Häusliche Gewalt und Corona: Frauen suchen öfter Hilfe
Über tausend Beratungen pro Woche verzeichnet das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ seit Mitte Mai. Es fehlen Plätze in Frauenhäusern.
Während das Hilfetelefon zu Beginn des Lockdowns Mitte März noch 797 Beratungen pro Woche durchführte, wurden es in den Folgewochen immer mehr Anrufe. Vom 11. bis 17. Mai erreichte die Zahl der Beratungskontakte mit 1.182 ihren bisherigen Höchstwert in diesem Jahr. Seit Mitte Mai hat sich die Zahl mit ca. 1.000 bis 1.100 wöchentlichen Beratungen auf einem hohen Niveau eingependelt.
„Parallel zum Anstieg der Beratungskontakte sind auch die Beratungen im Bereich häuslicher Gewalt und Gewalt in (Ex-)Paarbeziehungen um etwa 18 Prozent angestiegen“, erklärt Stefanie Keienburg vom Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben gegenüber der taz. Insbesondere im Vergleich zum Vorjahr wird der deutliche Anstieg der Hilfegesuche deutlich: Damals lag die Anzahl der Beratungskontakte pro Woche im Durchschnitt bei 859.
Expert*innen gehen davon aus, dass die Dunkelziffer der von Gewalt betroffenen Frauen deutlich höher liegt. Insbesondere für die Zeit des Lockdowns sei anzunehmen, dass viele Fälle von häuslicher Gewalt nicht bekannt wurden. Sogar ein Telefonat sei für viele Frauen im Lockdown schwieriger, weil sich oft jemand im Nebenzimmer aufhalte, erklärte die Leiterin des Frauenhauses im fränkischen Schwabach, Andrea Hopperdietzel, im Mai gegenüber der taz.
Auch mehr Plätze für Frauen mit Behinderungen sind nötig
Frauenhäuser erwarten deshalb, dass gewaltbetroffene Frauen sich erst jetzt, also nach dem Ende des Lockdowns, an sie wenden. Ihnen zu helfen wird schwierig: Nach Berechnungen auf Grundlage der Istanbul-Konvention, dem Übereinkommen des Europarats gegen Gewalt gegen Frauen, fehlen in Deutschland knapp 15.000 Plätze in Frauenhäusern. Vorhanden sind ungefähr 7.000.
„Wir dürfen diese Frauen nicht alleinlassen und müssen sie wirksamer schützen“, fordert Katja Suding. Die Frauenhilfe in Deutschland müsse krisenfest aufgestellt werden, so Suding. „Konkret wollen wir, dass die Kapazitäten von Frauenhausplätzen schnellstmöglich erhöht und in einem länderübergreifenden Online-Register erfasst werden“, sagt die FDP-Politikerin. Wichtig sei auch, dass ausreichend barrierefreie Plätze für Frauen mit Behinderung und Frauen mit Kindern zur Verfügung stünden.
Im Juni hatte auch Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) bereits eingestanden, dass es Probleme gibt. „Es gibt weiße Flecken auf der Landkarte“, konstatierte sie nach dem vierten Treffen des Runden Tisch „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“. Giffey strebt deswegen an, einen gesetzlichen Anspruch auf einen Platz im Frauenhaus zu schaffen – allerdings erst in der nächsten Legislatur.
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