Hungerstreik gegen Terror-Paragraf 129: Bis zum Äußersten

Türkischen Kommunisten wird in Deutschland der Prozess gemacht. Eda Deniz Haydaroğlu kämpft für ihre Freiheit und hungert seit fast 100 Tagen.

Eda Deniz Haydaroglu steht mit verschränkten Armen vor ihrem Protestzelt

Eda Deniz Haydaroglu vor ihrem Protestzelt Foto: Florian Boillot

BERLIN taz | Unter einem Pavillonzelt, an dem rote Fahnen befestigt sind, sitzt Eda Deniz Haydaroğlu auf einem Campingstuhl. Im ersten Moment wirkt die junge Frau abwesend, aber bereits wenige Sekunden nach der Begrüßung ist sie hellwach und die Worte sprudeln aus ihr heraus. Es drängt sie zu erzählen, wieso sie hier vor der Grimm-Bibliothek ihr Protestzelt aufgeschlagen hat.

An diesem Donnerstag ist Haydaroğlu seit nunmehr 97 Tagen im Hungerstreik. Abwechselnd ist sie hier vor dem Gebäude der Humboldt-Universität oder vor dem Bundesjustizministerium nahe des Gendarmenmarktes. Unterstützt wird sie von zwei weiteren Protestierenden, die vor knapp 50 Tagen ebenfalls einen Hungerstreik begonnen haben.

Ihr Protest richtet sich gegen die Inhaftierung und Anklage von vier türkischstämmigen Ak­ti­vis­t:in­nen durch die deutsche Justiz, denen der Mitgliedschaft in der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front DHKP-C vorgeworfen wird, einer in beiden Ländern verbotenen marxistisch-leninistischen Partei, die in der Türkei auch militant gegen staatliche Institutionen ankämpft.

Haydaroğlu spricht von „Gesinnungsjustiz gegen Revolutionäre und Antifaschisten“, deren „Rechte und Freiheiten angegriffen“ werden. Sie fordert die Abschaffung des Terrorismusparagrafen 129a/b, der die Gründung und Mitgliedschaft in als terroristisch eingestuften Organisationen, auch aus dem Ausland, unter Strafe stellt.

Gesundheitliche Schäden drohen

Die 22-jährige zierliche Frau erzählt, dass sie seit Beginn ihres Hungerstreiks bereits 11 Kilo abgenommen habe und nur noch 40 Kilogramm wiege. Um Schäden zu vermeiden, trinkt sie Wasser, nimmt Salz, Zucker und Vitamin B1 zu sich. Ihr gehe es „relativ gut“ sagt sie, aber sie sei „viel schneller müde und erschöpft“. Ihr Blutdruck ist niedrig, inzwischen plagen sie auch Schwindelanfälle.

Die Grenze zu ernsthaften Gesundheitsgefahren hat sie fast erreicht: „Ab dem 100. Tag drohen bleibende gesundheitliche Schäden“, sagt sie. Dabei lächelt sie zurückhaltend. Ihr Streik sei „unbefristet“ und soll so lange weitergehen, bis sie sagen könne, „dass es sich gelohnt“ habe. Vor allem geht es ihr darum, Öffentlichkeit für das Schicksal der Inhaftierten zu schaffen. Warum sie das auf sich nimmt? „Ich bin überzeugt, dass man der Repression mit Widerstand und Solidarität begegnen kann.“ In einem Manifest stellt sie ihren Hungerstreik in die „Geschichte des anatolischen Widerstands gegen Tod und Unterdrückung“.

Im Mai vergangenen Jahres ließ die Bundesanwaltschaft nach etwa zehnjährigen Ermittlungen drei in Deutschland lebende Ak­ti­vis­t:in­nen festnehmen: die Journalistin Özgül Emre, den Studenten Serkan Küpeli und den Musiker der linken Band Grup Yorum, Ihsan Cibelik.

Die Musikgruppe gilt als eng verwoben mit der DHKP-C, viele ihrer Mitglieder sitzen in türkischen Gefängnissen, zwei von ihnen starben 2020 an den Folgen von Hungerstreiks. Das Publikum der bereits 1985 gegründeten Band ist deutlich größer als der Sympathisantenkreis der Partei. In der Türkei trat sie schon vor einer Million Menschen auf und auch in Deutschland geben Teile der etwa 30-köpfigen Formation Konzerte vor Tausenden Zuschauern.

Vorwurf der DHKP-C-Mitgliedschaft

Den Inhaftierten wird vorgeworfen, als Deutschland- oder Regionalverantwortliche der DHKP-C politische Veranstaltungen und Konzerte organisiert, Spenden gesammelt und bei der Ausbildung neuer Kader geholfen zu haben. Die Vorwürfe beziehen sich auf den Zeitraum von 2014 bis 2018.

Im Februar folgte die Inhaftierung von Hasan Unutan, einem Mitglied des Solidaritätskomitees für Grup Yorum. Die linke Rechtshilfeorganisation Rote Hilfe schrieb in einer Stellungnahme vom „Verfolgungswillen der hiesigen Repressionsbehörden“, die Ak­ti­vis­t:in­nen für „völlig legale Tätigkeiten wie die Organisation von Konzerten“ einsperren – „im Auftrag“ des türkischen Regimes.

Wenn Haydaroğlu von der DHKP-C spricht, die in der Türkei auch mit Waffengewalt kämpft, spricht sie von „der Organisation“. Sie selbst engagiert sich bei der Revolutionären Jugend der Türkei Dev-Genç, die nur in der Türkei, nicht aber in Deutschland verboten ist und eine Art Vorgängerorganisation der 1994 gegründeten DHKP-C ist. Sie kennt die Angeklagten von politischen Veranstaltungen persönlich.

Haydaroğlu ist in Detmold bei Bielefeld geboren, ihre Eltern sind türkische Aleviten. In ihrer Kindheit und Jugend sei sie häufiger in der Türkei gewesen, sie sagt: „Die Türkei war für mich immer eine Heimat.“ Mit dieser Verbundenheit – und den „vielen Ungerechtigkeiten“ erklärt sie, warum sie als gebürtige Deutsche ihren Fokus auf die politische Situation in der Türkei legt. Politisiert habe sie die Musik von Grup Yorum.

Sie engagierte sich in einem Zentrum für Drogenabhängige in Duisburg, das von politisch linken türkischen Strukturen selbst verwaltet wurde. „So viele türkische Familien verlieren ihre Kinder durch Drogen“, sagt sie.

Das Vorbild für die inzwischen geschlossene Anti-Drogen-Klinik befand sich im Istanbuler Armenviertel Gazi. Benannt wurden beide Zentren nach Hasan Ferit Gedik, einem Aktivisten aus dem Umfeld der Partei, der 2013 im Kampf gegen den Drogenhandel getötet wurde. Der Vorwurf, der in Gazi und weiteren Istanbuler Arbeitervierteln verankerten DHKP-C: Der Staat überschwemme die Viertel mit billigen Drogen, vor allem dem synthetischen Cannabinoid Bonzai, um deren Strukturen zu schwächen und schließlich durch Neubauviertel zu ersetzen.

Ihren Hungerstreik außerhalb des Gefängnisses bezeichnet Haydaroğlu als „ungewöhnlich“. Normalerweise sei das eine Protestform der Inhaftierten. Özgül Emre habe nach ihrer Verhaftung die Nahrungsaufnahme für mehrere Wochen verweigert, um gegen das Tragen von Anstaltskleidung in Untersuchungshaft zu protestieren. Aber ihr sei es damit schlecht gegangen, so Haydaroğlu. Nun greift also sie zu der drastischen Maßnahme, um ihrer Genossin weiteres Leid zu ersparen.

Prozessauftakt in Düsseldorf

Am Mittwoch vergangener Woche hat Haydaroğlu die Inhaftierten wiedergesehen: beim Prozessauftakt am Oberlandesgericht in Düsseldorf. Die drei Hungerstreikenden saßen mit etwa 60 weiteren Un­ter­stüt­ze­r:in­nen im Publikum. Als sie T-Shirts mit der Forderung nach Freiheit für die Gefangenen präsentierten gab es Aufruhr, letztlich aber konnten sie im Saal verbleiben. Auch eine kurze Rede konnte Haydaroğlu halten; das Publikum und die Gefangenen sangen gemeinsam Lieder. Haydaroğlu brachte der Tag neue Kraft: „Es war ermutigend, wie viele Leute da waren. Die Gefangenen sahen gut aus, glücklich“, sagt sie.

Inhaltlich sei es an diesem und bislang zwei weiteren Prozesstagen um den Streit gegangen, dass die Angeklagten im Gericht in einem Glaskasten sitzen müssen. Das sei noch nicht einmal bei Beate Zschäpe der Fall gewesen, sagt Haydaroğlu. Der Prozess findet unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen statt. Zum Gericht kämen die Angeklagten in Hand- und Fußfesseln sowie Kopfhörern, damit sie sich nicht unterhalten können, berichtet die Streikende.

Haydaroğlu und ihre Ge­nos­s:in­nen vermuten, dass hinter den Anklagen Absprachen zwischen deutschen und türkischen Behörden stehen. So sei Generalbundesanwalt Peter Frank kurz nach der Inhaftierung im Sommer vergangenen Jahres in Istanbul gewesen, habe Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan getroffen und habe einen Orden verliehen bekommen, wie das „Komitee: Weg mit §129“, das Haydaroğlu und ihre Mit­strei­te­r:in­nen gegründet haben, behauptet.

Eine Sprecherin beim Bundesgerichtshof widerspricht auf Anfrage der taz: „Es ist keine Auszeichnung verliehen worden.“ In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage mehrerer Linken-Abgeordneten im Bundestag heißt es über die Gespräche Franks in Istanbul: „Konkrete Strafverfahren wurden nicht besprochen.“

Haydaroğlu kann lange über die „Ungerechtigkeiten“, die ihre Ge­nos­s:in­nen erleiden müssen und den „Verfolgungswillen“ der deutschen Behörden berichten. Vor allem die aufgeführten Vorwürfe – vermeintliche Belege für die Parteimitgliedschaft – empören sie. Dabei geht es etwa um die Organisation eines Grup Yorum-Konzerts 2014 in der Arena Oberhausen vor 14.000 Zuschauern, um die Rolle als Trauzeugin bei einer Hochzeit zweier Bandmitglieder oder die Beteiligung an angemeldeten Demonstrationen. So führt die Staatsanwaltschaft bei Hasan Unutan seine Beteiligung an einer Solidaritätsdemonstration in Berlin im vergangenen November auf.

Im Leipziger Kessel

Haydaroğlu und ihre Mit­strei­te­r:in­nen nutzen derzeit alle Möglichkeiten, um Öffentlichkeit zu erlangen. So waren sie Anfang Juni auch in Leipzig zur Tag X-Demo nach dem Urteil gegen die Gruppe Lina E. – und landeten für mehr als zehn Stunden im Kessel. Die auffällige Gruppe mit ihrem roten Transparent hatte sich zuvor nicht an gewaltsamen Ausbruchsversuchen beteiligt, wie auch Haydaroğlu beteuert. Trotz Hinweisen auf den Hungerstreik sei sie von der Polizei nicht anders behandelt worden, als all die anderen Eingekesselten.

Diese Woche war Haydaroğlu wieder in Leipzig. Beim Haftprüfungstermin gegen einen ihrer Begleiter, der aus dem Kessel in U-Haft gewandert war, sollte sie als Zeugin aussagen. Schließlich aber kam es nicht dazu; der Mitstreiter kam wieder auf freien Fuß.

Für diesen Samstag hat Haydaroğlu eine Kundgebung auf dem Oranienplatz angemeldet. Der Titel: „Von Lina E. bis Özgül Emre. Die Paragrafen 129 betreffen uns alle.“ Ab 14 Uhr gibt es Redebeiträge zum Terrorismusparagraphen und den Anklagen. Ab 20 Uhr soll es ein Konzert von Grup Yorum geben. Die Band werde nahezu komplett da sein, sagt sie, also alle, „die nicht inhaftiert“ seien. Nach Ankündigung des Konzerts habe sich die Polizei schon aufgeregt bei ihr gemeldet und wollte wissen, welche Lieder die Band spielen will. Sechs Lieder seien in Deutschland verboten. Haydaroğlu sagt: „Auch da kann es wieder zu Repressionen kommen.“ Dann lächelt sie still.

Korrektur: Das Anti-Droge-Zentrum ist Istanbul, ist anders als in einer ersten Version behauptet, inzwischen von der Polizei geschlossen worden und wurde auch nicht von der DHKP-C verwaltet.

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