Hamburger Initiative für G9-Abitur: Kein Bock auf Elterngespräche
Die Volksinitiative stellte im Rathaus ihre Wünsche vor. Die Regierungskoalition sagt ihr Danke für nichts – zuvor warnte die Behörde vor den Folgen.
Obwohl die drei Vertrauensleute Sammar Rath, Gunnar Matschernus und Iris Wenderholm, die am langen Sitzungstisch im Kaisersaal ganz in der Ecke neben einer Armada von Behördenleuten platziert waren, von den Abgeordneten mit Lob überschüttet wurden. Es sei toll, dass sie sich ehrenamtlich engagieren.
Die Eltern wollen ein Jahr mehr Lernzeit für die Schüler an den 63 Gymnasien. Sie hatten von Juni bis Dezember die für eine Volksinitiative nötigen 10.000 Unterschriften gesammelt. Der Wunsch entstand nach der Coronazeit, in der die Schulen zu waren und Lernlücken entstanden, die sich in der auf acht Jahre verkürzten Gymnasialzeit (G8) schwerer aufholen ließen.
Sie hätten beim Sammeln auf Märkten und Straßen viel Zuspruch erfahren, berichteten die drei und verwiesen auf eine NDR-Umfrage, nach der 75 Prozent der Hamburger für das neunjährige Abitur (G9) sind.
Andere Länder kehrten zurück zum G9
Das vor 15 Jahren erklärte Ziel der auch Turbo-Abitur genannten Reform, dass junge Menschen ein Jahr früher in den Beruf starten, sei nicht erreicht worden, sagt Matschernus. Häufig legten die jungen Abiturienten ein Pause-Jahr ein und sie wechselten häufiger ihr Studienfach. Den Schülern fehle Zeit für forschendes Lernen und die Ausbildung der für das 21. Jahrhundert nötigen „Soft Skills“, ergänzte Wenderholm. Sie verwies auch darauf, dass große Länder wie Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen (NRW), Bayern und nun auch Baden-Württemberg zum G9 zurückgekehrt sind. Zudem soll ab 2027 das Abitur aller Länder einheitlich sein. „Wie kann man davon reden, wenn sich die Bedingungen so unterschieden?“
Die Eltern rechneten vor, dass die anderen Länder nicht nur mehr Zeit, sondern auch insgesamt in den neun Jahren bis zum Abitur mehr wöchentliche Unterrichtsstunden bieten. In Schleswig-Holstein 277, in NRW 282, in Bayern gar 285. In Hamburgs G8 sind es nur 265. Hinzu komme, dass an den Gymnasien viel Unterricht ausfalle und Schüler oft mit Arbeitsblättern nach Hause geschickt würden. Das sei bei ihr Zuhause Alltag, sagte Sammar Rath. Das 2019 vom Senat gegebene Versprechen, diese Praxis zu halbieren, sei nicht erfüllt worden. Rath verwies dafür auf die Antwort des Senats auf eine Anfrage der CDU-Fraktion, derzufolge im Schuljahr 2022/23 nur 81 Prozent der Stunden an Gymnasien nach Plan erteilt wurden.
Den Eltern wurde im Anschluss in verschiedenen Varianten von den Politikern fast aller Parteien eine Frage gestellt: Warum sie ihr Kind nicht auf eine der 59 Stadtteilschulen schicken? Das ist die Schulform, die bereits das G9-Abitur anbietet. Weil es um alle Kinder am Gymnasium ginge, um die Struktur, antwortete Matschernus. „Alle jungen Menschen haben ein Recht auf mehr Zeit.“
Es war die zweite Sitzung des Schulausschusses, seit Ksenija Bekeris Senatorin ist. Anders als ihr Vorgänger Ties Rabe (SPD), der oft viel redete, fasste sie sich kurz. Hamburgs Schulsystem habe sich unter Rabe sehr gut entwickelt. „Das möchte ich nicht kleingeredet wissen.“ Die Stadt habe bundesweit die höchste Abiturquote und liege beim jüngsten Bildungsranking auf Platz vier. Der Vorschlag der G9-Initiative werde die Situation für „mehrere Jahre verschlechtern“, sagte sie und erteilte ihren Beamten das Wort.
Behörde schießt nur in eine Richtung
Es folgte eine Präsentation, die kein gutes Haar an dem Gesetzentwurf der Initiative lies. Zuerst malte eine leitende Beamtin aus, welche Probleme entstünden, wenn wie dort vorgesehen für eine Übergangszeit den Schülern die Wahl zwischen G8 und G9 bleibt. Es mache die Schaffung weiterer Klassen nötig, auch drohe ein Riss durch die Elternschaft, und eine Reform des Unterrichts sei „auf Jahre“ blockiert.
Für den Schulbau wäre ein sofortiger Stopp der aktuellen Planung nötig, fuhr ein Vertreter von Schulbau Hamburg fort. Das ginge auf Kosten aller Schulen und verzögere massiv dringliche Bauprojekte. Man bräuchte Raum für bis zu 7.500 Schüler. Da es angesichts hoher Schülerzahlen kaum Reserven gebe und für mobile Bauten der Platz fehle, drohten enge Klassen mit mehr als 30 Schülern oder eine Aufhebung des Klassenraumprinzips.
Ferner wären acht Millionen Euro für zusätzliches Personal, sowie weitere Millionen für IT-Ausstattung und Unterrichtsmittel nötig, ergänzte ein dritter Beamter. „Dieses Geld fehlt im Gegenzug an anderer Stelle.“ Und schließlich trugen weitere Behördenfachleute vor, dass Hamburgs Gymnasiasten in der 9. Klasse 2022 beim Ländervergleich in „Deutsch Zuhören“ und „Englisch Hörverstehen“ schon fast an der Spitze lagen, und dass besagte 265 Stunden reichten, um auch 2027 die von den Kultusministern verabredeten Anforderungen zu erfüllen.
Als alle fertig waren, platzte der Schulpolitikerin Sabine Boeddinghaus von der Linken der Kragen. Warum Senatorin Bekeris mit keinem Wort auf die Unzufriedenheit Bezug nehme, die die Eltern im Raum und auch Schulleiter an anderer Stelle artikulierten. Schulentwicklung sei nicht abzukoppeln von Schulstruktur. Es sei unklug, die Kritik gar nicht aufzunehmen. Und es sei ärgerlich, wenn Behördenmitarbeiter dem Parlament vorhalten, wie das Geld auszugeben sei.
Und schließlich stellte Boeddinghaus der Senatorin zwei Fragen. Wie die Stadt es denn schaffen wolle, die Schüler unterzubringen, wenn tatsächlich von den 60.000 Gymnasiumseltern 10.000 ihre Kinder zur Stadtteilschule schicken, um Anspruch auf das neunte Schuljahr zu erwerben. „Würde das dann räumlich funktionieren?“ Sie finde es unfair, hier nur in eine Richtung zu schießen. Und warum Bekeris den Eltern nicht wenigstens einen Schulversuch vorschlage, etwa ein G9-Gymnasium pro Region, das zugleich seine Schüler nicht mehr abschult? Dass nicht einmal das passiere „bestärkt Politikverdrossenheit“. Dazu Bekeris: „Schulversuche sehe ich skeptisch.“
Nun muss die Bürgerschaft entscheiden, ob der Vorschlag der Volksinitiative so oder auch abgewandelt übernommen wird. Dafür wären Verhandlungen nötig. Für die sehe er „keinen Raum“, sagte der schulpolitische Sprecher der SPD, Nils Hansen, der taz auf Nachfrage. Die Beiträge der Behörde hätten gezeigt, dass das Vorhaben der Initiative nicht zum Wohle der Schüler sei. Auch laut Grünen-Fraktionschefin Jennifer Jasberg wird es „keine Verhandlungen von Rot-Grün mit der Volksinitiative“ geben.
Die Initiative selbst hatte am Freitag noch kein offizielles Statement erhalten. „Wir prüfen für uns die nächsten Schritte und warten, ob es Verhandlungsbereitschaft gibt“, sagt Rath. „Und wir sammeln Geld für das anstehende Volksbegehren.“
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