Hass in Deutschland: Wir haben ja nur den Stock besorgt
Sie fühlen sich als Opfer, die niemand repräsentiert. Das Gegenteil ist der Fall: Die gesellschaftliche Mitte hat Gewalt und Hass entdeckt.
Sie wollte einen Stock beschaffen, zur Züchtigung, denn sie hatte keinen. Sie fragte ihre Schüler, wer denn gehen wolle, um den Hiebstock zu besorgen. Arno Gruen hat sich damals nicht gemeldet – als Einziger. „Alle wollten unbedingt den Stock kaufen, mit dem sie geschlagen werden sollten“, schrieb er später. Das Ausgeliefertsein führt zu den seltsamsten Dingen.
Es gab wohl Gründe für diese Willigkeit: Würde nicht, wer den Stock besorgte, noch am ehesten geschont werden? Und ist es nicht besser, an der Seite der Täter zu stehen, als sich zum Opfer machen zu lassen? Die Konkurrenz von 30 Kindern, die alle vielleicht bald zum Opfer werden könnten, brachte kleine, scheue Mittäter hervor. Eins, das ist das Perfide an der Taktik der Lehrerin, könnten diese Kinder immer sagen: Sie haben ja nicht den Stock geführt, sie haben ihn nur besorgt.
Am Dienstag dieser Woche starb der Psychoanalytiker, dem es in seinem Leben so sehr um Hass und Empathie und um die Angst vor dem Fremden ging, im Alter von 92 Jahren.
Richard Berk ist Soziologe und Statistiker. Er sagt, seine Algorithmen könnten bei der Geburt herausfinden, ob ein Kind einmal ein Verbrecher werde. Wie berechenbar sind Menschen? Die Titelgeschichte „Wird dieses Kind ein Mörder?“ lesen Sie in der taz. am wochenende vom 24./25. Oktober. Außerdem: Heini Rudeck fällt das Gehen schwer. Trotzdem besucht er das Grab seiner Freundin täglich. Er setzt sich einfach an den Computer. Und: Klaus von Dohnanyi veröffentlicht die Briefe seines Vaters aus der Gestapo-Haft. Ein Gespräch. Das alles gibt es am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Dies ist kein Nachruf, sondern eine Erkundung. Sie beginnt mit der Ohnmacht und jenem Rohrstock, den 29 Kinder kaufen wollten, sie überspringt den deutschen Nationalsozialismus, und zunächst überspringt sie auch einen sächsischen Ort mit 33.800 Einwohnern und einem Sorbenbrunnen vor dem Rathaus: Hoyerswerda.
Bekennender Rechtsextremer
Die Erkundung führt direkt in die Gegenwart, auf einen Marktplatz in Köln-Braunsfeld, auf dem sich am Samstag, den 17. Oktober 2015, ein 44-jähriger Mann einer Frau in grauer Steppjacke mit braun abgesetzten Nähten nähert. Henriette Reker, die einen Tag später zur neuen Oberbürgermeisterin von Köln gewählt werden wird, trägt neun orangefarbene Rosen in der Hand. Dann sticht Frank S. ihr mit einem 46 Zentimeter langen Jagdmesser in den Hals. Reker fällt auf den Boden, die Rosen auch. Frank S. ist ein bekennender Rechtsextremer.
Zwei Tage später, am Montag, den 19. Oktober 2015, steht ein Mann namens Akif Pirinçcivor Tausenden Menschen auf einer Bühne am Theaterplatz in Dresden. Der Himmel ist nachtschwarz. Dann sagt der Mann, unter anderem, diesen Satz: „Es gäbe natürlich andere Alternativen, aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb.“ Es soll wohl eine ironische Anspielung sein.
Tröglitz.
Heidenau.
Hogesa.
Über 60 Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte allein in diesem Jahr. Demonstranten, die Galgen mit sich führen. Der Hass ist da.
Gemeinhin heißt es, Hass entstehe aus Ohnmacht. Wo kulturelle und gesellschaftliche, politische und materielle Teilhabe verwehrt blieben, erwachse jenes Gefühl. Dies soll erklären, weshalb gerade im wirtschaftlich abgehängten Osten und gerade im sogenannten Prekariat erst die Angst, dann der Hass besonders ausgeprägt sind. Die Erklärung ist wahr, aber unzureichend.
Der Hassbürger
Der Kasseler Soziologe Heinz Bude kann erklären, wie es sich verhält mit der Lehrerin und dem Stock. Denn viele wollen ja heute diejenigen sein, die den Stock nur geholt haben. Schlagen? Nein, das würden sie nicht. Flüchtlingsheime anzünden? Auch nicht. Bude nennt sie die „Hassbürger“. Er habe, sagt Bude, natürlich auch das Proletariat im Blick: die, die heute die Pakete bringen.
Doch der Hassbürger entstamme einem anderen Gesellschaftskreis: einem „Verbitterungsmilieu“ in der Mitte der Gesellschaft. „Das sind in der Regel Leute, die relativ hochgebildet sind; die sogar für sich in Anspruch nehmen, dass sie ein offenes Weltbild haben, aber von dem tiefen Gefühl geplagt sind, dass sie in ihrem Leben unter ihren Möglichkeiten geblieben sind aufgrund von Bedingungen, die sie selbst nicht haben kontrollieren können.“ Erhöht womöglich, wie damals in der Schulklasse von Arno Gruen, wer reglos bleibt, die Chance, selbst zum Opfer zu werden?
Wenn Frank S., der Mann, der die Kölnerin Reker niedergestochen hat, die Lehrerin ist in Gruens Schulszene, dann sind die Menschen auf den Straßen Dresdens ihre Schüler. Sie sind in einer Art Zwischenrolle, weder Opfer noch Täter. Sie machen doch nichts, sie sagen doch nur. Sie benennen. So sehen sie das. Die Frage ist: Wann lässt ihre Angst, ihr Hass es zu, dass sie Grenzen vergessen?
Intellektuelle Lüge des Wohlstandsmilieus
Es ist eine intellektuelle Lüge des Wohlstandsmilieus, vermitteln zu können, von Zuwanderung sei nur oder vor allem Gutes zu erwarten. Woher sollen die sozial Gedemütigten und die verunsicherte Mittelschicht die Erfahrung beziehen, dass signifikante Zuwanderung ihnen Gutes bringt?
Kann angesichts der Bilder kommender und wartender, orientierungsloser und natürlich auch fordernder Mengen von Flüchtenden ein kollektives Ohnmachtsgefühl entstehen, das ja gewohnheitsmäßig lange keinen Platz mehr in der Alltagswahrnehmung dieses ordentlichen Deutschlands hatte? Natürlich. Um ehrlich zu sein: Die Geschichte des deutschen Sozialstaatsmodells hat nicht gerade bewiesen, dass große Integrationsaufgaben von den Vermögenden dieses Landes bewältigt werden.
„Ab nach Auschwitz und Buchenwald, da ist genügend Platz, die Öfen müssen nur angeheizt werden.“ Ein 44-jähriger Lkw-Fahrer aus einem Ort bei Hoyerswerda, wo im September 1991 tagelang Hunderte Menschen ein Flüchtlingsheim angriffen, hat diesen Satz erst vor kurzer Zeit auf Facebook notiert. Die Bild-Zeitung hat seinen Satz dann herausgegriffen, neben Dutzenden weiteren, und veröffentlicht. Als die Zeitung den Mann danach befragte, sagte er: „Man muss auch mal überspitzen, um gehört zu werden von der Obrigkeit. Ich entschuldige mich, dass ich so extreme Worte gewählt habe.“
Hass und Gewalt im Allgemeinen und Fremdenfeindlichkeit im Besonderen entstehen, so heißt es gemeinhin, gerade dort, wo sich Menschen nicht mehr repräsentiert fühlen. In Sachsen versucht die CDU seit Anfang der Neunzigerjahre, genau diese dunkle Seite einer sich kollektiv ohnmächtig fühlenden Bevölkerung zu repräsentieren, in der Regierung und ihren Institutionen, bis hinein in die Staatsanwaltschaften.
Die Repräsentierten
Auch jenseits von Sachsen gibt es kaum eine politische Sphäre, in der der hassgetriebene Nationalismus nicht offenbar ist. Auf der Ebene des Terrors: Brandanschläge, Mordversuche, Mord. Auf der Straße: Pegida und all ihre Ableger. In der Opposition: die AfD. An der Regierung: Männer wie Horst Seehofer, der Zonen und Zäune fordert und sich, als Ministerpräsident, auf „Notwehr“ beruft. Notwehr, das ist die Gewissheit, affektiv handeln zu können, ohne bestraft zu werden. Ist die Ohnmacht der Opfer also wirklich unterrepräsentiert? Nein, ganz im Gegenteil.
Dürfen wir weiter ertragen, dass die vermeintliche Repräsentationskrise derer, die in diesen Tagen den Diskurs bestimmen, ihre institutionellen Entsprechungen erhält? In Form von Transitzonen und in Form von Zäunen?
Arno Gruen hob an jenem Schultag nicht seine Hand, als all seine Mitschüler zum Rohrstock laufen wollten. Einige Jahre später, 1936, emigrierte der damals 13-jährige Junge mit seiner jüdischen Familie in die USA, auf der Flucht vor dem aufkommenden Nationalsozialismus.
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