Großmufti über den Tempelberg: „Religion braucht keine Beweise“
Der Großmufti von Jerusalem will den Tempelberg für die Palästinenser reklamieren. Dabei geht es ihm nicht um einen Religionskrieg.
taz: Scheich Mohammed, würden Sie sagen, dass es beim israelisch-palästinensischen Konflikt um Land geht, oder haben wir es hier mit einem Religionskrieg zu tun?
Scheich Mohammed Hussein: Es geht hier nicht um einen Religionskrieg, und das würden wir auch auf keinen Fall wollen. Es ist ein Konflikt um Rechte und um Land, palästinensisches Land, das von Israel besetzt wird. Die Siedlungen werden weiter ausgebaut und die Besatzungsmacht will uns vertreiben. Die Palästinenser fordern ein Ende der Besatzung. Wir wollen Freiheit und Unabhängigkeit.
Sie behaupten, dass es auf dem Tempelberg in Jerusalem niemals einen jüdischen Tempel gegeben hat, dort, wo heute der Felsendom steht. Haben Sie Beweise dafür?
Bitte sprechen Sie nicht von dem Tempelberg. Dies ist eine Moschee. Der richtige Name lautet Haram al-Scharif (auf Deutsch: „Das edle Heiligtum“ ), und ich wehre mich gegen jede andere Bezeichnung. Es gab dort niemals etwas anderes als eine Moschee, und es ist sehr wichtig, in dieser Frage sehr genau zu sein.
Religionen brauchen keine Beweise. Sie basieren auf Botschaften von Gott. Die Muslime bezeichnen die Moschee als Al-Aqsa-Moschee, und so ist es.
Ist die islamische Religion nicht erst mit Mohammed entstanden, also gut 600 Jahre nach der Geburt Christi?
Wir Muslime glauben an alle Propheten, an Moses und Jesus aus der Bibel, wir glauben, dass sie Botschafter waren. Alle Behauptungen, dass es einen Tempel gab, sind Lügen und Fälschungen.
Was antworten Sie Kritikern, die sagen, dass derartige Feststellungen die Unruhen eher noch weiter anheizen, anstatt zu ihrer Beruhigung beizutragen?
Großmufti von Jerusalem, wurde dort im Jahr 1950 geboren. Er studierte zunächst Islamisches Recht in Jordanien und dann Moderne Islamwissenschaften an der Al-Kuds-Universität in Jerusalem. Der verheiratete Vater von neun Kindern wurde 2006 von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas zum Großmufti berufen. Vorher war er Imam der Al-Aqsa-Moschee und Kustos der muslimischen Heiligtümer in Jerusalem.
Wenn ich sage, dass dies meine Moschee ist, dann ist das mein Glaube.
Was halten Sie von dem Vorschlag der jordanischen Regierung, Überwachungskameras auf dem Tempelberg zu installieren?
Die Waqf (die Hüterin der islamischen heiligen Stätten) hat versucht, Kameras anzubringen, aber dann sind die Israelis gekommen und haben sie wieder abgenommen. Die Waqf ist für die Moschee zuständig. Sie muss volle Handlungsfreiheit haben. Dies ist unser heiliger Ort, und wir wollen die Leute fernhalten, die nicht hierher gehören und eindringen wollen.
Der seit Beginn der israelischen Besatzung 1967 geltende Status quo hält fest, dass Juden den Tempelberg zwar besuchen, nicht aber dort beten dürfen. Warum ist es so wichtig für die Muslime, dass die Besucher dort nicht beten?
Wir reden hier über eine religiöse Stätte, eine Moschee, einen heiligen Ort für Muslime, wie eine Kirche, die Christen heilig ist, und eine Synagoge, in der die Juden beten. Es ist eine Frage von gegenseitigem Respekt. Wir haben nichts dagegen, dass jeder in der für ihn vorgesehenen Stätte betet, genau wie wir von Muslimen erwarten, dass sie in der Moschee beten und nirgendwo sonst.
Es kann nicht sein, dass die Juden hier beten und daraus ableiten, dass der Haram al-Scharif ihnen gehört. Wir fordern eine Rückkehr zur Situation, die bis zum Krieg von 1967 bestand. Damals stellten die Juden keinerlei Ansprüche auf unsere heiligen Stätten.
Die israelische Regierung hält jedoch sehr hartnäckig daran fest, den Status quo nicht verändern zu wollen. Trotzdem glauben mehr als die Hälfte der Palästinenser, dass Israel an der Stelle der Moscheen einen neuen jüdischen Tempel errichten will. Wie erklären Sie sich das?
Welche Art von Status quo schwebt (dem israelischen Regierungschef Benjamin) Netanjahu vor? Das sollten Sie ihn fragen. Er lässt das Eindringen der Siedler in die Moschee zu und macht unsere Heiligtümer zu militärischen Stützpunkten. Sein Gerede über den Status quo ist nichts anderes als eine PR-Kampagne.
Werbung scheint Sie selbst aber nicht zu kümmern, denn Sie sagen ja ganz offen, dass Sie den Status quo ablehnen und Juden nicht auf den Tempelberg lassen wollen.
Die Juden haben keinerlei Rechte dort. Es ist eine Moschee.
Korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege, aber hat nicht Jordanien 1967 den Krieg gegen Israel angefangen und verloren?
Sind Sie Jüdin?
Nein.
Es geht nicht nur um den Haram al-Scharif, sondern um palästinensisches Land und die Rechte der Palästinenser auf ihre Selbstbestimmung. Wir wollen diesen Konflikt beenden und in Frieden leben. Leider ist es so, dass sich kein Land auf der Welt traut, Israel entgegenzutreten. Stattdessen kommen sie zu uns und sagen, wir sollen uns zurückhalten und uns beherrschen. Wie ist es möglich, dass die Welt Opfer und Täter miteinander vergleicht? Die Welt muss endlich erkennen, dass das Unrecht ein Ende haben muss.
Gibt es denn auf israelischer Seite jüdische Religionsgelehrte, mit denen Sie ein Gespräch führen?
Es gibt Leute, die ein Verständnis für das Leid der Palästinenser zeigen, auch Rabbiner. Leider sind sie eine verschwindend kleine Minderheit. Ihre Stimme wird kaum wahrgenommen.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat kürzlich gesagt, der frühere Großmufti Amin al-Husseini habe Hitler zum Holocaust an den Juden angestiftet. Was fällt Ihnen zu dieser Äußerung ein?
Da sieht man, was Natanjahu macht. Er verändert die Geschichte. Die Juden selbst sollten dazu Stellung beziehen, schließlich geht es um ihre Tragödie. Die Welt war damals voller Sympathie für die Juden und ermöglichte es ihnen, ihren Staat auf palästinensischem Land zu errichten. Dass Netanjahu jetzt den Mufti beschuldigt, ist nichts anderes als Hetze gegen die Palästinenser, die er nun als Grund für den Holocaust darstellt. Selbst in Israel wird er für diesen Unsinn ausgelacht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“