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Humanitäre Lage in GazaÜberlebenskampf in Gaza

Weite Teile von Gaza-Stadt sind zerstört und von der Grundversorgung abgeschnitten. Die Grenze zu Ägypten bleibt vorerst weiter geschlossen.

Ganze Straßenzüge von Gaza-Stadt sind mittlerweile zerstört: Szene vom 15. Oktober 2023 Foto: Ali Jadallah/Anadolu/picture alliance

Jerusalem taz | Die drohende israelische Bodenoffensive im Norden des Gazastreifens hat am Wochenende laut den Vereinten Nationen eine „Massenflucht“ ausgelöst. Binnen 24 Stunden sei die Zahl der Binnenvertriebenen „deutlich gestiegen“, erklärte das UN-Büro für humanitäre Angelegenheiten (Ocha) am Sonntag, nachdem bereits bis Donnerstag mehr als 420.000 Menschen ihre Häuser verlassen hätten. Israel verschob eine erwartete Bodenoffensive einem Bericht der New York Times zufolge wegen ungünstiger Wetterverhältnisse und nach internationaler Kritik und räumte mehr Zeit für eine Evakuierung ein.

Die israelische Regierung hat nach dem beispiellosen Angriff der Hamas vor gut einer Woche rund 360.000 Reservisten mobilisiert und zahlreiche Verbände nahe der Grenze zum Gazastreifen in Stellung gebracht. Beobachter gehen davon aus, dass eine Bodenoffensive jederzeit beginnen könnte. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu schrieb am Samstag nach einem Besuch im Süden Israels bei X, vormals Twitter: „Wir sind bereit.“ Bereits am Freitag hatten israelischen Medien zufolge Soldaten bei Vorstößen nach Gaza die Leichen mehrerer entführter Israelis geborgen.

Hunderte Bewaffnete der radikalislamischen Hamas in Gaza hatten in Ortschaften und auf einem Musikfestival nahe des Gazastreifens vor gut einer Woche ein Massaker verübt und mehr als 1.300 Israelis getötet sowie rund 150 Menschen entführt. Seitdem bombardiert die israelische Luftwaffe Ziele in Gaza. Dabei wurden nach palästinensischen Angaben mehr als 2.300 Menschen getötet

Ganze Straßenzüge von Gaza-Stadt sind mittlerweile zerstört. Israel hat das Gebiet seit Tagen von der Grundversorgung abgeschnitten, um eine Rückgabe der Geiseln zu erzwingen. Eine Bewohnerin, die namentlich nicht genannt werden wollte, beschrieb am Sonntag drastische Szenen. „In den Straßen hängt der Geruch von Leichen, es gibt kein Wasser, keinen Strom, kein Essen“, sagte sie. „Sie denken, wir sind alle Mörder und Kämpfer, aber das sind wir nicht.“ Israel räumte am Sonntagvormittag ein weiteres Zeitfenster ein, in dem es eine Fluchtroute nach Süden in Richtung Grenzübergang zu Ägypten nicht beschießen wollte.

Mehrere internationale Menschenrechtsorganisationen sowie die Vereinten Nationen kritisierten die Aufforderung Israels an die rund 1,1 Millionen Einwohner des nördlichen Gazastreifens, sich nach Süden zu begeben. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International forderte am Freitag die Rücknahme des Evakuierungsbefehls und betonte, Israel müsse weiterhin „alle erdenklichen Vorkehrungen treffen, um den Schaden für die Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten“.

Die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung forderte: „Zivilisten müssen auf allen Seiten geschützt werden.“ Ihre Mitarbeiter würden teils im Norden von Gaza ihre Arbeit fortsetzen. Auch Papst Franziskus sagte am Sonntag in seiner wöchentlichen Ansprache auf dem Petersplatz in Rom: „Humanitäre Rechte müssen geachtet werden, vor allem in Gaza.“ Das Kirchenoberhaupt forderte humanitäre Korridore für die Menschen in Gaza sowie die Freilassung aller Geiseln in der Gewalt der Hamas.

Unklar ist, wo die Menschen aus dem nördlichen Gazastreifen hingehen sollen

Unklar ist, wo die Menschen aus dem nördlichen Gazastreifen hingehen sollen. Bereits vor dem Krieg war der Küstenstreifen mit mehr als zwei Millionen Einwohnern auf 356 Quadratkilometern ein extrem dicht besiedeltes Gebiet. Auch im Süden hat es in den vergangenen Tagen zahlreiche Luftangriffe gegeben. Chan Yunis im Süden von Gaza sei überfüllt, beschrieb Wesam Amer, der Dekan der Fakultät für Kommunikationswissenschaften an der Universiät Gaza, die Situation am Sonntag der taz. „Wir haben bereits zwei weitere Familien in unserer Wohnung aufgenommen.“ Die Menschen würden auf offenen Feldern und in den Straßen ausharren.

Gaza zu verlassen ist derzeit kaum möglich: Ägypten, das über den Grenzübergang Rafah mit Gaza verbunden ist, hat deutlich gemacht, dass seine nationale Sicherheit eine rote Linie sei. Man fürchtet, Hamas-Kämpfer ins Land zu lassen und von der Zahl der Geflüchteten überfordert zu sein. Indes stauen sich auf ägyptischer Seite des Grenzübergangs zahlreiche Lkws mit humanitärer Hilfe für die Menschen im Gazastreifen.

Eine Bodenoffensive ist für die israelische Armee und für die israelischen Geiseln in Gaza mit zahlreichen Gefahren verbunden. In der größtenteils städtischen Umgebung müssten die Soldaten Haus für Haus einnehmen. Zudem verfügt die Hamas über ein komplexes Netzwerk an Tunneln, in denen sich Kämpfer mit den Geiseln verstecken können. Ein Einmarsch könnte mit hohen Verlusten einhergehen. Und mit steigenden Opferzahlen von Zivilisten auf palästinensischer Seite dürfte auch die internationale Unterstützung abnehmen, die Israel nach dem brutalen Überfall der Hamas in der vergangenen Woche bekommen hat.

Israels früherer Regierungschef Ehud Barak verteidigte die Bodenoffensive: Die Aktivitäten der islamistischen Hamas in Gaza ließen sich nicht durch „Luftangriffe, Diplomatie, Aufforderungen Israels über das Fernsehen oder weltweite Unterstützung“ stoppen, sagte Barak der Deutschen Welle am Sonntag. „Das muss von Bodenstreitkräften getan werden, die das Risiko eingehen, dafür mit ihrem Leben zu bezahlen.

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12 Kommentare

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  • Empfehlenswertes Buch gg. Propaganda v. Arno Gruen: Verratene Liebe, falsche Götter

  • Seit Jahrhunderten geübt und verfeinert, ist Krieg das, was der Mensch scheinbar am Besten kann.

    Vielleicht einfacher für ihn, als sich um die Bedrohung allen Lebens durch die Klimakatastrophe zu kümmern.

  • Logisch ist es schlimm was im Gaza Streifen gerade passiert. Trotzdem: in subtiler Art wird im Artikel eine Täter Opfer Umkehr vollzogen. Die Dummheit oder Naivität westlicher Eliten ausnutzend wird wird ein Narativ geschaffen, der plötzlich die Palies zu friedliebenden, unter israelischen Bomben leidenden, Mitbürgern macht. Niemand hat die zig-tausend Flüchtlinge in Dresden vor dem Flächenbombardement der Alliierten gewarnt. Ja es war Absicht die Zivilbevölkerung zu treffen um den Willen zu brechen. Israel hingegen warnt die Palies vor kommenden Angriffen, die ja deshalb geschehen um die verantwortlichen Kriegsverursacher (-verbrecher) zu eliminieren. Wo ist der Widerstand der sicherlich friedliebenden Palies? Haben die in Deutschalnd wirkenden Imame laut und deutlich sich gegen die Aggression der Hamas ausgesprochen und an ihre Landsleute appeliert?

    • @maxwaldo:

      Es waren ja gerade genau die Erfahrungen des zweiten Weltkriegs die zu den internationalen Regularien geführt haben auf deren Einhaltung derzeit zumindest noch von Einigen gedrungen wird.



      Und auch wenn die Bombardierungen deutscher Städte angesichts eines entfesselten Weltkriegs und deutscher Vernichtungslager fraglos legitim war muss man eben doch auch konstatieren, dass es eben nicht zum gewünschten Ergebnis führte und sich die Bevölkerung vom NS-Regime abwandte, sondern sich nur noch um so geschlossener hinter diesem versammelte.



      "Haben die in Deutschalnd wirkenden Imame laut und deutlich sich gegen die Aggression der Hamas ausgesprochen und an ihre Landsleute appeliert?"



      Haben sie. Etwa hier:



      www.zentralrat.de/34861.php



      schurahamburg.de/s...s-nahostkonflikts/

  • 6G
    676595 (Profil gelöscht)

    Nahostkriege nach Schema F.



    Antwort auf Terror mit Terror nach Schema F.



    Ukrainekrieg nach Schema F.



    Usw.

    Haben die alle nur das eine Formular?

  • Als Palästinenserin bin ich erschüttert von der aktuellen Entwicklung. Das palästinensische Volk ist von der Hamas seit Gründung zur Geisel genommen worden. Wir Palästinenserinnen haben keine Rechte, müssen uns verschleiern und sind unseren Männern Untertan. Wir blicken immer neidisch auf die Freiheitsrechte der Arabischen Israelinnen, die ihr eigenes Leben leben dürfen. Ich hoffe, dass Israel die Hamas ausmerzt und auch uns Palästinenserinnen vom Joch der Terrorbande befreit.

  • Es gibt nur eine Lösung. Die Palästinenser selbst müssen die Hamas für immer von palästinänsischem Boden vertreiben und einen friedlichen Staat aufbauen. Nur der Weg weg von Terror und Gewalt kann am Ende Frieden bringen.

    • @Gnutellabrot Merz:

      Offenbar kennen Sie die Gegebenheiten vor Ort nicht.



      Und die internationale Rechtslage offenbar auch nicht.

  • Es klingt schon befremdlich, dass die Staaten, die die barbarische agierende Truppe mitten unter den Palästinensern finanziell unterstützt hat, jetzt erklären, dass sie sich um die Palästinenser sorgen. Dabei haben sie die Armen und Mittellosen höchster Gefahr ausgesetzt. Es scheint nur Geld dazu sein, Krieg zu schüren, aber kein Geld (und kein Land), um den Palästinensern in ihrer Not zu helfen. Aufrufe an die barbarische Truppe, es sein und Israel in Ruhe zu lassen hört man auch kaum aus diesen Staaten. Vielmehr gibt es adrette Empfänge. Unglaublich.

    • @Ward Ed:

      Es ist unbestreitbar, dass die Hamas und extremistische Gruppen im Nahen Osten eine Rolle bei der anhaltenden Gewalt spielen. Allerdings wäre es ungenau und einseitig zu behaupten, dass die Verantwortung für den Konflikt und die Gewalt allein bei den Palästinensern liegt.

      Apartheidsstrukturen, die in Teilen des israelischen Regierungssystems existieren, tragen ebenfalls zur Verschärfung des Konflikts bei. Die Auswirkungen der Besatzung, Siedlungsbau und Bewegungseinschränkungen haben eine erhebliche Rolle bei der Eskalation des Konflikts gespielt.

      Eine umfassende Lösung erfordert daher eine kritische Betrachtung beider Seiten und die Anerkennung, dass die Schaffung eines dauerhaften Friedens auch von Veränderungen in der Politik und Praktiken Israels abhängt. Einseitige Schuldzuweisungen führen selten zu nachhaltigen Lösungen.

  • "Indes stauen sich auf ägyptischer Seite des Grenzübergangs zahlreiche Lkws mit humanitärer Hilfe für die Menschen im Gazastreifen."

    Was natürlich auch mehr so just for show ist, wenn man sich die Gegebenheiten anschaut: Die Hamas hat den gazaseitigen Teil der Grenzstation teilweise abreißen und bebauen lassen, so dass nur noch wenige LKWs entladen werden können. Auf der ägyptischen Seite gibt es auch nur ein kleines Frachtterminal, das für den *Export* von Produkten der Sweatshops im Gazastreifen gedacht ist - eine legale Geldquelle der Hamas.

    Gleichzeitig entstand auf beiden Seiten des israelischen Grenzübergangs Kerem Shalom ein gigantischer Umschlagplatz für LKW-Frachten. Den ironischerweise Netanyahu und Hamas in bester Eintracht konstruieren ließen. (Wobei ich vermute, dass das Projekt noch von Olmert stammt.)

    Wie man über Rafah Waren *nach* Gaza bekommt? Am einfachsten, indem man Mittelsmännern aus dem Gazastreifen Passierscheine ausstellt, so dass sie mit Kleintransportern auf die ägyptische Seite des Grenzübergangs fahren und dort aus den LKWs beladen werden können. Da so etwas aber gar nicht vorgesehen ist, gibt es auch kein etabliertes System wie in Kerem Shalom (wo ohnehin die meiste Fracht im LKW über die Grenze gebracht und erst dann verteilt wird); wer die Vergabe der Rafah-Passierscheine in Gaza kontrolliert, dürfte auch klar sein (es ist nicht das UNRWA...).

    Israel hat nun die völlig berechtigte Sorge, dass wegen der desorganisierten Zustände die Hilfstransporte zum Einschmuggeln von Waffen missbraucht werden könnten, und besteht auf einer Inspektion der Fracht, bevor sie an Leute aus Gaza übergeben wird.



    Sisi lehnt das kategorisch ab.

    Es ist also wieder mal evident - sobald man näher hinschaut -, dass weder die israelische Regierung, noch das ägyptische Regime, noch die Hamas ein ernsthaftes Interesse haben, irgendjemandem im Gazastreifen zu helfen, und die Frage der Hilfslieferungen allenfalls zum Zweck der Selbstdarstellung missbrauchen.

  • Mal eine Stimme aus der UN:



    "Der Krieg habe offenbar »seine Menschlichkeit« verloren, sagte Lazzarini, der insbesondere den Wassermangel im Gazastreifen beklagte: »Wir wissen alle, dass Wasser Leben ist, und in Gaza geht das Wasser aus und in Gaza geht das Leben aus.«"