Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine: Grenzen und ihre Überschreitung

Eine Journalistin begleitet einen Hilfstransport und wird Teil davon. Wie weit darf, wie weit muss sie ihre Rolle verlassen? Ein Erfahrungsbericht.

Ein älterer Mann, eine Frau und ein kleiner Junge auf Liegestühlen in einer Turnhalle

Geflohene aus der Ukraine in Polen Foto: Jakub Orzechowski/Agencja Wyborcza/reuters

BERLIN/LUBYCZA KRÓLEWSKA/HREBENNE/KRAKAU taz | Eine CNN-Reporterin mit Helm und kugelsicherer Weste steht zwischen fliehenden Menschen in Kiew. Während ihres Liveberichts nimmt sie die Hand eines alten Mannes, hilft ihm ein paar Schritte über den unebenen Boden hinweg, trägt kurz die Tasche einer Frau, bis der Weg wieder besser begehbar wird. Das Video dieser Szene wurde auf Twitter vielfach geteilt.

Ich bin keine Kriegsreporterin. Aber ich habe Hel­fe­r:in­nen an die polnisch-ukrainische Grenze begleitet, um eine Reportage über eine humanitäre Notsituation zu schreiben. Und habe wieder einmal gemerkt, dass man nicht immer in der eigenen Rolle bleiben kann – und manchmal auch nicht sollte.

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Es ging ganz kurzfristig los. Am Mittwochnachmittag eine Woche nach Kriegsbeginn las ich, dass eine Gruppe von Privatpersonen um einen Lokalpolitiker mit Spenden zur Grenze fahren wollte. Auf dem Rückweg wollten sie Flüchtende mit nach Berlin nehmen. Abends hatte ich die Antwort, dass ich mitfahren könne. Ein paar Stunden später starteten wir.

Ich dachte, ich könne im Auto schlafen. Stattdessen unterhielt ich mich die meiste Zeit mit Stephan, der das Auto fuhr – schließlich wollte ich wissen, was ihn antreibt, wer er ist, was seine Geschichte ist. Und wir drifteten bald hierhin, bald dahin ab. Es ging um Fasching in der Kita, Bezirkspolitik, die Algorithmen von Messenger-Apps. Das wenigste wäre relevant für meine Reportage, aber einiges interessant, um die Person besser porträtieren zu können, mit der ich unterwegs war. Doch ich schrieb kaum etwas mit, im Auto war es sowieso zu dunkel.

Anpacken beim Auspacken

Unser erstes Ziel war ein Erstaufnahmezentrum für ukrainische Flüchtlinge in Lubycza Królewska. Auf der Rückseite der Turnhalle gaben die Ber­li­ne­r:in­nen die meisten Spenden ab. Drei volle Autos mussten ausgeladen werden, die ehrenamtlichen Hel­fe­r:in­nen vor Ort packten mit an. Ich stand mit meinem Handy dazwischen und machte Fotos. Meinen Presseausweis hatte ich in einer Hülle um den Hals gehängt.

Die Hel­fe­r:in­nen an der Spendenannahme hatten gut zu tun: Ständig kamen neue Autos an, die ausgeladen werden mussten, es galt zu entscheiden, was wo hingebracht werden muss. War mal jemand nicht beschäftigt, fragte ich, ob ich ein paar Fragen stellen könne. Die meisten wehrten ab. Manche wegen beidseitiger Sprachbarrieren, die meisten, weil sie Besseres zu tun hatten. Ich kam mir unnütz vor zwischen all den helfenden Händen und packte dann doch mit an.

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Vor dem Gebäude saß ein Mann alleine auf einem Mäuerchen. Er stützte seinen Kopf in die Hände, die Augen fielen ihm fast zu. Ich zögerte, sprach ihn dann aber doch an. Nur wie? Ein „Wie geht's“ verbietet sich. Ich stelle mich kurz vor, frage nach dem Namen. Tawil. Kommen Sie gerade aus der Ukraine? Ja. Wo wollen Sie jetzt hin? Abwehrender Ton. „Ich habe seit zwei Tagen nicht geschlafen, wohin es geht, überlege ich später.“ Tawil schaute wieder zum Boden. Ich beugte mich nochmal zu ihm und fragte, ob er gut behandelt worden sei. Ja, alles in Ordnung.

In der Turnhalle waren 400 Feldbetten aufgestellt, vor allem Mütter und Kinder waren hier, Männer mit ukrainischer Staatsangehörigkeit dürfen nicht aus ihrem Land ausreisen. Vor den wenigen Toiletten lange Schlangen. Auf einer Liege lag eine Frau, hochschwanger, schmerzverzerrtes, vielleicht auch völlig verzweifeltes Gesicht. Immerhin schien ihr Mann bei ihr zu sitzen.

Mir schossen die Tränen in die Augen, ich wollte mir schnell einen Weg nach draußen bahnen. Eine Helferin sprach mich auf Polnisch an, als ob sie mir Hilfe anbieten wolle, ich schüttelte den Kopf und versuchte die Tränen zu unterdrücken. Ich war nicht diejenige, die Hilfe brauchte.

Fragen zum falschen Zeitpunkt

Anschließend fuhren wir an die Grenze bei Hrebenne. Dort war alles voller Autos, ab und zu kam ein Reisebus an. Menschen warteten an der Straße auf Angehörige. Dazwischen viele Journalist:innen. Ich sprach eine junge Frau an, von der ich annahm, dass sie Englisch versteht, und die nicht ganz so erschöpft aussah. Tatsächlich kam sie aus der Westukraine, nicht weit von der Grenze, und wartete auf ihre Schwester, die in einem anderen Bus saß als sie selbst. Ich hörte ein Paar Deutsch sprechen und fragte, ob sie auf Verwandte warten. „Ja“, sagte der Mann und bat mich dann freundlich zu gehen, es sei nicht der richtige Zeitpunkt. Später sah ich sie wieder, die Frau weinte.

Ich beobachtete eine Frau mit Baby, die von einem Kamerateam interviewt wurde und wartete darauf, dass ich mit ihr sprechen könnte – wer einmal bereit ist, mit Jour­na­lis­t:in­nen zu sprechen, macht es vielleicht ein zweites Mal. Gleichzeitig überlegte ich, ob ich wirklich hier sein musste, wo sich die Jour­na­lis­t:in­nen um die gleichen In­ter­view­part­ne­r:in­nen scharren, die gleichen Fragen stellen und die gleichen Geschichten erzählen. Ich fotografierte das Schild der Zeugen Jehowas, die sich hier aufgebaut hatten, und als ich wieder zum Kamerateam schaute, war die Frau mit Baby weg.

Weil es immer später wurde, entschieden wir uns, im Hotel zu übernachten. Alles war ausgebucht, wir fuhren bis nach Krakau. Dort fragte man uns, ob wir tatsächlich hier bleiben wollen, mit den ukrainischen Geflüchteten? Es stellte sich heraus, dass der polnische Staat die meisten Hotelkontingente für Menschen aus der Ukraine gesichert hat. Nehmen wir ihnen Zimmer weg? Doch es war fast 2 Uhr nachts, wir waren seit 24 Stunden unterwegs, ich hatte seit über 40 Stunden kaum geschlafen. Noch weiter fahren kam nicht infrage.

Am nächsten Morgen frühstückten wir zwischen müden und erschöpften Gesichtern. Auch am Nachbartisch saß eine kleine Gruppe Journalist:innen. Das Frühstück ist Privatsache, entschied ich, und sprach niemanden an.

Menschen zum Mitfahren gesucht

Das Navigationsgerät schickte uns durch die verwinkelten Einbahnstraßen der Krakauer Altstadt. Weil am Hauptbahnhof kein Parkplatz zu sehen war, sollte ich aussteigen und Leute finden, die mit uns nach Berlin fahren wollen. Es wäre Unsinn gewesen, darauf zu bestehen, dass Stephan weiter herumkurvt, bis er einen Platz für sein Auto findet und dann selbst durch den Hauptbahnhof läuft. Also sprach ich Freiwillige an, eine von ihnen fragte die vielen Wartenden auf Ukrainisch, ob jemand nach Berlin fahren möchte. Doch dann war sie plötzlich verschwunden. Ich nahm mir einen Zettel, schrieb „Berlin“ darauf und lief damit zwischen den Wartenden umher. Die Ehrenamtliche tauchte wieder auf. Mit zwei Frauen, die mitfahren möchten.

Es waren Julia, um die 30, und Lyuba, die ihre Mutter sein könnte, doch die beiden kannten sich nicht. Ich deutete auf ihre Tasche und machte Zeichen, dass ich sie für sie tragen möchte. Lyuba winkte ab.

Endlich saßen wir im Auto. Wir unterhielten uns ein wenig mit Hilfe von Google Translate. Stephan rief eine Bekannte an, die selbst aus der Ukraine kam. Sie hatte Schlafplätze für beide organisiert und erklärte es den beiden in ihrer Muttersprache. Julia holte Fotos von ihren Kindern hervor, Lyuba zeigte ein Bild von ihrem Sohn. Wir hielten bald, ich kaufte Cola für Julia und ein Sandwich für Lyuba.

Eine innige Umarmung zum Abschied

Den Rest der Fahrt schlief Lyuba fast durchgängig. Julia schrieb Nachrichten auf ihrem Handy, telefonierte. Wir tauschten Nummern aus. Abends gaben wir sie in Berlin-Biesdorf ab, sie kamen privat unter. Julia umarmte mich heftig, hielt mich fest, bedankte sich tausendfach. Lyuba gab mir ein Küsschen auf die Wange, ich hielt ihre Hand. Alles Gute.

Am nächsten Tag schrieb ich Julia eine kurze Nachfrage. Sie antwortete, dass ihre Gastgeberin sie am Morgen schon zur Erstaufnahmestelle in Berlin gebracht habe. Von dort sei sie nach Magdeburg gefahren worden. Sie schickte mir ein Foto: Metallbetten, nur auf ihrem eine Matratze. Das Flüchtlingslager ist ein Containerdorf. „Um ehrlich zu sein, habe ich Angst. Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin und wie es weitergeht.“ Ich schwankte. Die Fahrt war vorbei – bin ich jetzt Journalistin oder Privatperson?

Andere Menschen als mich kannte Julia in Deutschland nicht. Ich fühlte mich verantwortlich. Also schrieb ich Freunde an, ob sie Menschen in Magdeburg kennen, die nach ihr schauen können. Ich bekam einen Kontakt, der meine Anfrage weiterreichte. Ein Mann rief mich an, er rief sie an, besuchte sie zusammen mit einer Kollegin und einem Übersetzer in der Unterkunft.

Nur noch weg von hier

Die nächste Nachricht, die ich bekam: Sie sind im Krankenhaus. Julia hatte eine Knochenentzündung, die sofort behandelt werden musste. Später konnte sie zurück in die Unterkunft. Doch es gab weitere Probleme. Sie schrieb mir nachts, ich las es erst am Morgen. Sie habe frierend mit Fieber in der Kälte warten müssen, bis die Security sie überhaupt wieder in die Unterkunft ließ. „Ich will nur noch hier weg. Ich will wieder zurück in die Ukraine. Bitte hilf mir“, schrieb sie. Sie ging nicht ans Telefon. Ich musste arbeiten, konnte nicht noch einen Tag am Telefon hängen. Ich fragte sie Verschiedenes und bekam immer die gleiche Antwort: „Ich will weg hier, ich packe meine Tasche, ich gehe.“

Der Helfer vom Vortag ging nicht ans Telefon. Ich googelte nach einem deutsch-ukrainischen Verein in Magdeburg, der mir genannt worden war, rief an und bat, Julia anzurufen. Ich weiß nicht, ob sie ans Telefon ging. Der Helfer meldete sich. Er versprach, sich um sie zu kümmern. Ich war froh, dass ich die Verantwortung abgeben konnte. Ein paar Stunden später rief er mich an: Julia sei jetzt auf dem Weg nach Ungarn. Er bleibe mit ihr in Kontakt und habe ihr auch versprochen, Geld zu senden. Ob ich das auch machen werde?

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