Gorleben wird nicht Atommüll-Endlager: Vierzig Jahre ist zu lang
Am Ende triumphierte die Anti-AKW-Bewegung. Gibt es Gemeinsamkeiten mit der erfolgreichsten Protestbewegung der Gegenwart, Fridays For Future?
Dieser Pass ist gültig, solange sein Inhaber noch lachen kann“, so steht es – dreisprachig – in meinem Wendenpass mit der Nummer 1562413. Ausgestellt wurde das Dokument der Republik Freies Wendland am 25. Mai 1980. Das Bohrloch 1004 zur untertägigen Erkundung des Salzstocks nahe Gorleben war von Anti-AKW-Bewegten besetzt, das Hüttendorf errichtet. Die Bewohnerinnen und Bewohner, einige Hundert an den Wochentagen, einige Tausend an den Wochenenden, waren bestens versorgt durch eine geradezu überbordende Solidarität der regionalen Bevölkerung. Die Sonne schien „ohn’ Unterlass“ – jedenfalls in der Erinnerung. Kurz, das mit dem Lachen war kein Problem.
Und ist es heute, mehr als 40 Jahre danach, auch nicht. Spätestens seit dem vergangenen Montag, als die Bundesgesellschaft für Endlagerung (groteskerweise schon in einem früheren Stadium des Suchverfahrens als erwartet) das Endlagerprojekt Gorleben nach mehr als 40 Jahren schließlich in den Orkus schickte.
Zugegeben, hätten wir damals geahnt, wie lang der Weg werden würde vom Rechthaben zum Rechtbekommen, wäre die Gültigkeit des Passes vermutlich bei vielen von uns auf der Stelle ausgelaufen. Vier Jahrzehnte, und was für ein Aufwand! Wir waren ja nicht nur AKW-Gegnerinnen und AKW-Gegner, wir waren, so muss man es sagen, auch Gegnerinnen dieses Staates, Gegnerinnen des kapitalistischen Systems und pflegten (auch optisch) die größtmögliche Distanz zur Mehrheitsgesellschaft – weshalb wir von der Unterstützung der lokalen Bevölkerung umso mehr überwältigt, aber keineswegs verunsichert waren. Die taz übrigens war gerade ein Jahr alt.
Dies vorweg, weil es in diesem Text nach dem historischen Erfolg vom Wochenanfang um die Frage gehen soll, ob es Verbindungen, vielleicht sogar Gemeinsamkeiten gibt zur erfolgreichsten Protestbewegung der Gegenwart, Fridays For Future. Und wenn ja, welche?
Gorleben war plötzlich überall
Die handelnden Personen im Hüttendorf damals sahen sich selbst (mehrheitlich) als Revolutionäre, solidarisch eigentlich nicht mit Landwirten im Landkreis Lüchow-Dannenberg, sondern mit Befreiungsbewegungen in Afrika und Südamerika. Der Klimawandel: unbekannt. (Fast) niemand unter den aus den Metropolen angereisten Linken hegte irgendwelche Sympathien für den real existierenden, preußischen Sozialismus jenseits der nahen Grenzanlagen. Ironischerweise war deren Nachbarschaft ein zentrales Motiv, weshalb nicht nur der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU), sondern die westdeutsche Politik insgesamt es für eine gute Idee hielten, den verlorenen Zipfel BRD an der innerdeutschen Grenze bar jeder wissenschaftlichen Basis als Endlagerstandort für den hochradioaktiven Strahlenmüll ausrufen zu können. Da, so das unbekümmerte Kalkül, würde es schon ruhig bleiben.
Ein fundamentaler Irrtum. Denn Gorleben war binnen Kurzem wirklich überall, wurde nach Wyhl in Baden-Württemberg zum wichtigsten Kristallisationspunkt einer westdeutschen Bewegung, die im Wendland, wie nirgends sonst, ihre Gründergeneration weit überdauerte. Zuletzt protestierten die Enkel gegen ein Projekt, gegen das ihre Großeltern aufgestanden waren – gemeinsam mit den Staatsfeinden aus den Städten.
30 Jahre neues Deutschland: Was ist das heute für ein Land? Lokalredakteur*innen aus dem Norden, Süden, Osten und Westen erzählen ihre wichtigsten Geschichten – in der taz am Wochenende vom 02. Oktober. Aus Brandenburg berichtet Judith Melzer-Voigt über den Wandel einer ostdeutschen Kleinstadt vom grauen Einerlei zu Bunt. Aus Baden-Württemberg berichtet Peter Schwarz über den Amoklauf von Winnenden und Corona-Leugner. Aus Niedersachsen berichtet Kathi Flau über ein gutes Rezept gegen Identitätsprobleme. Aus Sachsen berichtet Josa Mania-Schlegel über bürgerliche Sympathien für die Hausbesetzer von Connewitz – und, und, und... Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Gibt es Gemeinsamkeiten mit Fridays for Future? Mit einer Jugendbewegung, die 40 Jahre später binnen Monaten geradezu spielerisch das schaffte, woran sich die in Deutschland professionell wie fast nirgends sonst agierende Umweltbewegung mit ihren eingeübten Empörungsritualen über zwei Jahrzehnte die Zähne ausbiss, ebenso wie Generationen besorgter Klimawissenschaftler? Plötzlich ist da eine Bewegung, so wirkmächtig wie die Anti-AKW-Generation in ihren besten Zeiten.
Die Jugendlichen und Kinder, moralisch unangreifbar, weil betroffen, aber nicht verantwortlich, demonstrieren für die Rettung der Welt und ihrer selbst, der ersten von der Klimakrise existenziell bedrohten Generation. Systemwechsel ist der überwiegenden Mehrheit offensichtlich kein vorrangiges Anliegen. Wie auch, in diesen Zeiten ohne reale oder auch nur imaginierte Alternativen? Das postsowjetische Russland, die Populistenriegen von Ungarn bis Großbritannien, die Absolutisten in China oder die beklagenswerte einstige Führungsmacht des freien Westens unter einem Präsidenten außer Rand und Band?
Es ist nicht so einfach, den Erfolg von Gorleben nach mehr als 40 Jahren als Motivationshilfe für die engagierte Jugend des Jahres 2020 in Stellung zu bringen. Im Gegenteil, deren Protagonisten wissen sehr genau, dass es ihr Untergang wäre, würde die Klimawende vergleichbar lange dauern wie die Gorlebenwende.
Immerhin, in beiden Fällen sind die Katastrophenrisiken, um die es geht, für die Betroffenen von existenzieller Dimension, wobei ihre konkrete Realisierung unterschiedlicher kaum sein könnte: Die Klimaerhitzung eskaliert ohne eine radikale Minderung der Treibhausgase mit naturgesetzlicher Erbarmungslosigkeit. Hier handelt es sich eben nicht um ein Restrisiko mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit. Die Hoffnung auf ein gnädiges Schicksal, dass es gar nicht, später oder woanders passiert, gibt es nicht im globalen Treibhaus. Die Dynamik der Erderhitzung bedeutet, dass die Klimaschutzbewegung keine 40 Jahre Zeit hat, sondern lange vorher gesiegt haben muss.
Ein wie auch immer gearteter Systemwechsel, der geeignet wäre, die Sache rechtzeitig zu richten, ist nirgends in Sicht. Die Hoffnung der Jugendlichen richtet sich folglich nicht auf revolutionäre Umwälzungen, sondern auf die Einsicht robuster Mehrheiten, die die Entscheider überall und systemunabhängig treiben – und die gleichzeitig selbst anstreben, Entscheider zu werden. Voraussetzung für den Erfolg ist nicht der lange Marsch durch die Institutionen, sondern ein möglichst kurzer.
Selbst im besten denkbaren Fall wird der Umschwung dauern, bleibt die Generation Greta angewiesen auf die europäische und mehr noch eine globale Dynamik Gleichgesinnter. Denn eines verbindet radioaktive Isotope und Treibhausgase: Die Bedrohung, die sie auslösen, geht nicht mehr weg.
Auch weil die Jugendlichen das offenbar besser verstanden haben als ihre Elterngeneration, gibt es eine Gemeinsamkeit mit den Gorlebenkämpfern von einst: Die Klimakrise wird diese Generation politisch prägen, wie zuletzt der Konflikt um die Atomenergie eine (oder zwei) politische Generationen in Deutschland geprägt hat.
Protestbewegungen müssen sich ausdifferenzieren
Der späte Erfolg der Anti-AKW-Bewegung hat aber auch noch etwas anderes gezeigt: Eine Protestbewegung ist (erst) dann erfolgreich, wenn sie sich in ihren Protestformen nicht normieren lässt, wenn sie sich ausdifferenziert. Sie funktioniert nicht, wenn sie die Politik nur von der Straße aus zu treiben versucht und gleichzeitig politische Macht verachtet. Sie funktioniert ebenso wenig, wenn sie die Macht der Straße geringschätzt, besonders wenn die Zeit drängt.
Die freien Wenden im Hüttendorf von Gorleben, verkündete Niedersachsens damaliger Innenminister Egbert Möcklinghoff (CDU), verstießen gegen das Baugesetz, das Waldgesetz, das Seuchengesetz und das Meldegesetz. Eine wirklich beeindruckende Liste schwerer Vergehen. Mit ihr wurde die Räumung durch 7.000 Polizisten und Bundesgrenzschützer am 4. Juni 1980 begründet.
Wäre Greta Thunberg freitags zur Schule gegangen und samstags für Klimaschutz auf die Straße, sie wäre gleichwohl eine bewundernswerte und wohl auch bewunderte junge Frau geworden – an ihrer Schule in Stockholm. Das wussten die freien Wenden am Bohrloch 1004 im Mai 1980 auch schon: Politischer Druck geht nicht ohne Regelverletzung.
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