Grüner Bütikofer zur Wahl in Hessen: „Übermut ist nicht angebracht“
Nach dem Wahlerfolg in Hessen mahnt der Europachef der Grünen Bescheidenheit an. Die Partei müsse über ihre Kernthemen hinaus kompetent werden.
taz: Herr Bütikofer, die Grünen sind offenbar nicht zu stoppen. Starke Siege in Bayern und Hessen, auch der Bundestrend ist respektabel. Ist das noch stabiles Wachstum oder schon ein Hype?
Reinhard Bütikofer: Jeder Trend ist solange stabil, bis er an sein Ende kommt. Wenn man sich auf ihn verlässt, endet er schneller. Wir sollten uns selbst gerade im großen Erfolg zur Bescheidenheit anhalten. Im Römischen Reich war es Brauch, dass der Senat erfolgreichen Feldherren einen Triumphzug durch die Stadt gewährte. Dabei lief ein Sklave hinter dem Feldherren, der ihm zurief: Denke daran, dass du ein Mensch bist! Keine schlechte Idee. Bei Erfolgen ist es immer klug, auf die eigenen Schwächen zu schauen, zu prüfen, was man besser machen will.
Welche Schwächen meinen Sie?
Wir haben in Hessen wieder wie in Bayern in den Städten sehr gut abgeschnitten, haben dort 26 Prozent erreicht. Auf dem Land ist dagegen bundesweit durchaus noch Luft nach oben. Im Osten sind wir insgesamt recht schwach. Dann kam in einer Wahlanalyse heraus, dass uns ein Viertel der Befragten Zukunftskompetenz zuweist. Das ist ein Riesenfortschritt, mehr als derzeit bei SPD oder CDU, aber dennoch kein berauschender Wert. Außerdem haben wir die SPD in ihren Kompetenzfeldern keineswegs überflügelt.
Der 65-jährige Grünen-Politiker ist Mitglied des Europa-Parlaments und Vorsitzender der europäischen Grünen. Von 2002 bis 2008 war er Bundesvorsitzender der Partei. Er wird von seiner Partei immer wieder bei Sondierungsgesprächen und Koalitionsverhandlungen auch in den Bundesländern hinzugeholt.
Die BürgerInnen hielten die Grünen vor allem bei Verkehrs- und Umweltthemen für kompetent. In der Wohnungs- oder Bildungspolitik schnitten sie viel schlechter ab.
Wir waren erfolgreich bei unseren Kernthemen, in denen wir Ministerien führten – und in der Familienpolitik. Das ist kein schmales Profil, aber weniger, als man braucht, wenn man eine Orientierungsfunktion für die ganze Gesellschaft ausfüllen will. Und diese sehe ich auf uns zukommen. Deshalb liegt viel inhaltliche Arbeit vor uns. Übermut ist nicht angebracht.
Dieser Appell kommt zu spät. Robert Habeck ist nach dem Sieg in Bayern erstmal von der Bühne in die Arme seiner Fans gesprungen.
Ich bitte Sie! Stage diving ist ein unschuldiges Vergnügen! Ich sehe die Gefahr nicht, dass wir überschnappen. Und in Hessen wirkt mit Tarek Al-Wazir einer unserer umsichtigsten Köpfe. Übermut ist ihm nicht gegeben. Das ist eine große Gnade.
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Die hessischen Grünen haben fast genauso viele Wähler von der CDU gewonnen wie von der SPD. Begründen die Grünen gerade eine neue bürgerliche Mitte?
Mit dem Begriff der Mitte bin ich lieber vorsichtig. Jeder, der ihn in den vergangenen Jahren für sich reklamiert hat, hat angefangen zu verlieren. Aber tatsächlich findet eine Neusortierung der politischen Landschaft statt. Es geht nicht nur um einen Austausch innerhalb der Mitte-Links-Parteien, wie es konservative Kommentatoren uns weis machen wollen. Die Grünen sind offenbar für viele Milieus attraktiv, weil die Menschen bei uns Orientierung suchen und finden. Wenn man denn von Mitte sprechen will, würde ich sagen: Sie bewegt sich auf uns zu, weil wir etwas bieten, was anderen Parteien abgeht.
Bei SPD und CDU wird nun gesagt, der Streit innerhalb der Großen Koalition in Berlin sei schuld an den Verlusten in Hessen. Stimmen Sie zu?
Es wäre zu eindimensional, so zu tun, als habe die Negativwirkung der Berliner GroKo nur an dem Streithansel Seehofer oder anderen Personalien gelegen. Es ist zum Beispiel interessant, wie stark der Dieselskandal im Wahlkampf eingeschlagen hat. Dieses Thema bewegt viele Menschen. Das spricht dafür, dass anscheinend der mangelnde Wille, Interessen der BürgerInnen gegen die Autokonzerne durchzusetzen, eine Rolle gespielt hat. Vielleicht ist das überhaupt ein wesentlicher Grund für die Erosion der Volksparteien: Sie sind unwillig oder unfähig, Interessen des Gemeinwohls gegen privilegierte Gruppen durchzusetzen – obwohl sie, das Gemeinwohl quasi im Namen tragen, wenn sie sich zu Volksparteien erklären.
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Regierende Grüne sind leider nicht mutiger. Kretschmann fasst den Daimler-Konzern nur mit Samthandschuhen an – und hat eine harte Erbschaftsteuer sogar bekämpft.
Bei der Erbschaftsteuer bin ich anderer Meinung als er. Wo es aber um den Umbau der Automobilindustrie geht, damit sie im wachsenden internationalen Wettbewerb auch in Zukunft gute Chancen hat, tut kein Ministerpräsident mehr als Kretschmann. Nur kann kein einzelnes Bundesland bei der Rahmensetzung für den Bund einspringen.
Sie erklären Ihre Partei mit einer Drei-Phasen-Theorie. Anfangs, noch neu in Parlamenten, mussten die Grünen lautstark zuspitzen, um gehört zu werden. Dann kam die Phase vorsichtiger Mitgestaltung, als kleinerer Partner in einem Zweierbündnis. Zum Schluss könnten die Grünen Orientierungspartei werden. Haben Sie diesen Schritt geschafft?
Nein, aber wir machen Fortschritte. Wir können jetzt in vier Ländern diese Rolle für uns beanspruchen – in Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein, Bayern und nun Hessen. Vier Länder von sechzehn. Aber die Richtung stimmt. Es hieß lange, Baden-Württemberg sei ein Ausnahmefall – mit sehr speziellen Milieus und dem Staatsphilosophen Winfried Kretschmann. Inzwischen ist klar: Der Schritt aus der Nische gelingt auch in anderen Situationen mit anderen Personen.
Im kommenden Jahr wird in drei ostdeutschen Ländern gewählt, dort schwächeln die Grünen. Welche Strategie empfehlen Sie?
Wir haben auch dort gute Sachthemen, doch das reicht nicht. Wenn beispielsweise die sächsischen Grünen so sächsisch zu den Menschen in ihrem Freistaat reden, wie die bayrischen Grünen zu den Bayern bayrisch, dann kommen sie voran. Glaubwürdig das, was die Menschen bewegt, zum Thema zu machen, das ist eine Frage der Sprache und natürlich des Zuhörens. Man soll dem Volk aufs Maul schauen, heißt es, aber nicht nach dem Munde reden. Wir müssen, um den Osten stärker zu bewegen, als Bundespartei demonstrieren, dass uns der Osten bewegt.
Das könnte interessant werden. Viele Menschen in Ostdeutschland halten den grünen Kurs in der Flüchtlingspolitik für blauäugig.
Sicher. Aber die, die uns am fernsten stehen, werden wir natürlich nicht als erste gewinnen. Doch darf es keine Gegenden geben, die wir aufgeben, weil wir dort schwach sind. Da werden wir uns im Europawahlkampf anstrengen.
Die Grünen hatten nach Fukushima schon einmal eine Hochphase, sie standen 2011 bei bis zu 28 Prozent in Umfragen. Was macht sie optimistisch, dass der Absturz dieses Mal ausbleibt?
Bei aller Freude über die großen Wahlerfolge in Hessen und Bayern dürfen wir nicht übersehen, wie instabil die politische Gesamtlage ist. Erfolg kann schnell verwehen. Trotzdem bin ich optimistisch. Weil die Partei heute mit der Chance, die sich uns bietet, besser umgehen kann. Das liegt an der Führung und an der Einigkeit auch zwischen den Flügeln, die größer ist als früher. Gemeinsam betonen wir den starken Dreiklang: Menschenwürde, Klima, Europa.
In Hessen sieht es nach Schwarz-Grün oder einer Jamaika-Koalition aus, in Bayern wäre nur ein Bündnis mit der CSU gegangen. Die Grünen müssen konservativ koalieren, weil sie die SPD kannibalisieren. Ist das ein Problem?
Wie es in Hessen ausgeht, weiß ich nicht. Aber gewiss „müssen“ wir nicht konservativ koalieren. Sondern wir tun es gegebenenfalls dort, wo sich damit möglichst viele Grüne Ziele verwirklichen lassen. Wenn wir in Hessen noch 1-2 Prozent stärker geworden wären, hätten wir vier verschiedene Koalitionsoptionen haben können, davon zwei mit der SPD. Das Problem der SPD sind nicht wir; sie ist gegenwärtig ihr eigener Feind.
Kommen die sich radikal gerierenden Grünen nicht auf Dauer in Widersprüche, weil mit CDU und FDP eben keine sozialökologische Wende zu machen ist?
Zur notwendigen sozialökologischen Wende ist die Nahles-SPD leider auch nicht bereit. Stichwort Kohle. In jeder Koalition geraten wir damit in Widersprüche. Einen Ausweg nach vorne gibt es da nur, wenn die verschiedenen Bewegungen für diese Wende weiter Druck machen und die Wählerinnen und Wähler uns weiter stärken.
Beide Volksparteien haben in Hessen dramatisch verloren. Erleben wir das Ende dieses Modells?
Die CSU ist mit 37 Prozent noch Volkspartei, die SPD in Niedersachsen mit ebenfalls 37 Prozent auch. Aber solche Ergebnisse werden seltener. Ja, das Modell Volkspartei hat seine Zukunft zunehmend hinter sich.
Welche Auswirkungen auf die Große Koalition sagen Sie voraus?
Ich erwarte keine kurzfristige Neuwahl. Seehofer wird nicht mehr lange zu halten sein. Die CDU bekommt einen Parteitag maximalen Missvergnügens. Merkel und Nahles wursteln weiter. Einstweilen. Aber sie werden gezwungen sein, auf unsere Erfolge zu reagieren. Wie sie's tun, wird spannend.
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