habe ich mit 19 kennengelernt.



      Da ist mir auf ner 3m breiten Waldstrasse ein Motorradfahrer frontal in mein erstes Auto reingebrettert.



      Da macht man nichts mehr.



      Die Reaktionszeit reicht gerade um das Lenkrad rumzureissen.



      Bewirken tut das nichts mehr.



      Jahrelang habe ich Radfahrer nachts dazu gebracht zu schieben.

      Ich verstehe bis heute nicht, wie ich als junge Frau diese Autorität aufgebracht habe.

      • @Friderike Graebert:

        Im Kommentar geht es um die Verkehrsverhältnisse in Berlin. Klar ist der Rechtfertigungsdruck gegenüber Autofahrer*innen in der Stadt höher als gegenüber jenen auf dem Land. Wobei in den meisten größeren Dörfern es ja Busverbindungen gibt. Diese müssten eben weiter ausgebaut werden. Da engagieren Sie sich ja, wie Sie schreiben. Insofern sind Sie damit weniger gemeint. Wer macht denn das aber noch? Oder wird da nicht meist nach Ausreden für Autobesitz/-nutzung als nach Alternativen gesucht?



        In Berlin fahre ich durchaus Arbeitswege von 13 km bzw. 26 km für Hin- und Rückweg mit dem Rad. Dabei bin ich von Haustür bis Ziel mit knapp 45 Minuten genauso schnell wie mit den Öffis. Wenn mensch will, ist da schon was machbar ;-)



        Sicherlich birgt das andererseits gewisse Privilegien. Viele Menschen mit Körperbeeinträchtigungen haben da andere Bedürfnisse an Mobilitätsarten. Für diese ist dann ein barrierefreier ÖPNV wesentlich hilfreicher.

  • Fussgänger an grüner Ampel machen leider immer wieder die Erfahrung, dass für Viele das Recht des Stärkeren massgebend scheint. Und dann wundern sich alle über die Respektlosigkeit, die sie selbst verbreiten.