Historiker über NS-Profiteure: „Zögerliche Aufarbeitung“
Bremer und Hamburger Kaufleute profitierten in der NS-Zeit besonders stark im besetzten Osten. Und viele Firmenarchive sind bis heute unzugänglich.
taz: Herr Matheis, wie stark waren „Hanseaten“ in der NS-Zeit an der Ausbeutung des europäischen Ostens beteiligt?
Felix Matheis: Alles, was wir bisher wissen, deutet darauf hin, dass Hamburger und Bremer im „Generalgouvernement“ im heutigen Polen und den besetzten Teilen der Sowjetunion überdurchschnittlich vertreten waren.
Was ist das genau für ein Gebiet?
Das von mir untersuchte „Generalgouvernement“, das Teil des besetzten Polens war, umfasste das heutige Ostpolen und den westlichen Teil der Ukraine. Hansestädtische Firmen waren dort vor allem als Monopolhändler aktiv, mit 21 Hamburger und elf Bremer Firmen. Hinzu kommen 20 weitere Hamburger Firmen in anderen, ökonomisch weniger wichtigen Rollen. Insgesamt kommt man auf 52 Unternehmen aus Hamburg und Bremen.
Aus welchen Branchen kamen sie?
Die meisten waren Handelsfirmen, von denen viele bis 1939 in afrikanischen Kolonialgebieten tätig waren, aber auch in Ostasien und Lateinamerika. Dass einige von ihnen Kolonialfirmen waren, galt den Akteuren als Beweis ihrer Eignung für das „Generalgouvernement“. Denn auch der Osten galt als koloniales Gebiet, in dem man von Erfahrungen mit einer unterworfenen lokalen Bevölkerung profitieren konnte.
Dabei war der Osten Neuland für diese Kaufleute.
Ja. Diese Übersee- beziehungsweise Kolonialfirmen hatten sich nie zuvor für Polen oder die Sowjetunion interessiert. Aber vom Ende der 1930er bis in die 1940er Jahre hinein fand ein Wandel der mentalen Landkarte statt, in dessen Verlauf diese Region für hanseatische Unternehmer in den Mittelpunkt rückte.
Warum?
Das hängt mit der damaligen Gesamtsituation zusammen. Hamburg und Bremen als Seehandelsstädte hatten im Nationalsozialismus zunächst schlechte Karten, weil das von Hitler 1933 implementierte Rüstungsprogramm die Industrie favorisierte und zugleich den Außenhandel gängelte. Die Handelsbranche erholte sich schlecht von den Folgen der Weltwirtschaftskrise von 1929. Sie musste neue Wege suchen. Die Richtung gab die NS-Führung vor, die den Handel gezielt auf europäische Länder ausrichtete.
Wie lösten die Hanseaten ihr Problem?
Sie arbeiteten eng mit den NSDAP-Spitzen zusammen, um ihre Situation zu verbessern. Insbesondere in Hamburg hat sich zwischen dem NSDAP-Gauleiter Karl Kaufmann und der Kaufmannschaft – insbesondere der Handelskammer – eine Kooperation entwickelt, die versuchte, Hamburg stärker in die Wirtschaft des Nationalsozialismus zu integrieren. Hinzu kam die „Chance“, sich infolge der „Arisierung“ – der systematischen Enteignung jüdischer Gewerbe – zu bereichern. Für Bremen ist das wenig erforscht, aber in Hamburg hat sich die Handelskammer seit dem Frühjahr 1938 massiv daran beteiligt. Ausschlaggebend war aber die britische Seeblockade seit 1939, in deren Folge die Überseehändler händeringend neue Betätigungsfelder suchten. Eins davon war das eroberte Polen.
Wie lief die Bereicherung im Osten konkret ab?
Die Firmen haben – wie in Deutschland – von der Enteignung jüdischer Händler profitiert, indem sie als „Kreisgroßhändler“ an deren Stelle traten. Die Deutschen haben im „Generalgouvernement“ einen Apparat aufgebaut, der dazu diente, die Nahrungsmittelproduktion der polnischen Landwirte aufzusaugen.
Wie ging das vor sich?
Man zwang sie mit Waffengewalt, ihre Waren zu niedrigen Preisen an die Besatzer zu verkaufen, die sie für die Wehrmacht und deutsche Zivilisten nutzen wollten. Im Gegenzug wurde die polnische Bevölkerung auf Hungerrationen gesetzt. Allerdings wurde schnell klar, dass die polnischen Bauern nicht geneigt waren, ihre Produkte an die Deutschen abzuliefern, die sie schlecht behandelten und weniger zahlten, als man auf dem Schwarzmarkt bekam. Um ihn zu bekämpfen, schafften die hanseatischen Firmen Anreize: Wenn ein polnischer Bauer an die Deutschen verkaufte, bekam er einen Bezugsschein. Damit konnte er bei der betreffenden hanseatischen Firma alltägliche Konsumgüter als „Prämien“ kaufen – Bekleidung zum Beispiel.
Hat das funktioniert?
Jg.1986, hat Geschichte und Soziologie studiert und schließt demnächst in Hamburg seine geschichtswissenschaftliche Dissertation zu „Hanseaten im Osten. Bremer und Hamburger Firmen im Generalgouvernement 1939–1945“ ab.
Weitgehend. Der Schwarzmarkt blieb attraktiv, aber von 1940 bis 1944 stiegen die Ablieferungsmengen an Agrargütern und auch die Umsätze der hanseatischen Firmen – teils auf zweistellige Millionenbeträge in Złoty, also Millionen Reichsmark. Außerdem konnten die Kaufleute, durch besagte Seeblockade von Übersee abgeschnitten, ihre Firmen erhalten und von da aus nach 1945 wieder starten: Die meisten waren spätestens in den 1950er Jahren wieder im Welthandel aktiv und sogar erfolgreich.
Wie traten diese Deutschen vor Ort auf?
Durchaus als Herrenmenschen. Gerade diejenigen, die vorher in den Kolonien tätig waren, übertrugen dieses Selbstverständnis auf Polen. In Geschäftsberichten schrieben die Kaufleute etwa, dass die „Primitivität Polens sehr stark an Afrika“ erinnere. Oder dass man besondere Menschenführungskunst brauche, um die Polen so zu erziehen, dass sie fleißig und gehorsam arbeiten.
Wie erging es den beteiligten Kaufleuten nach Kriegsende?
Die Rote Armee hat 1944 das „Generalgouvernement“ erreicht, stückweise Polen erobert und die Deutschen vertrieben. Auch die Kaufleute mussten fliehen, schafften es aber teilweise, ihre Waren nach Deutschland zu bringen. Zudem konnten sie alle Verluste bei den Behörden als „Kriegsschäden“ anmelden und bekamen Entschädigungen ausgezahlt. Einige haben auch „Lastenausgleich“ beantragt: ein in den 1950er Jahren aufgelegtes Sozialprogramm für Vertriebene. Ich kann nachweisen, dass eine Handvoll dieser Kreisgroßhandelsfirmen als „Vertriebene“ fünfstellige Lastenausgleichszahlungen erhalten haben.
Wurden Unternehmen später gerichtlich belangt?
Fast keine. Eine Ausnahme ist der Fall des Bremer Kaufmanns Walter Többens, der einerseits eine Kreisgroßhandelsfirma hatte, andererseits im Getto Warschau Tausende jüdische ZwangsarbeiterInnen Kleidung produzieren ließ. Man hat bis in die 1950er Jahre hinein versucht, ihn zu belangen im Entnazifizierungsverfahren. Er wurde in Abwesenheit als Hauptschuldiger verurteilt und sollte nach Polen ausgeliefert werden. Er ist aber aus der Haft geflohen und hat sich der Strafe entzogen – durch ein Berufungsverfahren und dadurch, dass die Entnazifizierung Anfang der 1950er Jahre auslief.
Welche Rolle spielt das „Engagement“ dieser Unternehmen in der hiesigen Erinnerungskultur?
Fast keine. Dabei ist diese starke Beteiligung an der NS-Besatzungsherrschaft in Gebieten, die Tausende Kilometer entfernt und keine „nahe liegenden“ Betätigungsorte waren, erinnerungskulturell sehr relevant. Es ist wichtig zu zeigen, dass auch eine Wirtschaftselite wie in Hamburg, die sich traditionell als besonders ehrbar versteht, an Judenverfolgung und Ausbeutung der polnischen und sowjetischen Landbevölkerung beteiligt war.
Haben die Firmen selbst das aufgearbeitet?
Nicht so, wie es wünschenswert wäre. Viele dieser Firmen – oft sind es Familienbetriebe – lassen ab und zu Jubiläumsschriften verfassen, meist nicht von professionellen Historikern. Diese Bücher haben eher eine traditionsbildende, werbende Funktion und streifen die Tätigkeit im „Generalgouvernement“ nur am Rande, ohne den Verbrechenskontext zu benennen.
Wie gut lässt sich das Thema wissenschaftlich erforschen? Sind die Archive zugänglich?
Die Quellenlage ist schwierig. Es gibt kein zentrales Archiv über diese Firmen, sondern man muss viele deutsche und polnische Archive besuchen, um relevantes Material zu finden. Wobei die Archivlandschaft in Polen breit aufgestellt, gut zugänglich, oft auch digitalisiert ist. In Deutschland ist das weniger einheitlich. Das Archiv der Bremer Handelskammer etwa ist gut organisiert und leicht zugänglich. Dasjenige der Hamburger Handelskammer dagegen ist zum allergrößten Teil nicht erschlossen. Die meisten Akten sind weder sortiert noch zugänglich. In den letzten Jahren hat sich die Handelskammer nach öffentlicher Kritik bemüht, etwas zu verbessern, aber es ist noch längst nicht optimal.
Konnten Sie auch in Archiven der beteiligten Firmen arbeiten?
Nein. Ich habe den Firmen, die heute noch existieren, Anfragen geschickt und fast durchweg negative Antworten bekommen. Teils waren es sehr unhöfliche, abweisende Antworten. Da wurde mir unmissverständlich klar gemacht, dass man davon nichts wissen will.
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