Grüne zur EU-Asylreform: „Es geht um etwas Existenzielles“
Die Grünen-Politikerin Astrid Rothe-Beinlich kritisiert die geplante EU-Asylrechtsreform harsch. An ihre Partei hat sie klare Erwartungen.
taz: Frau Rothe-Beinlich, Innenministerin Nancy Faeser hält den EU-Asylkompromiss für einen historischen Fortschritt. Einverstanden?
Astrid Rothe-Beinlich: Dieser Kompromiss ist ein Fehler. Bei allem Verständnis für die schwierigen Verhandlungen in der EU kann ich in diesen Lobgesang nicht einstimmen
Warum?
Die Kinderrechtskonvention wird nicht eingehalten. Es gibt zwar kleine Verbesserungen, aber nicht für Kinder, auch wenn Deutschland laut einer Protokollnotiz Verbesserungen zumindest für unter 12-Jährige erreichen will. Ich habe die Sorge, dass angesichts der Neuregelung mehr unbegleitete Minderjährige auf die Reise gehen müssen, um so eine Familienzusammenführung zu erreichen. Wir werden Lager an den Außengrenzen haben, in denen es keine individuellen Prüfungen der Asylanträge mehr gibt, auch nicht für Syrer und Afghanen.
Falls sie aus sicheren Drittstaaten kommen …
Na ja. Als sichere Drittstaaten können ja sogar Länder bezeichnet werden, die die Genfer Flüchtlingskonvention nicht anerkennen. Sichere Drittstaaten sind ein politisches Konstrukt – Minderheitenrechte spielen da kaum eine Rolle. Ich fürchte, mit diesem Kompromiss wird es mehr Pushbacks geben. Und viel mehr Abschottung.
Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock argumentiert: Wenn Deutschland mit Ungarn und Polen Nein gesagt hätte, wäre eine gemeinsame EU-Asylpolitik für Jahre tot gewesen. Deshalb musste man Ja sagen.
Ich bin auch Teil einer regierungstragenden Fraktion in Erfurt und weiß, wie schwierig Kompromisse sein können. Ich weiß, wie sehr Annalena Baerbock gerungen hat. Aber ich komme zu einem anderen Schluss. Dieser Kompromiss verletzt Menschen- und Kinderrechte. Deswegen halte ich ihn für nicht tragbar. Viele Argumente der Kompromissbefürworter erinnern mich an Verfahren wegen Kriegsdienstverweigerung früher. Wer keinen Kriegsdienst machen wollte, wurde gefragt, was er denn tut, wenn seine Frau vergewaltigt wird.
Es gibt zwar keine verpflichtende Verteilung der Geflüchteten, aber einen sogenannten Solidaritätsmechanismus. Länder, die niemand aufnehmen, müssen 20.000 Euro pro Person zahlen, die nicht aufgenommen wird. Ist das ein Fortschritt?
Wenn wir uns die Zahlen anschauen, dann ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. 2022 gab es 966.000 Asylanträge in der EU. Die Aufnahmezusagen gelten gerade einmal für 30.000 Menschen, also einen Bruchteil der Antragstellenden. Da ist Solidaritätsmechanismus ein sehr großes Wort.
Die Unterstützer der neuen Regelung bei den Grünen und SPD sagen: Ohne Maßnahmen gegen illegale Migration wird die Rechte in Europa noch stärker …
Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Wenn die Mitte rechte Positionen übernimmt, stärkt das nicht die Mitte, sondern den rechten Rand.
49, ist Fraktionschefin der Grünen im Thüringer Landtag. Sie entstammt der DDR-Umweltbewegung und ist Mitbegründerin des Thüringer Flüchtlingsrates.
Wird es noch substanzielle Verbesserungen an diesem Kompromiss geben?
Als Pfarrerstochter setzte ich immer auf Glaube, Hoffnung, Zuversicht. Ich hoffe wie viele in meiner Partei auf Verbesserungen durch das EU-Parlament. Aber es wäre falsch, alles auf das EU-Parlament zu schieben. Im Koalitionsvertrag ist die individuelle Prüfung von Asylanträgen fixiert. Die ist jetzt nicht mehr gewährleistet. Das müssen wir thematisieren.
Zerreißt die Debatte die Grünen?
Wir haben in der Partei eine ganz lebhafte Debatte. Sie war ja bisher in die Entscheidung auch nicht einbezogen. Das Diskussionsbedürfnis ist extrem hoch. Die grüne Partei muss sagen, ob sie Entscheidung mittragen kann. Das wird auch der Länderrat am nächsten Wochenende zeigen.
Was erwarten Sie vom Länderrat?
Dass sich unsere Partei klar positioniert. Die Partei muss ein Korrektiv sein, gerade, wenn man in Regierungsverantwortung ist.
Wird es Austritte bei den Grünen geben?
Ganz sicher. Aber auszutreten ändert ja nichts. Viele sind in dieser Partei nicht nur wegen der Umweltpolitik, sondern auch und gerade wegen der Menschenrechte. Ich komme aus der ehemaligen DDR und habe eine tödliche Grenze erlebt. Ich weiß Bewegungsfreiheit als Menschenrecht zu schätzen. Niemand flieht freiwillig. Es ist eine Verpflichtung, alles dafür zu tun, menschenwürdige Lösungen zu finden.
Ist das ein Links-rechts-Konflikt bei den Grünen?
Nein. Erstens ordnen sich ja sehr viele keinem Lager mehr zu. Ich kenne auch viele wertkonservative Grüne, die bei der Flüchtlingspolitik hier eine rote Linie überschritten sehen.
Ist dieser Streit vergleichbar mit dem Dissens um den Kosovokrieg?
Ja, es ist ähnlich. So wie auch die Debatte um Hartz IV. Es geht um etwas Existenzielles.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene