Grenzen der Vielfalt: Hinter den Schaufenstern
„Diversität“ ist das Schlagwort der Stunde, alle setzen heute auf Vielfalt. Nur: Das gängige Verständnis davon greift viel zu kurz.
![Premierminister Rishi Sunak. Premierminister Rishi Sunak.](https://taz.de/picture/5926751/14/31342565-1.jpeg)
D ie neue britische Regierung ist so vielfältig wie keine vor ihr. Vier Minister*innen im Kabinett von Rishi Sunak, darunter zwei Frauen, sind „People of Color“ – also Menschen, die von der Mehrheitsgesellschaft gemeinhin nicht als „Weiße“ wahrgenommen werden: Innenministerin Suella Braverman und Handelsministerin Kemi Badenoch. Premier Rishi Sunak selbst bezeichnet sich als „stolzen Hindu“ und zelebriert seinen Glauben öffentlich, indem er Hindu-Tempel besucht oder zum Lichterfest Diwali vor der Tür von 10 Downing Street demonstrativ die obligatorischen Öllampen und Kerzen anzündet.
Minderheiten sind in seinem Kabinett sichtbar repräsentiert. Ihre Interessen vertritt seine Regierung deswegen aber noch lange nicht. Im Gegenteil: Die beiden „Women of Color“ in seinem Kabinett zählen zum rechten Rand der Partei und sind als Scharfmacherinnen bekannt. Die indisch-tamilischstämmige Braverman und die in Nigeria geborene Badenoch sind beide Brexit-Hardliner*innen, ihre liebsten Feindbilder lauten „Wokeness“ und „Migration“.
Badenoch wurde durch ihren Kampf gegen Gender-Toiletten bekannt, Braverman durch Tiraden gegen Diversity-Trainings und Geflüchtete. Im Parlament wettert sie gegen „Guardian lesende, Tofu essende Woketari“. Ihr größter „Traum“, bekannte Braverman jüngst, sei die Schlagzeile, dass Asylsuchende aus Großbritannien per Flugzeug nach Ruanda abgeschoben würden. Sie unterstrich ihre Aussage mit einer Handbewegung, die ein abhebendes Flugzeug nachahmte, und einem seligen Lächeln.
Die britische Regierung für ihre Diversität zu feiern wäre deshalb voreilig. Politisch hält sich diese Vielfalt in Grenzen, die nach rechts offen sind. Ökonomisch vertritt Premier Sunak die Interessen der oberen Zehntausend, denen er als Multimillionär selbst angehört. Und kulturell teilt er den Habitus vieler britischer Tories. Sunak ist zudem der reichste Politiker, der je das Amt eines britischen Premiers bekleidet hat: ein Aspekt, der viel mehr Beachtung verdient hätte. Seine Selbstinszenierung als Hindu soll davon ablenken und Bodenständigkeit vermitteln. Damit hat er Erfolg. Denn ein oberflächliches Verständnis von „Vielfalt“, das politische, ökonomische und kulturelle Aspekte ausblendet und sich an Äußerlichkeiten festmacht, ist weit verbreitet.
Politiker*innen wie Braverman, Badenoch und Sunak werden von rassismuskritischen Linken gerne als „Token“ bezeichnet – als Feigenblätter für eine Politik, die ansonsten auf Ausgrenzung setzt. Aber auch das greift zu kurz. Denn auch Angehörige von Minderheiten können rassistisch, sexistisch und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sein. In Braverman, Badenoch und Sunak haben sie ihre idealen Repräsentant*innen gefunden.
Unsere Gesellschaften werden vielfältiger, und das spiegelt sich zwangsläufig auch in vielen Institutionen wider. Um neue Zielgruppen zu erreichen, werben Unternehmen mit „diversen“ Models für sich – wobei das meist heißt, dass diese sich aufgrund ihrer Hautfarben und anderer körperlicher Merkmale unterscheiden. Medien rücken „diverse“ Moderator*innen und Journalist*innen in den Vordergrund oder vor die Kamera, um sich ein modernes Antlitz zu geben, und Parteien besetzen ihre Gremien entsprechend strategisch um.
An den gesellschaftlichen Strukturen, die bestimmte Gruppen ausschließen, ändert sich dadurch noch nichts. „Diversität“ wird heute auch viel zu häufig auf Geschlecht und ethnische Herkunft, Religion und sexuelle Orientierung reduziert. Klassische Kategorien wie soziale Herkunft, Bildung und Einkommen geraten so aus dem Blick.
Gerade Konservative waren auf dem Gebiet symbolischer Gesten oft Vorreiter und ihrer Konkurrenz damit häufig einen Schritt voraus. Es waren die britischen Tories, die mit Margaret Thatcher erstmals eine Frau an die Spitze des Staates brachten, und die Unionsparteien stellten in Deutschland die erste Kanzlerin. Es war der Republikaner George W. Bush, der die ersten beiden schwarzen Außenminister*innen in der Geschichte der USA nominierte. Und es war der rechte Populist Boris Johnson, dessen Kabinette so divers waren wie keine vor ihm und der damit die Karrieren seiner Nachfolger*innen beförderte. Wenn linke Politiker ihre Kabinette so strategisch besetzen, müssen sie sich oft vorwerfen lassen, sie würden „Identitätspolitik“ betreiben und Gruppeninteressen berücksichtigen. Als Kanadas Premier Justin Trudeau gefragt wurde, warum sein Kabinett zur Hälfte aus Frauen bestand, sagte er: „Weil es 2015 ist.“ Das war kein Statement, sondern bloß eine Feststellung.
Denn Vielfalt ist heute Mainstream. Selbst die AfD setzt auf Vielfalt: Ihre Parteispitze ist so sorgfältig wie die keiner anderen Partei nach Geschlecht, Herkunft und sexueller Orientierung austariert. Sie besitzt – wie sonst nur linke Parteien – eine Doppelspitze. Da ist einerseits der heterosexuelle, ostdeutsche Handwerker Timo Chrupalla, der in seiner Region verwurzelt ist, und auf der anderen Seite die lesbische, westdeutsche Akademikerin Alice Weidel, die als Unternehmensberaterin in der Welt herumgekommen ist. Im Hintergrund zieht Parteigründer Alexander Gauland, 81, die Strippen, der als Ehrenvorsitzender die ältere Generation vertritt. Da ist für jede*n Wähler*in ein Identifikationsangebot dabei. Vielfalt ist für die AfD trotzdem ein Schimpfwort, „Diversity“-Maßnahmen lehnt sie entschieden ab.
Wer es mit „Diversität“ wirklich ernst meint, muss sie auf allen Ebenen durchsetzen, um gesellschaftlich immer noch benachteiligte Gruppen wie Frauen, Migrant*innen, queere Menschen, Arbeiter*innen und Arme auf breiter Front gleichzustellen. Dazu braucht es gezielte Anstrengungen, gegebenenfalls Quoten. Ein oberflächliches Verständnis von „Diversity“, das sich auf Äußerlichkeiten und Oberflächenkosmetik beschränkt, führt nur zu symbolischer Schaufensterpolitik.
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