Historiker über Kirche in der NS-Zeit: „Da lief vieles zusammen“
Thomas Großbölting, Chef von Hamburgs Forschungsstelle für Zeitgeschichte, erforscht die NS-Zeit, die Rolle der Kirchen und Repression in der DDR.
taz: Herr Großbölting, Sie haben sich viel mit dem Glauben der Deutschen in der NS-Zeit befasst. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Thomas Großbölting. Weil ich finde, dass man die verbreitete Vorstellung „Kreuz versus Hakenkreuz“ neu betrachten muss. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Kreuz und Hakenkreuz so starke Antipoden waren. 95 Prozent der Deutschen gehörten zwischen 1933 und 1945 einer der beiden großen christlichen Kirchen an. Parallel etablierte sich eine NS-Diktatur, die wesentlich von der Bevölkerung getragen wurde. Es gab nicht die christliche Praxis einerseits und nationalsozialistische, auch antisemitische Triebkräfte andererseits, sondern da lief vieles zusammen.
Wie hat es der Nationalsozialismus geschafft, das Christentum zu vereinnahmen – abgesehen von der Bekennenden Kirche?
Die Vorstellung von der Vereinnahmung der einen Weltanschauung durch die andere stellt die Zusammenhänge historisch falsch dar: Diejenigen, die die nationalsozialistische Bewegung Ende der 1920er-, Anfang der 1930er-Jahre starkmachten, waren in der Regel Christen.
Es gab keine Konfrontation mit den Kirchen?
Doch, vor allem auf institutioneller Ebene. Man kämpfte darum, wie man mit christlichen Jugendverbänden umgehen sollte, und mit dem Anspruch der „Hitlerjugend“, alle deutschen Jugendlichen zu integrieren. Aber bei den Moral- und Wertvorstellungen gab es viele Überschneidungen zwischen Nationalsozialismus und Christentum – unter anderem beim Antisemitismus.
Sie haben auch darüber geforscht, wie Christsein heute möglich ist. Aber hat Kirche nicht ausgedient?
Genau das interessiert mich: Was passiert in einer Gesellschaft, in der die beiden Großkonfessionen immer weniger Einfluss haben? Auf der einen Seite unterstützt der Staat die Institution Kirche noch sehr stark – durch das Erheben der Kirchensteuer und die politische Beteiligung kirchlicher Vertreter an Gremien wie der Ethik-Kommission. Auf der anderen Seite stehen Säkularisierung und Bedeutungsverlust des Glaubens für die private Lebensführung. Allein 2019 hat es 1,5 Millionen Kirchenaustritte in beiden Konfessionen gegeben.
Wohl auch wegen der Missbrauchsfälle, die Sie für das Bistum Münster mit aufarbeiten. Wie beurteilen Sie den Aufklärungswillen der Kirche?
Da muss man zwei Ebenen unterscheiden. Das im Oktober 2019 begonnene münstersche Aufarbeitungsprojekt wurde von der dortigen Bistumsleitung an mich herangetragen und ist von einem hohen Aufklärungswillen und viel Unterstützung geprägt. Wenn man aber den bundesdeutschen Katholizismus insgesamt anguckt, muss man sagen, dass die Hinwendung zu den Betroffenen und die Aufarbeitung viel zu spät und viel zu zaghaft waren. Die Vorfälle im amerikanischen Katholizismus waren seit Ende 1990 bzw. Anfang 2000 bekannt und die hiesige Bischofskonferenz tat so, als ob der deutsche Katholizismus damit nichts zu tun habe – was völlig weltfremd war. 2010 wurden die Fälle am Berliner Canisius-Kolleg aufgedeckt.
51, hat Geschichte, katholische Theologie und Germanistik studiert und ist seit 1. August dieses Jahres Leiter der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Er war seit 2009 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster.
Das war vor zehn Jahren.
Wenn man unsere 2019 begonnene münstersche Arbeit in diesen Zeithorizont stellt, dann ist das viel zu langsam, zu wenig und zu unentschlossen. Auch bei den Protestanten gibt es Vorbehalte gegen die Aufarbeitung. Ein kleiner Hoffnungsschimmer: Am 1. 10. 2020 starte ich als Teil einer überregionalen Forschungsgruppe ein weiteres Aufarbeitungsprojekt – diesmal im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Und welche Aufarbeitungserfahrungen haben Ihre drei Jahre in der Stasi-Unterlagenbehörde erbracht?
Da fand ich vor allem den Vergleich der SED- mit der NS-Diktatur interessant. Wenn man die Repressionsapparate dieser beiden politischen Systeme anschaut, war die Stasi ungleich aufwendiger. 90.000 hauptamtliche Mitarbeiter mit vielen Hunderttausend Inoffiziellen – das ist das im einstigen „Ostblock“ dichteste Überwachungsnetz. Dabei wurden Geheimdienst und Repressionsapparat ja gegen die Bevölkerung aufgebaut. Denn die SED-Führung wusste, dass sie es in den Anfangsjahren der DDR mit Menschen zu tun hatte, die vorher dem Nationalsozialismus zugejubelt hatten und diese Loyalität nicht einfach auf ein anderes Regime übertragen würden. Also überwachte man die Leute.
Wie zuvor das NS-Regime.
Ja, aber im Nationalsozialismus funktionierten Geheimdienst und Repression ganz anders. In Zeitungsanzeigen aus den 1940er-Jahren liest man sinngemäß: „Liebe Volksgenossen, wir freuen uns über jede Anzeige. Aber bitte prüft genau, ob sie triftig ist. Wir kommen mit der Bearbeitung nicht hinterher.“ Das heißt: Die Gestapo brauchte nicht so viel Personal wie die Stasi, weil die Bereitschaft der Bevölkerung, „Staatsfeinde“ oder Nichtmitglieder der „Volksgemeinschaft“ wie Juden, Sinti und Roma anzuzeigen, extrem groß war.
Aber auch in der DDR gab es Denunziation.
Natürlich: Den Versuch, so den unliebsamen Nachbarn oder die nicht mehr gewünschte Ehefrau loszuwerden, gab es in beiden Diktaturen. Aber während viele Deutsche den Nationalsozialismus als das eigene politische System ansahen, galt die SED-Diktatur als von der Sowjetunion übergestülptes System, dessen Überwachungsapparat gegen die Bevölkerung installiert wurde.
Aber die vielen Stasi-Mitarbeiter kamen aus der Bevölkerung.
Das stimmt. Ich bezog mich eben auf die Frühzeit der Stasi in den 1950er- und 1960er-Jahren. In den 1970ern und 1980ern gab es in der DDR schon die erste Generation, die dort aufgewachsen war. Fünf bis sieben Prozent der DDR-Bürger arbeiteten in Verwaltung, Ministerien, Armee, Parteiorganisationen, Geheimdiensten. Ihre Loyalität gegenüber dem Staatsapparat war tendenziell größer.
Wie groß ist das Interesse an Stasi-Akten-Einsicht heute?
Es ist ungebrochen. Für viele Menschen bleibt es ein wichtiger Schritt, wieder Souverän zu werden über die eigene Akte und die persönliche DDR-Geschichte. Aber da liegt auch das Problem: Es bleibt für die Einsichtnehmenden eine individuelle Geschichte. Man liest die Akte und kann dann überlegen, ob man mit dem Nachbarn, der einen denunzierte, noch redet, ob man ihn anzeigt oder das lieber schnell vergisst. Die Menschen werden mit ihren Erkenntnissen alleingelassen.
Welche Erkenntnisse soll die Forschungsstelle für Zeitgeschichte unter Ihrer Ägide generieren?
Wir wollen die jüngste Zeitgeschichte noch stärker fokussieren und Zeitgeschichte auch als Problemgeschichte der Gegenwart begreifen. Dazu müssen wir die Entstehungsgeschichte aktueller politischer Probleme kennen, um Alternativen aufzeigen zu können.
Das heißt konkret?
Wir möchten zum Beispiel die Geschichte Hamburgs seit 1970 mit der anderer inner- und außereuropäischer Metropolregionen vergleichen und fragen: Wir funktionieren in solchen Städten Politik und Partizipation? Wie geht man mit Migration und Diversität um – und damit, dass sich Gesellschaft nicht mehr vorrangig als in Klassen, Schichten und Milieus unterteilt beschreiben lässt? Und welche Strukturen können angesichts der etwa vom Soziologen Andreas Reckwitz beschrieben „Gesellschaft der Singularitäten“ künftig gesellschaftlichen Kitt bilden?
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