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Humanitäre HilfeMehr Engagement, nicht weniger

Gastkommentar von Corina Pfitzner

Weltweit gibt es mehr Krisen als je zuvor. Doch humanitäre Hilfen werden zurückgefahren. Auch Deutschlands Entwicklungshilfe steht unter Druck.

Insbesondere im Südsudan sind mehr Menschen als je zuvor in humanitärer Not Foto: Eva-Maria Krafczyk/dpa

H eute leben 256 Millionen Menschen in Krisengebieten, in der Regel ohne ausreichende Nahrung, haben kaum Zugang zu sauberem Wasser und zu anderen lebenswichtigen Infrastrukturen. Die Zahl der Betroffenen hat sich im letzten Jahrzehnt mehr als verdoppelt. Die gravierende Zuspitzung der humanitären Lage in der Welt verdeutlicht die diesjährige Emergency Watchlist des International Rescue Committee (IRC), eine Liste jener Länder, in denen humanitäre Krisen voraussichtlich am stärksten eskalieren oder neu entstehen, auf fatale Weise: Die Anzahl der Menschen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, hat sich seit 2015 fast vervierfacht und wird im Jahr 2025 auf über 305 Millionen ansteigen. Im vergangenen Jahr wurden 123 Millionen Menschen gewaltsam vertrieben.

Dabei sind die Gründe für den steigenden Bedarf humanitärer Hilfe für Millionen Leidtragende offenkundig: Kriege und Konflikte werden häufiger, sie dauern länger und fordern mehr zivile Opfer. Jährlich führen wir vom IRC mit der Emergency Watchlist jene 20 Länder auf, in denen im kommenden Jahr mit einer drastischen Verschlechterung der humanitären Lage zu rechnen ist. Obwohl in diesen 20 Staaten nur etwa 11 Prozent der Weltbevölkerung leben, weisen diese Länder 82 Prozent des globalen humanitären Bedarfs auf.

Besonders schlecht sind die aktuellen Prognosen für Sudan, die besetzten palästinensischen Gebiete, Myanmar, Syrien und Südsudan. Insbesondere in Sudan sind mehr Menschen als je zuvor in einem einzelnen Land in humanitärer Not. Neben der größten Vertreibungskrise weltweit steht das Land auch am Rande einer der schlimmsten Hungersnöte der vergangenen Jahrzehnte.

Die Ursachen dafür liegen vor allem in vier sich gegenseitig verstärkenden Faktoren, die Krisen vorantreiben und seit Jahrzehnten die Zahl der von Katastrophen betroffenen Menschen ansteigen lassen. Zuallererst der Fakt, dass es mehr Konflikte und weniger Diplomatie gibt. Dies ist das offensichtlichste und zugleich gefährlichste Symptom eines globalen Ungleichgewichts. 2023 gab es 59 Konflikte, das markiert einen Höchststand seit dem Zweiten Weltkrieg. Internationale Akteure agieren dabei zunehmend als Konfliktparteien statt als Vermittler. So wird der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der eigentlich den globalen Frieden sichern soll, durch ständige Mitgliedstaaten gelähmt, die in den vergangenen zehn Jahren dreimal so viele Vetos eingelegt haben wie im Jahrzehnt zuvor.

Bild: privat
Corina Pfitzner

ist Co-Geschäftsführerin des International Rescue Committee (IRC) in Deutschland. Sie hat Mathematik und Kunst studiert und hat früher in gemein­nützigen Organisationen und Stiftungen gearbeitet.

Angriffe auf die Zivilbevölkerung steigen

Zudem steigen die Angriffe auf die Zivilbevölkerung, gleichzeitig gibt es deswegen aber weniger Konsequenzen. Um 66 Prozent haben sich die Angriffe auf zivile Personen zwischen 2013 und 2023 erhöht. Besonders gravierend: Drei Viertel dieser Gewalttaten wurden in den Ländern der IRC-Watchlist dokumentiert. Die parallel zunehmende Straflosigkeit schafft eine neue Normalität, in der Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht als Teil von Konflikten akzeptiert werden. Angriffe auf Krankenhäuser, Wasseranlagen und Hilfsorganisationen sind keine Seltenheit mehr. In Ländern wie Sudan sind inzwischen 70 Prozent der Krankenhäuser außer Betrieb.

Mehr Kriege und Krisen bedeuten mehr klimaschädliche Emissionen. Der CO2-Ausstoß steigt trotz Warnungen und internationaler Klimaabkommen weiter an. Am härtesten trifft der Klimawandel jene, die am wenigsten dazu beitragen. So sind die Länder, die in der Watchlist genannt werden, nur für 4 Prozent der globalen Emissio­nen verantwortlich. Dennoch wirkt der Klimawandel dort wie ein „Krisenmultiplikator“, der Armut, Hunger und Vertreibung zusätzlich verschärft. Mehr noch: Nur jeweils 4,70 US-Dollar pro Kopf und Jahr erhalten die 20 Länder der Watchlist von den internationalen Geldern, um die Folgen des Klimawandels abzumildern. Die übrigen Länder erhalten durchschnittlich über 95 US-Dollar.

Wege aus der Abwärtsspirale

Obwohl globaler Wohlstand wächst, werden die ärmsten Länder immer ärmer. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die extreme Armut weltweit halbiert, in den Ländern der Watchlist indes ist sie seit Mitte der 2000er Jahre um 85 Prozent gestiegen. Dabei spielen kriegerische Auseinandersetzungen eine entscheidende Rolle: Im Durchschnitt sinkt das Bruttoinlandsprodukt eines Landes innerhalb von fünf Jahren nach Kriegsausbruch um 30 Prozent, während die Inflation im ersten Kriegsjahr um 15 Prozent steigt.

Um globale Politik mitzugestalten, muss die Bundesregierung humanitären Einsatz zeigen

Wie könnten Wege aus der Abwärtsspirale durch Krisen aussehen? Die Watchlist ist nicht nur ein Weckruf für die internationale Gemeinschaft, sondern sollte auch für Deutschland als Wegweiser dienen. Öffentliche Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe dürfen nicht weiter gekürzt werden. Im Gegenteil: Einkommensstarke Länder müssen das jahrzehntealte Versprechen einlösen, mindestens 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens für internatio­nale Entwicklungszusammenarbeit bereitzustellen. Nur so stehen die notwendigen Ressourcen für Nothilfe und langfristige Lösungen bereit. Mindestens 50 Prozent der Gelder sollten für fragile und konfliktbetroffene Staaten eingesetzt werden, um ihre besonders vulnerable Lage abzufedern.

Die Gelder müssen verstärkt an lokale zivilgesellschaftliche Organisationen fließen, um Nachhaltigkeit und Resilienz zu fördern. Einige weitere Lösungsansätze sind die Förderung wirtschaftlicher Stabilität, verstärkte Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel oder eine Reform des UN-Sicherheitsrats. Grundsätzlich gilt: Mehr Krisen erfordern mehr, nicht weniger Engagement.

So herausfordernd die innenpolitische Lage in Deutschland aktuell auch sein mag: Um globale Politik mitzugestalten und globale Ungleichgewichte aufzulösen, muss die Bundesregierung einen entschlossenen humanitären und diplomatischen Einsatz in den Krisen der Welt zeigen. Ansonsten wird sich Deutschland in der internationalen Staatengemeinschaft an der Seitenlinie wiederfinden.

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