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Historiker über Kriegsgefangenenlager„Es gab nur eine Latrine“

Die Ziegelei Bernhardt im niedersächsischen Duderstadt war Anfang 1945 ein Kriegsgefangenenlager. Günther Siedbürger hat ihre Geschichte erforscht.

Heute ist es nur noch eine Ruine: das ehemalige Kriegsgefangenenlager in Duderstadt Foto: Frauke Klinge/Geschichtswerkstatt Duderstadt

taz: Herr Siedbürger, bisher war die Ziegelei Bernhardt als Opfer- und Täterort der NS-Zeit nicht wirklich auf der Landkarte der Erinnerungskultur. Sie haben das geändert. Seit wann arbeiten Sie an dem Thema?

Günther Siedbürger: Seit über 20 Jahren. Im Auftrag des Landkreises Göttingen habe ich damals die Geschichte der zivilen Zwangsarbeit der Region recherchiert. Dabei bin ich auf britische Militärverwaltungsunterlagen über das Lager gestoßen, in einem Archiv in London. Aus ihnen ging hervor, dass Überlebende sich dafür eingesetzt hatten, dass Strafverfolgung einsetzt. Das ist dann aber nicht geschehen, weil die Betroffenen keine Täternamen nennen konnten. Leider konnte ich das damals nicht gleich weiterverfolgen. Zehn Jahre später habe ich die Recherche in Archiven in den USA wieder aufgenommen, durch Protokolle von Befragungen repatriierter Soldaten.

Die Ziegelei wurde Anfang 1945 von der Wehrmacht als Durchgangslager für Kriegsgefangene genutzt. Was ist hier genau passiert?

Das Lager wurde offenbar ziemlich improvisiert eingerichtet. Die Lager im Osten wurden ja geräumt, weil die Rote Armee nach Westen vorrückte. Eins der Zwischenziele war die stillgelegte Ziegelei am Ortsrand von Duderstadt. Die Gefangenen waren in einem mehrstöckigen Gebäude untergebracht, in dem vorher Ziegel getrocknet worden waren. Sie wurden da einfach reingepresst, eng an eng, das Gebäude war total überbelegt.

Es heißt: Dort waren bis zu 20.000 Gefangene, obwohl es nur 2.000 Plätze gab.

Das stimmt ungefähr, aber nicht alle waren zur selben Zeit da. Das sind Zahlen, die lassen sich schlecht verifizieren, denn es gibt keine Namenslisten, wer wann hier war. Ein Teil der Gefangenen lag in den einstigen Trocknungsregalen, ein Teil auf dem Fußboden, weil der Platz nicht reichte. Noch schlimmer waren die hygienischen Umstände, denn es gab nur eine Latrine, draußen vor dem Gebäude. Nach Anbruch der Dunkelheit war Ausgangssperre. Aber vielen der Gefangenen ging es schlecht, sie hatten Durchfall. Weil sie nicht raus durften zur Toilette, sind sie aus dem Fenster gestiegen. Dabei wurden einige von den Wachen erschossen. Auch bei der Essenausgabe wurde es oft brutal. Die Gefangenen waren sehr ausgehungert, also gab es Gedränge. Die Wachen standen da mit aufgepflanztem Bajonett. Wenn ihnen irgendwas nicht passte, haben sie damit zugestochen. Es gab Verletzte und Tote.

Bild: privat
Im Interview: Günther Siedbürger

60, ist Volkskundler und Lokalhistoriker. Er arbeitet bei der Geschichtswerkstatt Göttingen.

In welchem Zustand ist das Gebäude heute?

Es ist ziemlich verfallen und darf nicht betreten werden. Es befindet sich in Privatbesitz.

Sie führen Spaziergänge zum Thema „Durchgangslager Duderstadt“ durch. Was sieht man da?

Man kann draußen dran entlanggehen. Nicht ganz drumherum, aber teilweise.

Auf dem Gelände soll ein Teil eines neuen Stadtquartiers entstehen. Wie wollen Sie die Erinnerung an das Grauen von einst hier wachhalten?

Es wäre gut, einen Teil des Gebäudes als Mahnmal zu erhalten. Früher gab es ja mal den ziemlich fragwürdigen Plan, eine Eventhalle draus zu machen, aber das ist glücklicherweise vom Tisch. Auf jeden Fall sollte da eine Gedenktafel hin, mit einen QR-Code drauf, der auf Internetinhalte verweist. Es muss hier vor Ort kenntlich werden, was damals geschehen ist.

In Duderstadt wurde die Geschichte des Lagers bislang eher verdrängt, oder?

In der Tat hat es sehr lange gedauert, bis sie öffentlich thematisiert wurde. Das tauchte nirgendwo offiziell auf, in Chroniken zum Beispiel. Aber die Leute wussten natürlich davon. Als wir vor rund zehn Jahren in Duderstadt die Wanderausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Niedersachsen 1939 bis 1945“ gezeigt haben, haben Besucher erzählt, sie hätten als Kinder gesehen, wie hier Leichen mit Handkarren zum Friedhof gebracht worden sind. Neulich hatten wir eine kleine Veranstaltung vor Ort, und der Bürgermeister war angeschrieben und eingeladen. Es kam keine Reaktion von ihm, er ist nicht gekommen. Aber vielleicht war er ja auch verreist.

Stoßen die neuen Erkenntnisprozesse zum Lager vor Ort auf Widerstand?

Jedenfalls nicht offen. Aber sagen wir so: Auf fruchtbaren Boden fallen sie auch nicht gerade. Aber so was ist ja immer ein zäher Kampf.

Selbst das von der Stadt Duderstadt herausgegebene Buch „Duderstadt 1929–1949“ von Hans-Heinrich Ebeling und Hans-Reinhard Fricke weist nicht auf das Lager hin.

Genau.

Wie ist das möglich? Das kann man doch nicht übersehen?

Vielleicht hat es damit zu tun, dass im Stadtarchiv dazu wenig zu finden ist, weil es nicht um zivile Zwangsarbeiter geht, sondern um Kriegsgefangene, um Soldaten. Dazu muss man in Militärarchive gehen. Aber auch vor Ort gibt es Angaben. Die Alliierten haben damals die örtlichen Behörden in Fragebögen um Stellungnahme gebeten, ob es Kriegsgefangenenlager oder Kriegsverbrechen gab. Da kam natürlich auch die Ziegelei zur Sprache.

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